»Und ich soll Sie wirklich nicht bis zur Haustür begleiten, Gail?«, erkundigte sich Ollie und drehte sich in seinem Sitz nach hinten, um sie durch die Trennscheibe seines Taxis ins Auge zu fassen.
»Danke, nicht nötig.«
»Sie sehen aber so aus, als ob Sie es vielleicht doch nötig hätten, Gail. Von hier vorn jedenfalls. Sie sehen angeschlagen aus. Ich könnte Ihnen eine schöne Tasse Tee machen.«
Als ob ich’s nötig habe?
»Nein, danke. Wirklich nicht. Ich muss einfach nur schlafen.«
»Ja, so ein schönes kleines Schläfchen, da geht nichts drüber, hm?«
»Nein. Da geht nichts drüber. Gute Nacht, Ollie. Danke fürs Heimbringen.«
Sie überquerte die Straße und wartete, dass er losfuhr, aber er fuhr nicht.
»Halt, Ihre Handtasche, Schätzchen!«
Tatsächlich! Sie hätte sich ohrfeigen mögen. Aber erst recht hätte sie Ollie ohrfeigen mögen, dass er sie bis zur Haustür kommen ließ, bevor er ihr nachspurtete. Sie dankte ihm noch einmal, murmelte, was für eine Idiotin sie doch sei.
»Nein, sagen Sie das nicht, Gail, ich bin noch viel schlimmer. Ich würde meinen eigenen Kopf vergessen, wenn ich ihn abnehmen könnte. Also, sind Sie sich absolut sicher, Schätzchen?«
Absolut nicht, Schätzchen. Über gar nichts mehr. Nicht darüber, ob du ein Topspion bist oder ein Handlanger. Nicht darüber, warum du eine dicke Brille brauchst, um am helllichten Tag nach Bloomsbury zu fahren, aber keine auf dem Rückweg, wenn es stockfinster ist. Oder kann es sein, dass Spione nur im Dunkeln sehen?
* * *
Die Wohnung, die Gails Vater ihr hinterlassen hatte, erstreckte sich über die obersten beiden Stockwerke eines hübschen weißen viktorianischen Reihenhauses von der Art, wie sie Primrose Hill seinen Reiz verleihen. Noch gehörte sie zur Hälfte Gails fasanenmordendem Aufsteiger-Bruder, aber in rund fünfzig Jahren (sofern ihn der Suff nicht bis dahin ins Grab gebracht hatte und sie und Perry noch zusammen waren, was Gail im Augenblick bezweifelte) würden sie ihn ausbezahlt haben.
Der Hausflur stank nach dem Rinderschmortopf aus dem ersten Stock und hallte wider vom Fernsehlärm und dem Gekeife der übrigen Bewohner. Das Mountainbike, das Perry für seine Wochenendbesuche hier abgestellt hatte, stand wie üblich im Weg, an das Fallrohr gekettet. Eines Tages, predigte sie ihm, würde ein unternehmungslustiger Dieb das Fallrohr ganz einfach mit klauen. Perrys höchstes Glück war es, morgens um sechs nach Hampstead Heath zu radeln und im Höllentempo die Wege entlangzurasen, auf denen Fahrrad fahren verboten war.
Der Teppich auf den vier schmalen Stiegen, die zu ihrer Wohnung hochführten, bestand nur noch aus ein paar Fädchen, aber der Besitzer der Erdgeschosswohnung sah nicht ein, warum er auch nur einen Penny dafür ausgeben sollte, und die anderen beiden weigerten sich zu zahlen, ehe er nicht bezahlt hätte, und von Gail als der hauseigenen Juristin erwarteten sie einen Kompromiss, aber da keine der Parteien einen Millimeter von ihrer Position abrückte, sah es für einen Kompromiss düster aus.
Heute Nacht allerdings war sie dankbar für das alles – sollten sie nur nach Herzenslust keifen und ihre verdammte Musik spielen, ihr eine saftige Dosis Normalität verpassen, denn sie lechzte nach Normalität! Wenn sie nur endlich aus dem OP-Saal in den Aufwachraum durfte! Wenn man ihr nur endlich sagte: Der Alptraum ist vorbei, Gail, Liebes, es gibt keine säuselnden schottischen Blaustrümpfe mehr, keine kleinwüchsigen Spiokraten mit Eton-Akzent, keine Waisenkinder, bildschönen Nataschas, knarrenschwingenden Onkel, Dimas und Tamaras, und Perry Makepiece, dein gottgesandter Liebster, dieses Unschuldslamm, ist nicht drauf und dran, sich zu opfern, weder auf dem Altar von Orwells verlorenem England noch für seinen hochgeheimen Dienst an diesem England, noch für seine eigene, pervertierte Form puritanischer Eitelkeit.
Mit leicht zitternden Knien begann sie die Treppe hinaufzusteigen.
Auf dem ersten winkligen Treppenabsatz wurde das Zittern stärker.
Nach dem zweiten zitterte sie so heftig, dass sie sich an der Wand abstützen musste, bis ihre Beine sie wieder trugen.
Und auf dem letzten Stück musste sie sich am Handlauf des Geländers hochziehen, um die Wohnungstür zu erreichen, bevor das Licht ausging.
Dann stand sie in dem kleinen Flur und lauschte, den Rücken gegen die geschlossene Tür gelehnt, schnupperte nach Alkohol, ungewaschenen Körpern, schalem Zigarettenrauch oder allem zusammen – diesem Geruch, der sie vor ein paar Monaten schon gewarnt hatte, ehe sie noch die Wendeltreppe hinaufgestiegen war, um die Spuren des Einbruchs vorzufinden: das vollgepisste Bett, die aufgeschlitzten Kissen, die obszönen Lippenstiftbotschaften quer über ihrem Spiegel.
Erst als der Erinnerung zur Gänze Genüge getan war, öffnete sie die Küchentür, hängte ihren Mantel auf, ging ins Bad, pinkelte, goss sich ein gewaltiges Glas Rioja ein, trank einen Riesenschluck ab, schenkte es gleich wieder bis zum Rand voll und balancierte es hinüber ins Wohnzimmer.
