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Gail verstand selbst nicht ganz, warum fast immer nur sie redete. Im Sprechen hörte sie ihre eigene Stimme von den Ziegelwänden des Kellerzimmers widerhallen, genau wie beim Scheidungsgericht, wo sie derzeit den Großteil ihres beruflichen Daseins verbrachte: Jetzt mime ich rechtschaffene Empörung, jetzt ätzende Ungläubigkeit, jetzt klinge ich wie meine bescheuerte Mutter, wenn sie ihren zweiten Gin Tonic intus hatte.

Aber sosehr sie es zu verbergen suchte, ertappte sie sich heute obendrein bei einem gelegentlichen kleinen Schauer der Furcht, der nicht zum Skript gehörte. Ihren Zuhörern auf der anderen Seite des Tisches mochte es entgehen, aber ihr nicht. Und Perry neben ihr merkte es offenbar auch, denn ab und zu neigte er den Kopf leicht in ihre Richtung, um zärtlich und besorgt zu ihr herunterzuspähen, trotz der Dreitausend-Meilen-Kluft zwischen ihnen. Ja, vereinzelt drückte er sogar unterm Tisch ihre Hand, bevor er sie beim Erzählen ablöste, in dem verfehlten, aber entschuldbaren Glauben, ihren Gefühlen dadurch eine Ruhepause zu verschaffen, wo doch ihre Gefühle als Einziges abtauchten, sich neu formierten und an die Oberfläche zurückkamen, um sich bei erster Gelegenheit noch verbissener in den Kampf zu stürzen.

* * *

Perry und Gail schlenderten nicht direkt, als sie den Centre-Court betraten, aber – doch, ja, sagten beide, sie ließen sich Zeit. Als Erstes der Weg durch das Blütenspalier, bei dem die Leibwächter die Ehrengarde abgaben und Gail die Krempe ihres breiten Sonnenhutes festhielt und ihr dünnes Röckchen flattern ließ:

»Ein bisschen die Hüften geschwenkt hab ich schon«, gab sie zu.

»Und wie«, bestätigte Perry, und auf der anderen Tischseite wurde verhalten gelächelt.

Dann das Hin und Her am Eingang zum Platz, als Perry von erneuten Zweifeln befallen schien, bis klarwurde, dass er nur Gail den Vortritt lassen wollte. Die darauf auch vorging, mit so viel damenhafter Gemessenheit, dass man meinen konnte, es hätte den versuchten Affront nie gegeben, während gleichzeitig durchschimmerte, dass er keineswegs vergessen war. Und hinter Perry kam Mark.

Dima erwartete sie in der Platzmitte, die Arme zur Begrüßung weit ausgestreckt. Er trug einen langärmligen blauen Nicki mit rundem Ausschnitt und schwarze Shorts, die ihm bis übers Knie reichten. Ein grünes Sonnenvisier ragte wie ein Schnabel von seinem kahlen Kopf weg, der schon jetzt so stark in der Morgensonne glänzte, dass Perry sich gefragt hatte, ob er eingeölt war. Die brillantenstarrende Rolex hatte Gesellschaft bekommen; um den mächtigen Hals lag jetzt eine geheimnisträchtige Goldkette mit vielen Anhängern: noch mehr Glitzern, noch mehr Ablenkung.

Dabei war Dima, sehr zu Gails Überraschung, gar nicht der Hauptblickfang, sagte sie. Auf der Zuschauertribüne hinter ihm aufgereiht saß eine kleine und, so Gail, absolut schräge Versammlung von Kindern und Erwachsenen.

»Wie ein Haufen trister Wachsfiguren«, unterstrich sie. »Aber nicht nur, weil sie überhaupt da waren zu dieser unchristlichen Zeit, und dazu noch so aufgeputzt. Sondern weil sie so völlig stumm und griesgrämig dasaßen. Ich habe mich in die unterste Reihe gesetzt, die leer war, und gedacht, guter Gott, wo bin ich denn da reingeraten? In ein Volkstribunal? Einen Bittgang?«

Selbst die Kinder schienen nichts voneinander wissen zu wollen. Sie waren ihr sofort aufgefallen. Das ging ihr immer so. Vier Stück waren es.

»Zwei furchtbar tragisch dreinschauende kleine Mädchen von vielleicht fünf und sieben in dunklen Kleidchen und Sonnenhüten, die eng aneinandergeschmiegt neben einer üppigen Schwarzen saßen, einer Art Nanny offenbar«, sagte sie, entschlossen, ihre Gefühle nicht vorzeitig mit ihr durchgehen zu lassen. »Und zwei strohblonde halbwüchsige Jungen mit Sommersprossen und Tenniszeug. Und alle mit so langen Gesichtern, dass man denken konnte, sie wären als Strafe aus dem Bett geprügelt und hierhergeschleift worden.«

Während die Erwachsenen, fuhr sie fort, einfach so fremdartig waren, so überdimensional und so anders, als kämen sie aus einem Charles-Addams-Cartoon. Und das lag nicht nur an ihrer städtischen Kleidung und den Siebziger-Jahre-Frisuren. Oder daran, dass die Frauen trotz der Hitze für den tiefsten Winter gewandet waren. Es lag an ihrer kollektiven Düsterkeit.

»Warum sagt keiner was?«, flüsterte sie Mark zu, der sich ungebeten auf dem Sitz neben ihrem eingefunden hatte.

Mark zuckte die Achseln. »Russen.«

»Aber Russen sind doch Weltmeister im Reden!«

Nicht diese Russen, sagte Mark. Die meisten von ihnen seien erst ein paar Tage hier und müssten sich noch akklimatisieren.

»Irgendwas scheint bei denen vorgefallen zu sein« – er reckte das Kinn Richtung Bucht. »Nach dem Krach zu urteilen, haben die da drüben Familienrat im großen Stil, und nicht grade harmonisch. Fragen Sie mich nicht, wie die das hygienetechnisch hinkriegen. Das halbe Leitungssystem ist hinüber.«

Gail deutete auf zwei dicke Männer, einer mit einem braunen Filzhut auf dem Kopf und Handy am Ohr, der andere in einer Schottenmütze mit rotem Bommel.

»Vettern von Dima«, sagte Mark. »Die sind alle irgendwie verwandt und verschwägert. Kommen aus Perm. Perm, wie Permafrost, verstehen Sie?«

Eine Reihe höher dann die strohblonden Teenager, die mit angewiderten Mienen Kaugummi kauten. Dimas Söhne, erklärte Mark, Zwillinge. Und ja, nun da Gail noch einmal hinsah, entdeckte sie die Ähnlichkeit: kräftiger Brustkorb, gerader Rücken, hängelidrige braune Schlafzimmeraugen, die bereits heimlich in Gails Richtung wanderten.

Rasches, lautloses Durchatmen. Was jetzt kam, hieß bei ihnen in der Kanzlei die Abschussfrage, die Frage, die den Zeugen ein für alle Mal zerlegte. Zerlegte sie sich jetzt also selbst? Aber als sie weitersprach, stellte sie befreit fest, dass in der Stimme, die von der Ziegelwand zu ihr zurückhallte, kein Beben zu hören war, kein Stocken oder sonst eine verräterische Schwankung.

»Und in züchtigem Abstand zu allen anderen – demonstrativ, hatte ich fast den Eindruck – saß diese bildhübsche Fünfzehn- oder Sechzehnjährige mit schulterlangen kohlschwarzen Haaren, Schulbluse und einem marineblauen Schulrock, der ihr bis übers Knie ging, und sie schien zu gar niemandem zu gehören. Also habe ich Mark gefragt, wer sie ist. Natürlich.«

Sehr natürlich, allerdings, befand sie erleichtert, nachdem sie sich zu Ende angehört hatte. Nicht eine erhobene Augenbraue am Tisch. Gut gemacht, Gail.

»Sie heißt Natascha, eröffnete mir Mark. Ein Blümchen, das gepflückt sein will – nichts für ungut, höhö. Dimas Tochter, aber nicht Tamaras. Der Augapfel ihres Vaters.«

Und was, so fragte Gail ihre Zuhörer, macht die schöne Natascha, Tochter von Dima, aber nicht von Tamara, um sieben Uhr morgens, statt ihren Vater beim Tennis zu bewundern? Liest völlig vertieft in einem ledergebundenen Wälzer, den sie wie einen Keuschheitsgürtel über ihren Schoß gebreitet hält!

»Aber wirklich umwerfend hübsch«, betonte Gail. Und um ganz sicherzugehen: »Nicht nur gutaussehend, richtig schön.« Und dann dachte sie: Ach du Schreck, jetzt klinge ich schon wie eine Lesbe, dabei will ich doch nur unbekümmert klingen.

Doch auch diesmal schienen weder Perry noch ihre Inquisitoren einen falschen Ton zu bemerken.

»Und wo finde ich Tamara, die nicht Nataschas Mutter ist?«, fragte sie Mark streng und nutzte die Gelegenheit, um ein Stück von ihm wegzurücken.

»Zwei Reihen hinter Ihnen, links. Sehr fromme Dame. Heißt bei den Einheimischen nur die Nonne.«

Ein beiläufiger Blick über die Schulter zeigte ihr eine gespenstische Gestalt, die von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt war. Auch das Haar war schwarz, wenngleich mit weißen Fäden durchzogen, und in einen Knoten gerafft. Ihr Mund, ein schmaler Abwärtsbogen, schien noch nie gelächelt zu haben. Sie hatte einen violetten Chiffonschal um.

»Und auf der Brust so ein orthodoxes Goldkreuz mit doppeltem Querbalken, Bischof war das mindeste«, rief Gail. »Daher wohl auch die Nonne.« Und, nachgeschoben: »Aber eine Ausstrahlung hatte die Frau, unglaublich! Eine enorme Bühnenpräsenz« – ihre Schauspielereltern ließen grüßen –, »die Willenskraft war förmlich mit Händen greifbar. Sogar Perry hat sie gespürt.«

»Nicht jetzt«, warnte Perry, ohne Gail anzusehen. »Wir sollen keine späteren Erkenntnisse ins Spiel bringen.«

Andere habe ich ja leider nicht, dank dir, hätte sie ihm am liebsten hingerieben, aber in ihrer Erleichterung, die Hürde Natascha so glatt genommen zu haben, verzichtete sie darauf.

Irgendetwas an dem geschniegelten kleinen Luke irritierte sie: die Art, wie ihre Augen unversehens immer wieder den seinen begegneten und umgekehrt. Anfänglich hatte sie sich gefragt, ob er vielleicht schwul war – bis sie ihn auf ihre Bluse schielen sah, bei der ein Knopf aufgegangen war. Er hatte diesen Heldenmut des Verlierers, das war es. Diese Entschlossenheit, bis zum letzten Mann zu kämpfen, und der letzte Mann war er. In den Jahren, die sie auf Perry gewartet hatte, war Gail mit so einigen Männern ins Bett gegangen, und einen oder zwei davon hatte sie aus reiner Gutmütigkeit erhört, einfach um ihnen zu zeigen, dass sie besser waren, als sie glaubten. Daran musste sie denken, als sie nun Luke gegenübersaß.