* * *
Trank dort im Stehen. Von passivem Herumgesitze hatte sie bis an ihr Lebensende genug, besten Dank.
Stand vor dem unbenutzbaren offenen Kamin, einem pseudo-georgianischen Fertigteil ganz aus Kiefernholz, das einer der Vorbesitzer eingebaut hatte, und starrte auf das schmale Schiebefenster. Keine sechs Stunden war es her, dass Perry durch dieses Fenster auf die Straße hinuntergespäht hatte, den langen Körper so abgewinkelt, dass er vogelhaft und mindestens zweieinhalb Meter groß aussah, während er nach einem ganz gewöhnlichen schwarzen Taxi mit ausgeschaltetem Dachlämpchen ausschaute, dessen Kennzeichen auf 73 enden sollte und dessen Fahrer Ollie hieß.
Keine Vorhänge an unseren Fenstern, nur Jalousien. Perry, der seine Fenster unverhängt mag, aber sich an Vorhängen beteiligen will, wenn Gail unbedingt welche möchte. Perry, der gegen Zentralheizungen ist und sich doch ständig sorgt, ob Gail es auch schön warm hat. Perry, der ihnen nicht mehr als ein Kind zugesteht, um der Überbevölkerung Rechnung zu tragen, aber im nächsten Atemzug mindestens sechs haben will, und zwar bitte vorgestern. Perry, der sich, kaum dass sie nach ihrem verpatzten Traumurlaub den Fuß auf englischen Boden gesetzt haben, nach Oxford verzieht, sich in seiner Bude vergräbt und für die nächsten sechsundfünfzig Stunden nichts mehr von sich hören lässt bis auf vereinzelte kryptische SMS von der Front:
dokument fast fertig … habe kontakt mit entsprechenden stellen aufgenommen … komme mittag in london an … leg schlüssel bitte unter die matte
»Es ist ein Spezialteam, hat er gesagt, nicht der gewöhnliche Kader«, informiert er sie, während er die falschen Taxis vorbeifahren sieht.
»Er?«
»Adam.«
»Der Mann, der dich zurückgerufen hat? Dieser Adam?«
»Ja.«
»Vor- oder Nachname?«
»Hat er nicht gesagt, warum auch. Er meinte, solche Fälle werden bei ihnen gesondert behandelt. In einem sicheren Haus. Er wollte am Telefon nicht sagen, wo. Der Taxifahrer weiß Bescheid, sagte er.«
»Ollie.«
»Ja.«
»Und was sind solche Fälle, wenn man fragen darf?«
»Fälle wie unserer. Mehr weiß ich auch nicht.«
Ein schwarzes Taxi fährt vorbei, aber sein Lämpchen brennt. Kein Geheimdiensttaxi also. Ein normales Taxi. Mit einem Fahrer, der nicht Ollie ist. Perry, abermals enttäuscht, schießt gegen Gail:
»Hör mal, was soll ich denn bitte schön machen? Wenn du einen besseren Vorschlag hast, immer her damit! Seit wir wieder hier sind, kommt von dir als Einziges nur dieses Gestichel.«
»Und du hältst mich als Einziges nur auf Abstand. Ach ja, und behandelst mich wie ein Kind, das hätte ich jetzt fast vergessen. Vom schwachen Geschlecht.«
Er hat sich wieder dem Fenster zugewandt.
»Ist dieser Adam der Einzige, der deinen Brief-alias-Dokument-alias-Bericht-alias-Zeugenaussage gelesen hat?«, fragt sie.
»Kann ich mir kaum vorstellen. Und ich könnte auch nicht darauf schwören, dass er wirklich Adam heißt. Er hat Adam mehr wie ein Passwort gesagt.«
»Ach ja? Wie mag er das wohl gemacht haben?«
Sie probiert mehrere Arten, Adam wie ein Passwort zu sagen, aber Perry lässt sich nicht aus der Reserve locken.
»Aber du bist sicher, dass Adam ein Mann ist? Nicht einfach eine Frau mit einer tiefen Stimme?«
Keine Antwort. Nicht, dass sie mit einer gerechnet hätte.
Wieder fährt ein Taxi vorbei. Immer noch nicht unseres. Was zieht man wohl am besten an für Spione, Darling?, hätte ihre Mutter in so einem Fall gesagt. Wütend auf sich selbst, dass sich ihr die Frage überhaupt stellt, hat Gail ihre Bürokleider gegen einen Rock und eine hochgeschlossene Bluse vertauscht. Und vernünftige Schuhe, nichts, was das Blut in Wallung brächte – gut, das von Luke schon, aber wie hätte sie das ahnen sollen?
»Vielleicht steckt er im Stau«, schlägt sie vor und erntet wieder Schweigen, diesmal zu Recht. »Also, noch mal von vorn. Du hast den Brief einem Adam gegeben. Und ein Adam hat ihn in Empfang genommen. Sonst hätte er sich ja im Zweifelsfall nicht bei dir gemeldet.« Sie sucht Streit, und sie weiß es. Und er weiß es auch. »Wie viele Seiten hat es? Unser Geheimdokument? Dein Geheimdokument.«
»Achtundzwanzig«, erwidert er.