* * *

Perry dagegen hatte, wie er seinen großen, flach vor ihm auf dem Tisch ausgespreizten Händen angelegentlich mitteilte, die Zuschauer vor dem Spiel mit Dima kaum beachtet. Er wusste, da saßen Leute, er hatte mit dem Schläger in ihre Richtung gewinkt und keine Reaktion erhalten. Aber in erster Linie war er damit beschäftigt, seine Kontaktlinsen einzusetzen, die Schnürsenkel nachzuziehen, Sonnencreme aufzutragen, sich zu sorgen, ob Mark Gail auf die Pelle rückte, und ansonsten zu überlegen, wie schnell er wohl gewinnen und hier abhauen konnte. Er wurde außerdem von seinem Gegner verhört, der keinen Meter von ihm entfernt stand.

»Stört Sie?«, fragte Dima in feierlich gedämpftem Ton. »Mein Fanclub? Ist besser, ich soll sie heimschicken?«

»Natürlich nicht«, antwortete Perry, der noch nicht recht über die Geschichte mit den Leibwächtern hinweg war. »Da ich annehme, dass es Ihre Freunde sind.«

»Sie sind britisch, ja?«

»Korrekt.«

»Englisch-britisch? Von Wales? Schottland?«

»Einfach nur englisch.«

Perry suchte sich eine Bank, knallte seine Sporttasche darauf und öffnete den Reißverschluss. Er kramte zwei Schweißbänder heraus, eins für die Stirn, eins fürs Handgelenk.

»Sind Sie Priester, vielleicht?«, forschte Dima in unverändert feierlichem Ton nach.

»Wieso? Brauchen Sie einen?«

»Doktor? Von Medizin?«

»Nein, auch kein Doktor, tut mir leid.«

»Anwalt?«

»Ich spiele einfach nur Tennis.«

»Banker?«

»Da sei Gott vor«, sagte Perry gereizt und fingerte an einem ramponierten Sonnenhut herum, nur um ihn dann zurück in die Tasche zu stopfen.

Doch in Wahrheit war er mehr als gereizt. Er fühlte sich für dumm verkauft, und er ließ sich nicht gern für dumm verkaufen. Für dumm verkauft von dem Pro und für dumm verkauft von den Leibwächtern, auch wenn er dem einen Riegel vorgeschoben hatte. Trotzdem, dass sie mit auf dem Platz waren – wie Linienrichter je an einem Ende aufgebaut –, genügte vollauf, um seinen Zorn am Schwelen zu halten. Vor allem aber fühlte er sich von Dima selbst für dumm verkauft, und dass Dima einen Haufen Herumtreiber dazu vergattert hatte, um sieben Uhr früh aufzumarschieren, um ihn gewinnen zu sehen, machte die Sache nicht besser.

Dima hatte die Hand in die Tasche seiner langen schwarzen Tennisshorts geschoben und einen silbernen John-F.-Kennedy-Halbdollar herausgezogen.

»Wissen Sie, was meine Jungs sagen? Irgendein Gauner hat mir den manipuliert, sagen sie«, vertraute er Perry an und nickte mit seinem kahlen Schädel hinüber zu den beiden sommersprossigen Teenagern auf der Tribüne. »Ich werf hoch, ich gewinn, gleich denken meine Kinder, das verdammte Ding ist manipuliert. Sie haben Kinder?«

»Nein.«

»Aber bald, ja?«

»Irgendwann.« Sprich: Kümmer dich um deinen eigenen Kram.

»Kopf oder Zahl?«

Manipuliert, wiederholte Perry stumm für sich. Woher kannte ein Mann, der ein verhunztes Englisch mit Pseudo-Bronx-Akzent sprach, ein Wort wie manipuliert? Er sagte Zahl, verlor und hörte ein Schnauben, das erste Anzeichen von Interesse, das irgendjemand auf der Tribüne zu bekunden geruhte. Sein Lehrerauge machte rasch Dimas beide Söhne aus, die hinter vorgehaltener Hand kicherten. Dima spähte zur Sonne hoch und wählte das schattige Ende.

»Was für ein Schläger haben Sie da?«, sagte er, und die Seehundaugen zwinkerten. »Sieht verboten aus. Egal, schlag ich Sie sowieso.« Und ehe er nach seiner Seite abzog: »Ist viel Kamele wert, so ein Mädchen. Besser, Sie machen schnell Hochzeit mit ihr.«

Und woher zum Teufel weiß der Kerl, dass wir nicht verheiratet sind?, fragte sich Perry grimmig.

* * *

Perry hat vier Asse in Folge erzielt, genau wie gegen das indische Paar, aber jetzt drischt er zu fest, weiß es, scheißegal. Und als Dima mit dem Aufschlag an der Reihe ist, macht er etwas, was er sich sonst nur herausnimmt, wenn er unmittelbar vor dem Sieg steht und einen klar unterlegenen Gegner hat: Er bleibt ganz vorn, praktisch an der Aufschlaglinie, und spielt den Ball mit einem Halbvolley zurück, diagonal über den Platz oder bis haarscharf an die Seitenlinie, wo sich der milchgesichtige Leibwächter mit verschränkten Armen aufgepflanzt hat. Aber nur für die ersten beiden Bälle, denn Dima kommt ihm schnell auf die Schliche und treibt ihn zurück an die Grundlinie, wo er hingehört.

»Ab da hab ich mich dann so langsam wieder eingekriegt«, sagte Perry mit einem reuigen Grinsen in Richtung seiner Befrager und rieb sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Perry war ein grauenhafter Snob«, stellte Gail richtig. »Und Dima war ein Naturtalent. Für sein Gewicht, seine Größe und sein Alter geradezu phänomenal. Nicht wahr, Perry? Und so viel Sportsgeist dabei. Großartig. Das hast du selber gesagt. Du hast gesagt, er hätte die Schwerkraft überwunden.«

»Er ist nicht nach dem Ball gesprungen, er ist levitiert«, räumte Perry ein. »Und ja, er hat sich sportlich verhalten, vollkommen einwandfrei. Ich hatte mich auf Wutanfälle gefasst gemacht, auf endlose Liniendispute, aber nichts dergleichen. Er war ein extrem angenehmer Gegner. Und gerissen wie eine Horde Affen. Hat seine Schläge bis zur allerletzten Sekunde zurückgehalten und noch länger.«

»Und er hat gehinkt«, ergänzte Gail lebhaft. »Er stand seitlich zum Netz, und das rechte Bein war ihm ganz klar das liebere, stimmt’s, Perry? Und er war so steif wie ein Ladestock. Und er hatte ein bandagiertes Knie. Und trotzdem schien er schwerelos.«

»Na ja, ein bisschen zurückhalten musste ich mich schon«, wandte Perry ein und knetete an seiner Stirn herum. »Sein Gekeuche wurde mit der Zeit ein bisschen schwer zu ertragen, um ehrlich zu sein.«

Aber bei allem Gekeuche ging das Verhör in den Spielpausen doch unverdrossen weiter:

»Sind großer Wissenschaftler, vielleicht? Jagen die gottverdammte Welt hoch, so wie hier mit dem Ball?«, fragte Dima, während er Eiswasser in sich hineinschüttete.

»Ganz bestimmt nicht.«

»Apparatschik?«

Das Ratespiel zog sich schon zu lange hin. »Nein, ich bin Dozent«, sagte Perry und begann sich eine Banane zu schälen.

»Dozent, das ist für Studenten, ja? Wie Professor?«

»Ja, ich unterrichte Studenten. Aber ich bin kein Professor.«

»Wo?«

»Zurzeit in Oxford.«

»Oxford wie Cambridge?«

»Richtig.«

»Und was?«

»Englische Literatur«, antwortete Perry, dem nicht eben danach war, einem Wildfremden zu erklären, dass seine Zukunft augenblicklich in den Sternen stand.

Aber Dima geriet ganz aus dem Häuschen vor Glück:

»Hören Sie! Sie kennen Jack London? Nummer-Eins-Schriftsteller von England?«

»Nicht persönlich.« Ein Scherz, auf den Dima nicht einstieg.

»Und? Mögen Sie?«

»Er ist großartig.«

»Charlotte Brontë? Sie mögen auch?«

»Sehr sogar.«

»Somerset Maugham?«

»Nicht sonderlich, muss ich zugeben.«

»Ich hab Bücher von alle diese Leute! Hunderte! Alles Russisch! Riesenschränke voll Bücher!«

»Sehr gut.«

»Sie lesen Dostojewski? Lermontow? Tolstoi?«

»Natürlich.«

»Hab ich alle. Alle die Nummer-Eins-Leute. Ich hab Pasternak. Wissen Sie was? Pasternak hat von meine Stadt daheim geschrieben. Jurjatino, so heißt sie bei ihm. Das ist Perm. Dieser Spinner sagt Jurjatino. Keine Ahnung, warum. Schriftsteller machen so was. Alles Spinner. Sie sehen meine Tochter da oben? Das ist Natascha, interessiert sich ein Dreck für Tennis, liebt nur immer Bücher. He, Natascha. Sag dem Professor hier guten Tag!«

Verzögert, damit auch ja klarwird, dass sie sich gestört fühlt, hebt Natascha den Kopf und streicht zerstreut das Haar zur Seite, gerade lange genug, um Perry mit ihrer Schönheit zu blenden, bevor sie sich wieder in ihren ledergebundenen Wälzer versenkt.

»Ist ihr peinlich«, erklärt Dima. »Mag nicht, wenn ich so laut zu ihr rufe. Sehen Sie das Buch, das sie hat? Turgenjew. Nummer-Eins-Schriftsteller von Russland. Hab ich ihr gekauft. Sie will ein Buch, ich kauf es. Okay, Professor. Ihr Aufschlag.«

»Von diesem Moment an war ich der Professor. Ich hab ihm immer wieder gesagt, dass ich keiner bin, aber er wollte nicht hören, also hab ich irgendwann aufgegeben. Nach ein paar Tagen hat das halbe Hotel mich Professor genannt. Was einem schon reichlich merkwürdig vorkommt, wenn man gerade beschlossen hat, dass man nicht mal mehr Dozent ist.«

Als sie die Seiten wechseln, tröstet es Perry zu sehen, dass Gail den zudringlichen Mark abgeschüttelt hat und jetzt auf der obersten Bank zwischen zwei kleinen Mädchen sitzt.

* * *

Das Spiel hatte zu einem ganz brauchbaren Rhythmus gefunden, sagte Perry. Nicht das größte Match aller Zeiten, aber – solange er halbwegs leisetrat – spannend und unterhaltsam anzusehen, immer vorausgesetzt, jemand wollte unterhalten werden, was fraglich schien, denn bis auf die Zwillinge hätte die Gesellschaft ebenso gut zu einer Séance versammelt sein können. Mit Leisetreten meinte er, das Tempo ein wenig drosseln und hier und da einen Ball annehmen, der auf dem Weg ins Aus war, oder ihn zurückschlagen, ohne allzu genau darauf zu schauen, wo er gelandet war. Denn das Gefälle zwischen ihnen – vom Alter, vom Können und von der Beweglichkeit her – trat doch immer deutlicher zutage, und Perry wollte einfach nur zum Ende kommen, Dima seine Würde lassen und sich mit Gail ein verspätetes Frühstück auf dem Captain’s Deck gönnen. So zumindest hatte er sich das gedacht, bis beim nächsten Seitenwechsel Dima ihn beim Arm packte und mit wütendem Knurren auf ihn losfuhr:

»Verdammt, was ist das hier? Schwuchteltennis?«

»Wie bitte?«

»Der lange Ball da war Aus. Sie sehen ihn draußen, Sie spielen ihn rein. Sie denken, ich bin so ein fetter alter Schlappschwanz, der gleich tot umfällt, wenn Sie nicht Samtpfoten nehmen.«

»Es war ein Grenzfall.«

»Ich spiel nicht klein-klein, Professor. Ich will was, ich hol’s mir verdammt noch mal. Ich brauch kein Schwuchteltennis. Sollen wir um ein Tausender spielen? Bisschen Zug reinbringen?«

»Nein danke.«

»Fünftausend?«

Perry lachte und schüttelte den Kopf.