»Handschriftlich oder getippt?«
»Handschriftlich.«
»Wieso nicht getippt?«
»Weil ich zu dem Schluss gelangt bin, dass es handschriftlich sicherer ist.«
»Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch keinen Rat eingeholt. Dima und Tamara waren der Meinung, dass jedes Wort von ihnen abgehört wird, also schien es mir richtig, ihre Ängste zu respektieren und nichts in dieser Richtung zu unternehmen – nichts Elektronisches. Nichts Abfangbares.«
»War das nicht etwas paranoid?«
»Doch, bestimmt. Wir sind beide paranoid. Genau wie Dima und Tamara. Wir sind alle paranoid.«
»Dann geben wir es doch wenigstens zu! Seien wir gemeinsam paranoid!«
Keine Antwort. Das dumme kleine Frauchen kann es immer noch nicht lassen:
»Willst du mir vielleicht erzählen, wie du überhaupt an Mr Adam geraten bist?«
»Jeder kann das. Das ist gar kein Problem heutzutage. Es geht sogar übers Internet.«
»Hast du es übers Internet gemacht?«
»Nein.«
»Weil du dem Internet nicht getraut hast?«
»Ja.«
»Traust du mir?«
»Natürlich.«
»Ich kriege tagtäglich die unglaublichsten Bekenntnisse zu hören. Das ist dir klar, oder?«
»Ja.«
»Und du kannst nun nicht gerade behaupten, ich würde unsere Freunde bei Essenseinladungen mit den Geheimnissen meiner Mandanten unterhalten, oder doch?«
»Nein.«
Neuer Anlauf:
»Dir ist auch klar, dass eine junge Rechtsanwältin ohne Festanstellung, die ständig um ihr nächstes Mandat zittern muss, eine berufsbedingte Abneigung gegen mysteriöse Aufträge hat, bei denen weder Prestige noch ein sonstiger Lohn winkt.«
»Niemand erteilt dir irgendwelche Aufträge, Gail. Niemand verlangt irgendetwas von dir, außer dass du erzählst.«
»Das nenne ich einen Auftrag.«
Noch ein falsches Taxi. Und noch ein Schweigen, ein ungutes.
»Na ja, wenigstens hat der alte Adam uns beide eingeladen«, sagt sie gewollt munter. »Ich dachte schon, du hättest mich völlig aus deinem Dokument rausretuschiert.«
Worauf Perry wieder zu Perry wird und der Dolch in ihrer Hand sich gegen sie kehrt, denn aus dem Blick, mit dem er sie ansieht, spricht so viel verwundete Liebe, dass sie mehr um Perry bangt als um sich selbst.
»Ich hab versucht, dich rauszuretuschieren, Gail. Ich hab so ziemlich alles getan, um dich rauszuretuschieren. Ich dachte, ich könnte verhindern, dass du da mit hineingezogen wirst. Keine Chance. Sie brauchen uns beide. Für den Anfang zumindest. Da war er – na ja – eisern.« Gezwungenes Lachen. »So wie du es bei einem Zeugen wärst. ›Wenn Sie beide zugegen waren, dann müssen logischerweise auch Sie beide kommen.‹ Es tut mir furchtbar leid.«
Und er sagte die Wahrheit. Sie wusste es. Der Tag, an dem Perry es lernte, Gefühle zu heucheln, war der Tag, an dem er aufhören würde, Perry zu sein.
Und ihr tat es genauso leid wie ihm. Mindestens. Sie lag in seinen Armen und versicherte ihm das, als unten auf der Straße ein schwarzes Taxi mit ausgeschaltetem Lämpchen vorfuhr, die letzten beiden Ziffern auf dem Nummernschild 7 und 3, und eine Männerstimme ihnen in nahezu waschechtem Cockney durch die Gegensprechanlage mitteilte, dass Ollie da sei, um zwei Fahrgäste für Adam abzuholen.
* * *
Und jetzt war sie wieder die Dumme. Ausgeschlossen, abgemeldet, außen vor.
Die brave kleine Gattin, die wartete, dass ihr Herr und Meister heimkam, und sich dazu bei einem weiteren mannsgroßen Glas Rioja Beistand holte.
Gut, diese ganze absurde Prozedur hatte von vornherein darauf abgezielt. Sie hätte dem gleich einen Riegel vorschieben sollen. Aber dasitzen und Däumchen drehen musste sie deshalb noch lange nicht.
Perry wusste nicht, dass sie heute Morgen, während er hier in der Wohnung demütig dem Ruf des alten Adam entgegengeharrt hatte, eifrig an ihrem Kanzleicomputer zugange gewesen war, ausnahmsweise nicht in Sachen Samson gegen Samson.
Dass sie damit gewartet hatte, bis sie ins Büro kam, statt ihren Laptop daheim zu benutzen – dass sie überhaupt gewartet hatte –, schien ihr noch immer unbegreiflich, wenn nicht nachgerade unverzeihlich. Sie schob es auf die allgemeine Verschwörungsstimmung, die Perry verbreitete.
Dass sie Dimas Visitenkarte mit dem Büttenrand noch hatte, war ein Kapitalverbrechen, da Perry ihr befohlen hatte, sie zu vernichten.
Dass sie ins Netz gegangen war – wo Dinge abgefangen werden konnten –, stellte sich nun als weiteres Kapitalverbrechen heraus. Aber da Perry sie vorab nicht von dieser speziellen Ausprägung seiner Paranoia in Kenntnis gesetzt hatte, konnte er sich darüber kaum beschweren.
Bei dem Arena Multi Global Trading Conglomerate in Nikosia, Zypern, handelte es sich, wie die Website ihr in ungelenkem Englisch mitteilte, um ein Beratungsunternehmen, das auf Hilfestellung für aktive Trader spezialisiert war. Seinen Hauptsitz hatte es in Moskau. Niederlassungen befanden sich in Toronto, Rom, Bern, Karatschi, Frankfurt, Budapest, Prag, Tel Aviv und Nikosia. Nicht jedoch auf Antigua. Und eine Bank in Form eines Messingschilds gab es dort auch nicht. Zumindest war keine aufgeführt.
»Arena Multi Global garantiert ihnen vertraulichkeit [beides kleingeschrieben] und breit gefächertes unternemerisches [ohne ›h‹] Knowhow [korrekt buchstabiert]. Wir bieten top [sic] Chancen und Privatbank. Bitte beachten: Diese Website wird derzeit neu gestaltet. Für nähere Informationen kontaktieren sie unser Zentralbüro in Moskau.«
Ted war ein amerikanischer Junggeselle, der Termingeschäfte für Morgan Stanley tätigte. Von ihrem Schreibtisch in der Kanzlei rief sie ihn an:
»Ah, die Frau meiner Träume!«
»Eine Firma, die sich Arena Multi Global Trading Conglomerate nennt. Kannst du für mich rausbringen, was für Dreck die am Stecken haben?«
Dreck? Wenn jemand einen Riecher für Dreck hatte, dann Ted. Zehn Minuten später rief er sie zurück.