»Sie sind Schisser, ja? Ein Schisser, deshalb Sie wetten nicht.«

»Das muss es sein«, stimmte Perry zu, dem der linke Oberarm noch von Dimas Griff schmerzte.

* * *

»Vorteil Großbritannien!«

Der Ruf schallt über den Platz und erstirbt. Die Zwillinge brechen in nervöses Kichern aus und warten auf das Donnerwetter. Bisher hat Dima ihre gelegentlichen Anfälle von Übermut geduldet. Jetzt nicht mehr. Er legt seinen Schläger auf der Bank ab, humpelt die Stufen der Tribüne hinauf, bis er vor den Jungen steht, und setzt ihnen beiden den Zeigefinger auf die Nasenspitze.

»Wollt ihr, ich nehm mein Gürtel und prügel euch grün und blau?«, fragt er auf Englisch – damit Perry und Gail auch etwas davon haben vermutlich, denn warum sonst redet er nicht russisch mit ihnen?

Worauf einer der Jungen in deutlich besserem Englisch antwortet: »Du hast doch gar keinen Gürtel an, Papa.«

Das war’s. Dima gibt dem näheren Sohn eine so schallende Ohrfeige, dass der Bub eine halbe Drehung auf der Bank macht, bis er sich mit den Beinen abfangen kann. Auf die erste Ohrfeige folgt eine nicht minder laute zweite, mit derselben Hand, aber für den anderen Sohn, so dass Gail sich an ihren gesellschaftlich aufstrebenden älteren Bruder erinnert fühlt, wenn der mit seinen reichen Freunden auf Fasanenjagd geht (ein Zeitvertreib, den Gail verabscheut) und, wie er es nennt, einen Doppeltreffer landet: ein toter Fasan pro Gewehrlauf.

»Und sie haben nicht mal den Kopf weggedreht, das war das Verrückte. Sie saßen einfach da und haben es eingesteckt«, sagte Perry, der Lehrerssohn.

Aber das Seltsamste, warf Gail ein, war doch, wie friedlich das Gespräch danach weiterging:

»Ihr wollt Tennisstunde bei Mark nachher? Oder lieber heim, dass eure Mutter euch Religion gibt?«

»Stunde, bitte, Papa«, sagt einer von den Jungen.

»Dann kein Rumschreien mehr, sonst gibt’s heut Abend kein Kobefleisch. Ihr wollt Kobefleisch heute Abend?«

»Klar, Papa.«

»Du, Viktor?«

»Klar, Papa.«

»Wenn ihr klatschen wollt, klatscht dem Professor hier, nicht eurem dämlichen alten Vater. Kommt her.«

Und jeder der beiden wird von ihm ungestüm ans Herz gedrückt, bevor das Match ohne weiteren Zwischenfall seinem unausweichlichen Ende zugeht.

* * *

Dima begrüßt seine Niederlage mit einem Überschwang, der schon fast peinlich ist. Er verliert nicht nur großmütig, sondern mit Tränen der Bewunderung und der Dankbarkeit. Erst muss er Perry für die dreifache russische Umarmung an seine breite Brust ziehen – eine hürnene Brust, schwört Perry. Die Tränen strömen ihm derweil über die Wangen und von da Perrys Hals hinab.

»Sie sind echter Engländer, Fairplay und alles, hören Sie, Professor? Sie sind gottverdammter englischer Gentleman wie in Büchern. Ich lieb Sie, hören Sie? Gail, Sie auch.« Bei Gail fällt die Umarmung noch einmal andächtiger aus – und vorsichtiger, wofür sie dankbar ist. »Sie haben Auge auf diesen Blödmann, hören Sie? Tennis kann er null, aber ich sag Ihnen, er ist ein gottverdammter Gentleman. Er ist Professor für Fairplay, hören Sie?« – eine Formel, die er wiederholt, als hätte er sie erfunden.

Worauf er sich mit Schwung wegdreht und barsch in ein Handy raunzt, das der milchgesichtige Leibwächter ihm hinhält.

* * *

Die Zuschauer ziehen langsam ab. Die kleinen Mädchen wollen von Gail gedrückt werden. Gail lässt sich nicht lange bitten. Einer von Dimas Söhnen näselt ein sehr amerikanisches »Cool game, man«, als er auf dem Weg zu seiner Stunde an Perry vorbeistiefelt, seine Backe noch rot von der Ohrfeige. Die schöne Natascha reiht sich in die Prozession ein, ihr dickes Buch in der Hand. Ihr Daumen klemmt an der Stelle, wo man sie aus ihrer Lektüre gerissen hat. Die Nachhut bildet Tamara an Dimas Arm, ihr Bischofskreuz glitzernd im Schein der gestiegenen Sonne. Jetzt, nach dem Match, ist Dimas Humpeln ausgeprägter. Er geht hintübergelehnt, das Kinn vorgeschoben, die Schultern trutzig gereckt vor dem Feind. Die Leibwächter eskortieren die Gruppe den gewundenen Treppenpfad hinunter. Drei Minivans mit getönten Scheiben warten hinter dem Hotel, um sie heimzubringen. Mark der Pro geht als Letzter.

»Klasse Match, Sir!« – er klopft Perry auf die Schulter. »Exzellente Court-Performance. Nur eine Spur holprig bei der Rückhand, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Vielleicht sollten wir daran noch ein bisschen feilen?«

Seite an Seite beobachten Gail und Perry schweigend, wie der Konvoi die zerfurchte Uferstraße entlangrumpelt und zwischen den Mahagonibäumen verschwindet, die das Haus mit dem Namen Three Chimneys vor zudringlichen Blicken abschirmen.

* * *

Luke schaut von seinen Notizen auf. Wie auf ein Stichwort hebt auch Yvonne den Kopf. Beide lächeln. Gail versucht Lukes Blick auszuweichen, aber Luke sieht ihr mitten ins Gesicht, sie hat keine Chance.

»Also, Gail«, sagt er zackig. »Jetzt wieder zu Ihnen, wenn’s recht ist. Mark war eine Nervensäge. Trotzdem scheint er informationstechnisch ja eine Goldgrube gewesen zu sein. Was konnten Sie von ihm denn noch über Familie Dima erfahren?« – seine zarten Hände machen eine ruckende Bewegung, als wollte er sein Pferd antreiben.

Gail späht zu Perry hinüber, wozu, weiß sie selbst nicht recht. Perry erwidert den Blick nicht.

»Er war einfach dermaßen schleimig«, beschwert sie sich, indem sie ihren Unmut über Luke auf Mark abwälzt, und rümpft die Nase zum Zeichen, dass der üble Nachgeschmack noch anhält.

* * *

Mark saß noch kaum neben ihr auf der Bank, begann Gail, da schwadronierte er auch schon los. Was für ein hochwichtiger Millionär sein russischer Freund Dima doch sei. Und dass Three Chimneys nur einer seiner vielen Landsitze sei. Auf Madeira habe er auch einen, und noch einen in Sotschi am Schwarzen Meer.

»Plus ein Haus in der Nähe von Bern«, fuhr sie fort, »wo sich seine Geschäftszentrale befindet. Aber er ist ständig auf Achse. Einen Teil des Jahres verbringt er in Paris, einen Teil in Rom, einen Teil in Moskau. Sagt Mark« – sie sah zu, wie Yvonne sich wieder etwas notierte. »Aber zu Hause sind sie in der Schweiz, jedenfalls die Kinder, und zur Schule gehen sie in so einer Art Millionärsinternat in den Bergen. Er spricht von der Firma; Mark nimmt an, dass sie ihm gehört. Es gibt eine Firma mit Sitz in Zypern. Und Banken. Gleich mehrere sogar. Die sind der ganz große Renner. Deswegen ist er ja auch hier auf der Insel. In Antigua gibt es derzeit vier russische Banken, nach Marks Zählung, außerdem noch eine ukrainische. Sie bestehen aus nichts außer Messingschildern in Einkaufspassagen und einem Telefon auf dem Schreibtisch von irgendeinem Anwalt. Eins von diesen Messingschildern ist Dima. Den Kaufpreis für Three Chimneys hat er übrigens in bar hingelegt. Wobei er das Geld nicht in Koffern anschleppte, sondern bezeichnenderweise in Waschkörben, die ihm das Hotel geliehen hat, behauptet Mark. Und zwar Zwanzigdollarscheine, keine Fünfziger. Fünfziger sind zu heiß. Der Preis war für das Haus, eine stillgelegte Zuckermühle und die Halbinsel, auf der sie stehen.«

»Hat Mark einen Betrag genannt?« – Luke jetzt wieder.

»Sechs Millionen US-Dollar. Und das Tennis war auch nicht zum reinen Vergnügen. Oder jedenfalls anfangs nicht«, berichtete sie weiter, selbst ganz überrascht, wie viel von dem Monolog des grässlichen Mark sie behalten hatte. »Tennis gilt in Russland als das große Statussymbol. Wenn ein Russe Ihnen erzählt, dass er Tennis spielt, heißt das in anderen Worten, er ist ein Krösus. Dank Marks begnadetem Unterricht kam Dima nach Moskau zurück und gewann ein Turnier, und allen blieb der Mund offen stehen. Aber das darf Mark keinem verraten, weil Dima sich damit brüstet, es ganz allein geschafft zu haben. Nur bei mir hatte Mark das Gefühl, eine Ausnahme machen zu können, weil er mir so rückhaltlos vertraut. Und wenn ich mal Lust hätte, bei ihm im Laden vorbeizuschauen, dann gäbe es da ein kuschliges kleines Zimmer im Obergeschoss, in dem wir unsere Unterhaltung fortsetzen könnten.«

Luke und Yvonne reagierten mit mitfühlendem Lächeln. Perry verzog keine Miene.

»Und Tamara?«, fragte Luke.

»Die unkomische Heilige, nannte er sie. Verrückt wie ein Hutmacher, nach dem, was die Inselbewohner sagen. Schwimmt nicht, geht nicht runter zum Strand, spielt nicht Tennis, spricht nicht mit ihren eigenen Kindern, es sei denn über Gott, behandelt Natascha wie Luft, und die einzige Einheimische, mit der sie ein Wort wechselt, ist Elspeth, Ambrose’ Frau. Ambrose kümmert sich um die Hotelgäste. Elspeth arbeitet in einem Reisebüro, aber für die Dimas lässt sie alles stehen und liegen und hilft aus. Angeblich hatte sich eins von den Dienstmädchen vor einer Weile für einen Tanzabend irgendein Schmuckstück von Tamara ausgeborgt. Tamara hat sie erwischt, bevor sie es zurücklegen konnte, und sie so fest in die Hand gebissen, dass sie mit zwölf Stichen genäht werden musste. Mark meinte, er an ihrer Stelle hätte sich auch gleich gegen Tollwut impfen lassen.«

»Dann erzählen Sie uns jetzt ein bisschen von den kleinen Mädchen, die sich zu Ihnen gesetzt haben, wenn Sie so nett wären, Gail«, schlug Luke vor.