»Diese Russenfreunde von dir …«
»Russen?«
»Die sind wie ich. Stinkreich und das Heißeste, was rumläuft.«
»Wie reich ist stinkreich?«
»Das weiß keiner, aber ich würde sagen, mega. Über fünfzig Tochtergesellschaften, alle mit Top-Handelsbilanzen. Willst du Geld waschen lassen, Gail?«
»Woher weißt du das?«
»Diese Russkis schieben sich die Gelder in so rasendem Tempo hin und her, dass keiner weiß, was wem für wie lang gehört. Mehr hab ich nicht für dich, aber ich hab mit Blut dafür bezahlt. Liebst du mich jetzt auf immer und ewig?«
»Ich überleg’s mir, Ted.«
Ihre nächste Anlaufstelle war der Buchhalter der Kanzlei, Ernie, ein höchst findiger Mitsechziger. Sie wartete bis zur Mittagspause, als die Luft vergleichsweise rein war.
»Ernie. Eine Bitte. Es soll eine ganz üble Chatseite geben, auf der Sie sich rumtreiben, um die Firmen unserer verehrten Mandanten unter die Lupe zu nehmen. Ich bin entsetzt … aber wenn Sie vielleicht kurz was für mich nachsehen könnten?«
Dreißig Minuten später legte Ernie ihr einen zensierten Ausdruck despektierlicher Kommentare zum Thema Arena Multi Global Trading Conglomerate vor:
Überreißt irgendeine von euch Luschen wer diesen Sauhaufen managt? Die wechseln ihre MDs wie die Hemden. P. BROSNAN
Lest, goutiert & verinnerlicht die goldenen Worte des Maynard Keynes: Die Märkte können länger irrational bleiben als wir solvent. Selber Lusche. R. CROW
Was ist mit der verf***ten MG-Website? Die hängt. B. PITT
Website hängt aber Business brummt. Fett schwimmt oben. Rette seinen Arsch wer kann! M. MUNROE
Aber die haben mich echt neugierig gemacht. Gehen erst zur Sache als ob sie affenscharf auf mich sind, dann lassen sie mich aufgegeilt & hechelnd sitzen. P. B.
Hey Jungs, hört euch das an. Hier heißt es, MGTC hätte ein Büro in Toronto eröffnet. R. C.
Büro? Red kein Sch**ß. Verf***ter russischer Nachtclub ist das Mann. Poledance, Stolly und Borscht. M. M.
Hey Luschen, ich noch mal. Ist das Büro, das die in Toronto aufgemacht haben, dasselbe das sie in Äquatorial-Guinea geschlossen haben? Wenn, dann alle Mann in Deckung. Jetzt! R. C.
Arena Multi f***ing Global hat genau null Einträge bei Google. NULL! Dieser Sch**ßladen ist ein dermaßener Dilettantenverein, ich krieg das Kotzen! P. B.
Glaubt ihr an ein Leben nach dem Tod? Fangt besser damit an. Ihr latscht nämlich auf die Fetteste Bananenschalski im ganzen Geldwaschbetrieb. Und das ist amtlich. M. M.
Die waren so was von heiß auf mich. Und jetzt das. P. B.
Lass die Finger davon. Lass sie so was von weg. R. C.
* * *
Sie ist auf Antigua, dort angespült von einem neuerlichen Schwall Rioja aus der Küche.
Sie lauscht dem Pianisten mit dem fliederfarbenen Schlips, der einem ältlichen amerikanischen Paar in Bermudashorts, das einsam auf der Tanzfläche seine Kreise dreht, Simon & Garfunkel vorgurrt.
Sie ignoriert die Blicke gutaussehender Kellner, die nichts Besseres zu tun haben, als sie in Gedanken auszuziehen. Sie hört, wie die siebzigjährige texanische Witwe mit den tausend Liftings Ambrose befiehlt, ihr einen Rotwein zu bringen, aber bloß keinen französischen!
Sie steht auf dem Tennisplatz und tauscht einen sittsamen ersten Händedruck mit einem kahlköpfigen Kampfstier, der sich Dima nennt. Sie sieht seine braunen Seehundaugen vor sich, das Nussknackerkinn, den steif hintübergelehnten Erich-von-Stroheim-Gang.
Sie sitzt in dem Souterrain in Bloomsbury, plötzlich nicht mehr Perrys Lebensgefährtin, sondern sein Übergepäck, Ballast auf seiner Reise. Sie ist in Klausur mit drei Menschen, die, dank unserem Dokument und all dem, was Perry seither noch so hervorgesprudelt haben mag, lauter Dinge wissen, die sie nicht weiß.
Nachts um halb eins, und sie hält die Stellung im Wohnzimmer ihrer begehrten Maisonettewohnung in Primrose Hill, allein, auf dem Schoß die Akte Samson gegen Samson, neben sich ein leeres Weinglas.
Mit einem Ruck steht sie auf – ups! – und klettert die Wendeltreppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf, macht das Bett, folgt der Spur von Schmutzwäsche, die Perry über den Boden verstreut hat, ins Bad und stopft alles in den Wäschepuff. Fünf Tage hatten wir jetzt keinen Sex mehr. Steuern wir einen Rekord an?
Sie kehrt nach unten zurück, immer schön eine Stufe nach der anderen, die Hand am Geländer. Sie steht wieder am Fenster und starrt hinab auf die Straße, betet, dass ein schwarzes Taxi mit den Endziffern 7 und 3 ihr endlich ihren Mann heimbringt. Sie holpert in dem Minivan mit den getönten Scheiben durch die Nacht, Schenkel an Schenkel mit Perry; die Geburtstagsfeier in Three Chimneys ist zu Ende, und der milchgesichtige Kurzhaargorilla mit dem goldenen Kettenarmband fährt sie zurück ins Hotel.