* * *

Yvonne spielte die leitende Staatsanwältin, Luke gab ihren Adlatus, und Gail im Zeugenstand versuchte, nicht aus der Haut zu fahren – eine Sünde, für die sie ihren eigenen Zeugen für gewöhnlich die Exkommunikation androhte.

»Saßen die Mädchen denn schon oben, Gail, oder kamen sie die Treppe hochgehüpft, sobald sie die hübsche Dame so ganz allein dort sitzen sahen?«, wollte Yvonne wissen und legte sich den Bleistift an den Mund, während sie ihre Aufzeichnungen studierte.

»Sie kamen die Treppe hoch und haben sich links und rechts neben mich gesetzt. Und sie sind nicht hochgehüpft, sie sind hochgegangen

»Lächelnd? Kichernd? Übermütig?«

»Kein Lächeln, gar nichts. Nicht mal ansatzweise.«

»Und waren die Mädchen Ihrer Meinung nach von der Dame, die auf sie aufpasste, zu Ihnen hochgeschickt worden?«

»Sie kamen rein aus eigenem Antrieb. Meiner Meinung nach.«

»Sind Sie sich da sicher?« Je hartnäckiger sie nachfragte, desto mehr hörte man ihr die Schottin an.

»Ich hatte ja alles im Blickfeld. Mark hatte eine plumpe Anspielung zu viel gemacht, und ich war in die oberste Reihe hochgestampft, um so weit von ihm wegzugelangen wie nur möglich. Da oben saß niemand außer mir.«

»Und wo saßen unsere Mädelchen zu diesem Zeitpunkt? Direkt unter Ihnen? Seitlich von Ihnen? Wo genau?«

Gail atmete tief durch, um ihre Ungeduld zu bezähmen, dann sagte sie bedächtig:

»Unsere Mädelchen saßen in der zweiten Reihe neben Elspeth. Die Größere drehte sich um und sah zu mir hoch, dann sagte sie etwas zu Elspeth. Und nein, ich konnte nicht hören, was sie sagte. Elspeth wandte den Kopf, sah zu mir her und nickte. Die beiden Mädchen berieten miteinander, worauf sie aufstanden und die Stufen heraufkamen. Langsam. Gemessen.«

»Machen Sie sie nicht bockig«, warnte Perry.

* * *

Die Zeugin versucht auszuweichen. So klingt es zumindest für Gails Anwaltsohr, und für Yvonnes Ohr zweifellos auch. Ja, die Mädchen kamen zu ihr herauf, sagt sie. Die Größere machte einen Knicks, den sie eigentlich nur in der Ballettschule gelernt haben konnte, und fragte tiefernst auf Englisch, mit nur ganz schwachem ausländischem Akzent: Can we sit with you, please, Miss? Also lachte Gail und sagte: You can indeed, Miss, und die beiden nahmen sie in die Mitte, immer noch ohne ein Lächeln.

»Ich habe die Große nach ihrem Namen gefragt. Flüsternd, weil alle so still waren. Sie sagte: ›Katja‹, und ich fragte: ›Und wie heißt deine Schwester?‹, und sie sagte: ›Irina.‹ Und Irina drehte sich um und starrte mich an, als ob ich … ja, als ob ich ihr zu nahe getreten wäre – ich konnte nicht begreifen, wo die Feindseligkeit herkam. Ich sagte: ›Sind euer Papa und eure Mama auch hier?‹ Zu ihnen beiden. Katja schüttelte heftig den Kopf. Irina reagierte gar nicht. Eine Zeitlang saßen wir stumm da. Eine lange Zeit, für Kinder. Und ich dachte: Vielleicht hat man ihnen eingetrichtert, dass man beim Tennis nicht sprechen darf. Oder sie dürfen nicht mit Fremden reden. Oder vielleicht können sie nicht mehr Englisch, oder sie sind autistisch oder sonst wie behindert.«

Sie hält inne, hofft auf eine Ermutigung oder eine Frage, aber über den Tisch schauen sie nur zwei Augenpaare erwartungsvoll an, und Perry neben ihr hat den Hinterkopf an die Ziegelwand gelehnt, deren Geruch ihr die Trinkgewohnheiten ihres verstorbenen Vaters zurückbringt. Innerlich schnauft sie ein letztes Mal tief durch und wagt dann den Sprung:

»Das Spiel war kurz unterbrochen. Also versuchte ich es noch einmal: Wo geht ihr in die Schule, Katja? Katja schüttelt den Kopf, Irina schüttelt den Kopf. Keine Schule? Oder nur im Moment nicht? Nur im Moment nicht, wie es scheint. Bis jetzt sind sie auf die englische Internationale Schule in Rom gegangen, aber auf die gehen sie nicht mehr. Keine Begründung, wobei ich auch nach keiner gefragt habe. Ich wollte nicht aufdringlich sein, aber ich hatte ein ungutes Gefühl, das ich nicht näher benennen konnte. Dann wohnt ihr also in Rom? Nein, jetzt nicht mehr. Wieder Katja. Und in Rom habt ihr so gut Englisch gelernt? Ja. In der Internationalen Schule konnten sie zwischen Italienisch und Englisch wählen. Englisch war besser. Ich zeige auf Dimas Söhne. Sind das eure Brüder? Wieder Kopfschütteln. Vettern? Ja, so eine Art. Nur so eine Art? Ja. Gehen sie auch auf die Internationale Schule? Ja, aber in der Schweiz, nicht in Rom. Und das schöne Mädchen, das nur Augen für ihr Buch hat, sage ich, ist das eure Kusine? Antwort von Katja, ihr abgerungen wie ein Geständnis: Natascha ist ihre Kusine, aber auch nur so eine Art. Und immer noch von keiner der beiden ein Lächeln. Aber Katja streichelt meinen seidenen Überwurf. Als hätte sie noch nie Seide angefasst.«

Gail holt Atem. Das ist noch gar nichts, sagt sie bei sich. Das ist nur der Appetithappen. Wartet bis zum nächsten Tag für die Fünf-Gänge-Horrorgeschichte. Wartet, bis die späteren Erkenntnisse ins Spiel kommen.