»War schön, heut Abend, Gail?«
Achtung, Achtung, hier spricht Ihr Chauffeur. Bisher hat der Milchbubi durch nichts zu erkennen gegeben, dass er Englisch kann. Als Perry ihn auf dem Tennisplatz angegangen ist, schien er kein Wort zu verstehen. Woher also dieser Sinneswandel?, fragt sie sich, so wachsam wie nie zuvor in ihrem Leben.
»Phantastisch, danke«, bestätigt sie im Tonfall ihres Vaters, umso lebhafter, als Perry taub geworden zu sein scheint. »Einfach wunderbar. Das sind ja zwei dermaßene Prachtjungen.«
»Heiß ich Niki, okay?«
»Okay. Sehr gut. Hallo, Niki«, sagt Gail. »Wo kommen Sie her?«
»Perm, Russland. Guter Platz. Perry? War auch schön heut Abend?«
Gail will Perry fast schon anstoßen, da erwacht er von selber zum Leben. »Großartig, danke, Niki. Ausgezeichnetes Essen. Ganz reizende Leute. Hervorragend. Der beste Abend unseres Urlaubs.«
Nicht schlecht fürs erste Mal, denkt Gail.
»Wann sind Sie gekommen nach Three Chimneys?«, will Niki wissen.
»Wir wären beinahe überhaupt nicht hingekommen, Niki«, ruft Gail und kichert, um Perrys Zögern zu übertünchen. »Stimmt’s, Perry? Wir haben den Naturpfad genommen und mussten uns durchs Unterholz hacken! Wo haben Sie so gut Englisch gelernt, Niki?«
»Boston, Massachusetts. Sie haben Messer?«
»Messer?«
»Zum Holzschlagen, Sie brauchen großes Messer.«
Diese toten Augen im Rückspiegel, was haben sie gesehen? Was sehen sie in diesem Moment?
»Wenn wir nur eins gehabt hätten, Niki«, lacht Gail, die immer noch als ihr Vater auftritt. »Nur laufen wir Engländer dummerweise nicht mit Messern herum.« Was für einen Blödsinn schwatze ich da zusammen? Egal. Weiterschwatzen. »Gut, manche natürlich schon, um ganz ehrlich zu sein, aber nicht Leute wie wir. Wir sind in der falschen Gesellschaftsschicht dafür. Sie haben ja vielleicht von unserem Klassensystem gehört? Also, in England trägt man nur ein Messer, wenn man untere Mittelschicht oder darunter ist.« Und zu neuerlichen Lachsalven umrunden sie den Kreisverkehr und biegen in die Hoteleinfahrt ein.
Zwischen den angestrahlten Hibiskushecken tappen sie auf ihr Häuschen zu, benommen, zwei Fremde. Perry schließt die Tür hinter sich, macht aber kein Licht. In der Dunkelheit stehen sie einander gegenüber, das Bett zwischen ihnen. Eine Ewigkeit bleibt auch der Ton ausgeschaltet. Was nicht heißt, dass Perry nicht genauestens weiß, was er sagen will:
»Ich brauche Stift und Papier. Und du auch.« Seine Kommandostimme, sonst nur für saumselige Studenten reserviert, die ihre wöchentliche Hausarbeit verschusselt haben, mutmaßt Gail.
Er zieht die Vorhänge vor. Er knipst das kümmerliche Leselämpchen auf meinem Nachttisch an, so dass das restliche Zimmer im Dunkeln bleibt.
Er ruckt meine Nachttischschublade auf und zerrt einen gelben Schreibblock heraus: auch meiner. Beschrieben mit meinen brillanten Überlegungen zu Samson gegen Samson: mein erster halbwegs großer Fall, mein heißersehntes Sprungbrett zu Ruhm und Reichtum.
Oder doch nicht?
Er reißt die Seiten, auf denen ich meine Perlen juristischer Weisheit verewigt habe, einfach heraus und stopft sie zurück in die Schublade, trennt das, was von meinem gelben Block übrig ist, in zwei Hälften und wirft mir eine hin.
»Ich gehe da rein« – er zeigt auf das Bad. »Du bleibst hier. Setz dich an den Schreibtisch und schreib alles auf, woran du dich erinnerst. Alles, was passiert ist. Und ich mache es genauso. Einverstanden?«
»Warum können wir nicht beide hier drin sein? Herrgott noch mal, Perry. Ich hab eine Scheißangst. Du nicht?«
Auch abgesehen von einem verzeihlichen Verlangen nach seiner Nähe ist ihre Frage nur vernünftig. Neben einem vielbenutzten Bett von der Größe eines Rugbyfelds enthält ihr Häuschen noch ein Schreibpult, zwei Sessel und einen Tisch. Hinter Perry liegt sein Tête-à-Tête mit Dima, aber was hatte Gail außer dem Exil mit der übergeschnappten Tamara und ihren bärtigen Heiligen?
»Separate Zeugen haben Anspruch auf separate Aussagen«, verfügt Perry, schon halb im Badezimmer.
»Perry! Halt! Komm zurück! Bleib da! Ich bin hier die Juristin, nicht du, verdammt. Was hat Dima dir erzählt?«
Nichts, nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen. Es ist, als wäre eine Klappe zugefallen.
»Perry.«
»Was?«
»Verdammt noch mal. Ich bin’s. Gail. Kennst du mich nicht mehr? Also setz dich gefälligst hin und sag Tante Gail, was Dima dir erzählt hat, dass du hier plötzlich als Zombie herumschleichst. Na schön, dann setz dich nicht hin. Sag’s mir im Stehen. Geht morgen die Welt unter? Ist er ein Mädchen? Was zum Teufel läuft zwischen euch, das ich nicht wissen darf?«
In seinem Gesicht zuckt es. Unübersehbar. Deutlich genug zumindest, um sie hoffen zu lassen. Fehlanzeige.
»Ich kann nicht.«
»Was kannst du nicht?«
»Dich da mit hineinziehen.«
»Schwachsinn.«
Noch ein Zucken. Auch nicht ergiebiger als das erste.
»Hörst du mir zu, Gail?«
Wonach sieht’s denn aus? Pirouettendrehen?
»Du bist eine gute Anwältin, und du hast eine glänzende Laufbahn vor dir.«
»Danke.«
»Und in zwei Wochen wird dein großer Fall verhandelt. Kann man das so sagen?«
Ja, Perry, so kann man das sagen. Ich habe eine glänzende Laufbahn vor mir, es sei denn, wir setzen vorher noch schnell sechs Kinder in die Welt, und der Fall Samson gegen Samson hat in fünfzehn Tagen Termin, aber so wie ich unseren Chef kenne, werde ich nicht ein Wort dazwischenkriegen.
»Du bist der Jungstar einer renommierten Anwaltskanzlei. Du arbeitest bis zum Umfallen. Das hast du mir oft genug gesagt.«
Ja, auch das stimmt, ich bin hoffnungslos überarbeitet, was für eine Nachwuchsanwältin ein Glücksfall ist, wir haben gerade den mit Abstand schlimmsten Abend unseres Lebens hinter uns, und was zum Henker versuchst du mir hier durch die Blume mitzuteilen? Perry, du kannst das nicht machen! Komm zurück! Aber das alles denkt sie nur. Sie ist fürs Erste mundtot.
»Wir ziehen eine ganz klare Trennlinie. Was Dima mir gesagt hat, erfährt niemand außer mir. Was Tamara dir gesagt hat, weißt nur du. Daran halten wir uns. Die Aussagen unserer Mandanten unterliegen strikter Geheimhaltungspflicht.«
Sie findet die Sprache wieder. »Willst du mir sagen, dass Dima jetzt dein Mandant ist? Du bist genauso irr wie sie.«
»Ich gebrauche eine juristische Metapher. Ein Bild aus deiner Welt, nicht aus meiner. Dima ist mein Mandant und Tamara deiner. So gesehen.«
»Tamara hat nichts gesagt, Perry. Nicht ein einziges verdammtes Wort. Für sie sind noch die Vögel, die hier durch die Luft schwirren, verdrahtet. Gelegentlich hat sie es für angezeigt gehalten, einem ihrer bärtigen Schutzpatrone ein russisches Gebet darzubringen, was jedes Mal hieß, dass ich mich neben sie knien musste. Ich bin keine anglikanische Atheistin mehr, ich bin jetzt eine russisch-orthodoxe Atheistin. Sonst ist ums Verrecken nichts vorgefallen zwischen Tamara und mir, was ich dir nicht bis ins Letzte zu enthüllen bereit wäre, und ich hab es schon gerade enthüllt. Meine Hauptangst war, dass sie mir die Hand abbeißt. Das hat sie nicht. Meine Hände sind beide noch dran. So, und jetzt du.«
»Tut mir leid, Gail. Es geht nicht.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Ich sage nicht mehr. Ich lasse es nicht zu, dass du noch weiter in die Sache verwickelt wirst, als du es schon bist. Ich will, dass du unberührt bleibst. Ungefährdet.«
»Das willst du.«
»Darauf bestehe ich. Du führst mich nicht in Versuchung.«
In Versuchung? Spricht da noch Perry? Oder eher der Brandredner aus Huddersfield, nach dem er benannt ist?
»Es ist mir todernst damit«, fügt er hinzu, falls sie noch irgendwelche Zweifel hat.
Und nun verwandelt auch dieser Perry sich wundersam. Aus ihrem geliebten, so leidenschaftlich ringenden Jekyll kommt ein ungleich unappetitlicherer Mr Hyde vom britischen Geheimdienst zum Vorschein.
»Du hast auch mit Natascha geredet, habe ich bemerkt. Ziemlich lange sogar.«
»Ja.«
»Allein.«
»Nicht direkt. Wir hatten zwei kleine Mädchen bei uns, die allerdings schliefen.«
»Also effektiv allein.«
»Ist das ein Verbrechen?«
»Sie ist eine Quelle.«
»Sie ist was?«
»Hat sie mit dir über ihren Vater geredet?«
»Wie bitte?«
»Ich habe gefragt, ob sie mit dir über ihren Vater geredet hat.«
»Das sag ich nicht.«
»Ich meine es ernst, Gail.«
»Ich auch. Todernst. Ich sag’s dir nicht. Entweder du kümmerst dich um deinen eigenen Dreck, oder du erzählst mir, was Dima dir gesagt hat.«
»Hat sie mit dir darüber gesprochen, womit Dima sein Geld verdient? Mit wem er sich abgibt, wem er vertraut, vor wem sie alle solche Angst haben? Wenn du irgendetwas in dieser Richtung gehört hast, solltest du es dazuschreiben. Es könnte von entscheidender Bedeutung sein.«
Womit er sich ins Bad zurückzieht und – ewige Schande über ihn! – den Riegel vorschiebt.
Eine halbe Stunde sitzt Gail zusammengekauert auf dem Balkon, die Tagesdecke um die Schultern gerafft, zu kaputt, um sich auszuziehen. Die Rumflasche fällt ihr ein, Kater garantiert, und sie schenkt sich trotzig einen Spritzer daraus ein und döst. Als sie aufwacht, hat die Badezimmertür sich geöffnet, und im Türrahmen steht gebückt Superagent Perry, den Kopf eingezogen, um sich ihn nicht am Türstock anzuschlagen, unschlüssig, ob er herauskommen soll oder nicht. Ihren halben Schreibblock hält er mit beiden Händen hinterm Rücken versteckt. Eine Ecke davon schaut hervor, und sie ist eng mit seiner Schrift bekritzelt.
»Trink einen Schluck«, lädt sie ihn ein und zeigt auf die Rumflasche.
Er überhört es.