»Und als sie die Seide lange genug gestreichelt hat, lehnt sie den Kopf an meinen Arm und lässt ihn da liegen und macht die Augen zu. Und das war’s mit unserer Kommunikation für die nächsten fünf Minuten, außer dass Irina auf der anderen Seite Katjas Beispiel gefolgt ist und jetzt meine Hand hält. Sie hat richtige kleine Klauen, wie eine Krabbe, und sie krallt sich regelrecht ein. Dann drückt sie meine Hand gegen ihre Stirn und dreht ihr Gesicht hinein, als sollte ich merken, dass sie Fieber hat, nur dass ihre Backen nass sind, und mir wird klar, dass sie weint. Dann gibt sie mir meine Hand zurück, und Katja sagt: ›Sie weint manchmal. Das ist normal.‹ Und damit endet das Match, und Elspeth eilt schon die Stufen herauf, um sie zu holen, und ich bin inzwischen so weit, dass ich Irina am liebsten in meinen Sarong wickeln und sie mit nach Hause nehmen würde und ihre Schwester gleich dazu, aber da das ja nicht geht und ich keine Ahnung habe, was mit ihr ist und wer die beiden überhaupt sind – Vorhang.«

* * *

Nur dass der Vorhang natürlich nicht wirklich fällt. Nicht auf Antigua. Das Stück geht munter weiter. Perry Makepiece und Gail Perkins genießen nach wie vor den glücklichsten Urlaub ihres Lebens, genau wie sie es sich damals im November vorgenommen haben. Um sich ihr Glück ins Gedächtnis zu rufen, spult Gail sich im Stillen die unzensierte Version ab:

Ca. zehn Uhr früh, Tennis vorbei, kommen zurück in unser Häuschen, damit Perry duschen kann.

Sex, wunderbar wie nur je, das haben wir noch nicht verlernt. Perry kann nichts halbherzig machen. Seine Konzentration gilt immer nur einer Sache auf einmal.

Mittag oder später. Verpassen Frühstücksbüfett aus obigen Gründen, schwimmen im Meer, lunchen am Pool, dann wieder zum Strand, weil Perry mich dringend im Boccia schlagen muss.

Ca. sechzehn Uhr. Kommen zurück, Perry als Sieger (warum kann er ein Mädel nicht einmal gewinnen lassen?), dösen, lesen, wieder Sex, dösen noch mehr, verlieren jedes Zeitgefühl. Sitzen im Bademantel auf dem Balkon und machen dem Chardonnay aus der Minibar den Garaus.

Ca. zwanzig Uhr. Fühlen uns zu faul, um uns anzuziehen, bestellen Abendessen aufs Zimmer.

Immer noch der Urlaub unseres Lebens. Immer noch in Eden, die Backen voll mit dem verdammten Apfel.

Ca. einundzwanzig Uhr. Das Abendessen kommt, hereingerollt nicht von einem schnöden Zimmerkellner, sondern von dem ehrwürdigen Ambrose höchstselbst, der uns zusätzlich zu dem kalifornischen Fusel, den wir bestellt haben, eine frostbeschlagene Flasche edelsten Krug-Champagners in einem silbernen Eiskübel bringt, laut Weinkarte 380 Dollar plus Steuern, die er uns feierlich auftischt, zusammen mit zwei frostbeschlagenen Gläsern, einer Platte mit extrem lecker aussehenden Canapés, zwei Damastservietten und einer vorbereiteten Rede, die er mit schallender Stimme vorträgt, den Brustkorb vorgewölbt und die Hände an die Seiten gedrückt wie ein Wachtmeister, der vor Gericht aussagen muss.

»Diese sehr hervorragende Flasche Champagner schickt Ihnen beiden mit seinen besten Empfehlungen der unvergleichliche Mr Dima persönlich. Mr Dima, er möchte Ihnen danken für« – aus seiner Hemdtasche bringt er einen Zettel und eine Lesebrille zum Vorschein –, »er sagt, ich zitiere: ›Professor, ich danke Ihnen aus meinem Herzen für eine sehr ausgezeichnete Stunde in der großen Kunst, Fairplay-Tennis zu spielen und ein englischer Gentleman zu sein. Ich danke Ihnen auch, dass Sie mir fünftausend Dollar Wette gespart haben.‹ Und seine Grüße an die wunderbar schöne Miss Gail, und das ist seine Nachricht.«

Wir trinken ein paar Gläser Champagner und beschließen, dass der Rest mit zu uns ins Bett darf.

* * *

»Was ist eigentlich Kobefleisch?«, fragt mich Perry irgendwann im Lauf einer ereignisreichen Nacht.

»Hast du schon mal einem Mädchen den Bauch massiert?«, frage ich zurück.

»Würde mir nicht im Traum einfallen«, sagt Perry, die Hand auf meinem Bauch.

»Jungfräuliche Kühe«, erkläre ich ihm. »Gemästet mit Sake und feinstem Bier. Koberinder bekommen jeden Abend den Bauch massiert, bis sie reif fürs Schlachthaus sind. Außerdem sind sie geistiges Eigentum erster Güte«, füge ich hinzu, was völlig korrekt ist, aber ich bin mir nicht sicher, ob er noch zuhört. »Unsere Kanzlei hat sie in einem Prozess vertreten und mit fliegenden Hufen gewonnen.«

Als ich einschlafe, habe ich einen prophetischen Traum, in dem ich in Russland bin und kleine Kinder schlimme Dinge erleiden, Schwarzweißbilder wie aus dem Krieg.