»Es tut mir leid«, sagt er. Dann räuspert er sich und sagt es noch einmal: »Es tut mir furchtbar leid, wirklich, Gail.«
Worauf sie Stolz und Vernunft gleichermaßen in den Wind schlägt, aufspringt, zu ihm läuft und ihn umarmt. Aus Sicherheitsgründen hält er die Arme hinterm Rücken verschränkt. Sie hat Perry noch nie in Angst erlebt, aber jetzt hat er Angst. Nicht um sich selbst. Um sie.
* * *
Mit verschwommenem Blick schaut sie auf ihre Uhr. Halb drei. Sie steht auf, will sich noch einen Rioja holen, verwirft die Idee, setzt sich in Perrys Lieblingssessel und merkt plötzlich, dass Natascha zu ihr unter die Decke geschlüpft ist.
»Und was macht er, dein Max?«, fragt Gail sie.
»Er liebt mich ganz und gar«, erwidert Natascha. »Auch körperlich.«
»Ich meinte, davon mal abgesehen, womit verdient er sein Geld?«, erklärt Gail und hütet sich zu lächeln.
Es geht auf Mitternacht zu. Um dem kalten Wind zu entkommen und zwei todmüde kleine Waisenmädchen bei Laune zu halten, hat Gail im Schutz der hohen Gartenmauer aus Decken und Kissen ein Zelt gebaut. Unangekündigt hat sich auch Natascha eingefunden, buchlos diesmal. Als Erstes erkennt Gail durch einen Spalt in den Decken ihre Füße in den griechischen Sandalen, die auf ihren Auftritt warten. Mehrere Minuten verharren sie so. Lauscht sie? Nimmt sie ihren Mut zusammen? Wofür? Will sie einen Überfall vortäuschen, als Spaß für die Kinder? Da Gail bisher noch kein Wort mit Natascha gewechselt hat, kann sie über ihre möglichen Beweggründe nur mutmaßen.
Die Decke wird zurückgeschlagen, vorsichtig schiebt sich eine griechische Sandale herein, gefolgt von einem Knie und Nataschas zur Seite gewandtem Kopf mit dem schwarzen Haarvorhang. Dann die zweite Sandale und der Rest von ihr. Die kleinen Mädchen schlafen tief und rühren sich nicht. Wieder vergehen Minuten, während Gail und Natascha Schulter an Schulter daliegen und durch die Öffnung in der Zeltwand stumm zu den Raketensalven hinausschauen, die Niki und seine Waffenbrüder mit beunruhigender Effizienz abfeuern. Natascha zittert. Gail zieht eine Decke über sie beide.
»Es hat den Anschein, als wäre ich kürzlich schwanger«, bemerkt Natascha in gepflegtem Jane-Austen-Englisch, nicht zu Gail, sondern zu einer Garbe grellbunter Pfauenfedern, die am Nachthimmel herabrieseln.
Wenn du das Glück hast, dass dich ein junger Mensch ins Vertrauen zieht: nie ihn direkt ansehen, immer nur einen gemeinsamen Punkt in der Ferne – Gail Perkins, ipsissima verba. In der Zeit vor ihrem Jurastudium hat sie an einer Schule für lernbehinderte Kinder unterrichtet, und dies gehört zu den Dingen, die sie dort gelernt hat. Und wenn einem eine bildschöne Sechzehnjährige aus heiterem Himmel gesteht, dass sie schwanger zu sein glaubt, wird eine solche Lektion doppelt wichtig.
* * *
»Gegenwärtig ist Max Skilehrer«, beantwortet Natascha Gails beiläufige Frage nach dem möglichen Vater. »Aber das ist vorübergehend. Er wird Architekt sein und Häuser für arme Leute ohne Geld bauen. Max ist sehr kreativ, außerdem sehr einfühlsam.«
Sie sagt es ohne jede ironische Distanz. Dazu ist wahre Liebe zu ernst.
»Und seine Eltern, was machen die?«, fragt Gail.
»Sie haben Hotel. Es ist für Touristen. Es ist minderwertig, aber Max ist in materiellen Dingen ganz und gar philosophisch.«
»Ein Hotel in den Bergen?«
»In Kandersteg. Das ist ein Dorf in den Bergen, sehr touristisch.«
Gail sagt, dass sie selbst nie in Kandersteg war, aber dass Perry an einem Skirennen dort teilgenommen hat.
»Die Mutter von Max ist ganz und gar ohne Kultur, aber sie ist sensibel und spirituell wie ihr Sohn. Der Vater ist ganz und gar negativ. Ein Idiot.«
Schön auf neutralem Boden bleiben. »Und arbeitet Max für die offizielle Skischule«, fragt Gail weiter, »oder privat?«
»Max ist ganz und gar privat. Er fährt nur mit Menschen Ski, die er achtet. Am liebsten abseits der Piste, das ist ästhetisch. Und auf Gletschern.«
In einer abgelegenen Hütte hoch über Kandersteg, so Natascha, war es denn auch, dass die Leidenschaft sie beide übermannte:
»Ich war eine Jungfrau. Auch sehr unwissend. Max ist ganz und gar rücksichtsvoll. Es liegt in seiner Natur, auf alle Menschen Rücksicht zu nehmen. Selbst in der Leidenschaft ist er ganz und gar rücksichtsvoll.«
Gail, strikt um Unverfänglichkeit bemüht, erkundigt sich, wie weit Natascha in der Schule ist, welche Fächer sie am liebsten mag und in welchen sie Abitur machen will. Seit sie bei Dima und Tamara lebt, erklärt Natascha, besucht sie eine Klosterschule im Kanton Fribourg und kommt an den Wochenenden heim.
»Bedauerlicherweise glaube ich nicht an Gott, doch das ist unwesentlich. Im Leben ist es häufig nötig, religiöse Überzeugung zu heucheln. Am liebsten mag ich Kunst. Max ist ebenfalls sehr künstlerisch. Vielleicht studieren wir beide zusammen Kunst in St. Petersburg oder in Cambridge. Es wird sich entscheiden.«
»Ist er katholisch?«
»In der Ausübung unterwirft sich Max der Familienreligion. Das kommt, weil er pflichtbewusst ist. Aber in seiner Seele glaubt er an alle Götter.«
Und im Bett, fragt Gail sich, aber nicht Natascha, unterwirft er sich da auch der Familienreligion?
»Und wer weiß noch alles von dir und Max?«, sagt sie in dem gleichen gemächlich-leichtherzigen Ton, den sie bisher durchgehalten hat. »Außer seinen Eltern natürlich. Oder wissen die es am Ende auch nicht?«
»Die Situation ist kompliziert. Max hat einen extrem starken Eid geschworen, dass er niemand etwas von unserer Liebe verraten wird. Auf dies habe ich bestanden.«
»Nicht mal seiner Mutter?«
»Auf die Mutter von Max ist nicht Verlass. Sie ist gefangen in bürgerlichen Wertvorstellungen, außerdem auch geschwätzig. Wenn es praktisch für sie ist, wird sie es ihrem Mann sagen, dazu vielen anderen bürgerlichen Personen.«
»Wäre das denn so schlimm?«
»Wenn Dima erfährt, dass Max mein Geliebter ist, kann es sein, dass Dima ihn tötet. Es liegt in Dimas Natur, gewaltbereit zu sein.«
»Und Tamara?«
»Tamara ist nicht meine Mutter«, faucht sie mit einem Auflodern der väterlichen Gewaltbereitschaft.
»Was wollt ihr also tun, wenn du feststellst, dass du tatsächlich schwanger bist?«, fragt Gail leichthin, während ein Schauer von Funkengarben die Landschaft erleuchtet.
»Im Augenblick der Gewissheit werden wir sogleich in die Fremde fliehen, vielleicht nach Finnland. Max regelt alles. Gegenwärtig ist es nicht praktisch, weil er auch Bergführer ist. Wir werden noch ein Monat warten. Vielleicht können wir in Helsinki studieren. Vielleicht auch bringen wir uns um. Man wird sehen.«
Gail hat die schwerwiegendste Frage bis zuletzt aufgehoben, vielleicht weil ihre bürgerlichen Wertvorstellungen sie vor der Antwort zurückscheuen lassen:
»Und dein Max ist wie alt, Natascha?«
»Einunddreißig. Aber in seinem Herzen ist er Kind.«
So wie du auch, Natascha. Ist das ein romantisches Märchen, das du hier unter den karibischen Sternen zusammenspinnst, eine Kleinmädchen-Phantasie von dem Traummann, dem du eines Tages begegnen wirst? Oder bekommst du wirklich ein Kind von einem miesen kleinen, einunddreißigjährigen Skiheini, der vor seiner Mama kuscht? Denn dann bist du bei mir an der richtigen Adresse.
Gail war ein wenig älter gewesen, nicht viel. Der Kindsvater war in ihrem Fall kein Skiheini, sondern ein Schulabbrecher ohne einen Penny in der Tasche, dafür aber mit Migrationshintergrund und geschiedenen Eltern in Südafrika. Gails Mutter hatte sich drei Jahre zuvor auf Nimmerwiedersehen aus dem Schoß der Familie verabschiedet. Gails Säufer-Vater, weit entfernt davon, irgendjemandem Gewalt anzudrohen, starb im Krankenhaus an Leberversagen. Mit Geld, das ihr Freundinnen liehen, hat Gail das Kind dilettantisch abtreiben lassen und dem Jungen nie ein Wort davon gesagt.
Und bis zum heutigen Tag hat es sich auch nie ergeben, dass sie es Perry erzählt. So wie es momentan zwischen ihnen steht, zweifelt sie, ob es noch dazu kommt.
* * *
Aus der ums Haar in Ollies Taxi verbliebenen Handtasche fischt Gail ihr Mobiltelefon und überprüft es auf neue Nachrichten. Nichts. Sie scrollt zurück. Natascha simst in theatralischen Großbuchstaben. Vier Nachrichten hat sie geschickt, über eine Woche verteilt:
ICH HABE MEINEN VATER VERRATEN ICH BIN EINE SCHANDE
GESTERN WIR HABEN MISCHA UND OLGA BEGRABEN IN SCHÖNER KIRCHE VIELLEICHT BIN ICH BALD BEI IHNEN
BITTE SAGE MIR WANN IST ES NORMAL WENN ICH MORGENS BRECHE
– gefolgt von Gails Antwort, die sie unter gesendeten Nachrichten gespeichert hat:
Im Prinzip in den ersten 3 Monaten, aber wenn du dich krank fühlst, geh SOFORT zum Arzt, xxxx Gail
Wogegen Natascha sich gebührend verwahrt:
BITTE SAG NICHT ICH BIN KRANK. LIEBE IST NICHT KRANKHEIT. NATASCHA
* * *
Wenn sie schwanger ist, braucht sie mich.
Wenn sie doch nicht schwanger ist, braucht sie mich auch.
Und wenn sie eine neurotische Halbwüchsige mit Suizidphantasien ist, braucht sie mich erst recht.
Ich bin ihre Anwältin und ihre Vertraute.
Ich bin alles, was sie hat.
* * *
Perrys Trennlinie ist gezogen.
Sie ist nicht verhandelbar, unter keinen Bedingungen.
Nicht einmal Tennis hilft mehr. Das indische Paar ist abgereist. Die Einzel sind zu geladen. Mark ist der Feind.
Nur im Bett können sie das Trennende zeitweise vergessen. Aber danach ist es prompt wieder da.
Abends nach dem Essen sitzen sie auf ihrem Balkon und sehen hinüber zu dem Bogen aus weißen Sicherheitslampen, der das Ende der Halbinsel überspannt. Gail, weil sie sich einen Blick auf die Mädchen erhofft – doch auf wen hofft Perry?
Auf Dima, seinen Jay Gatsby? Dima, seinen Kurtz? Oder einen anderen versehrten Helden seines geliebten Joseph Conrad?
Das Gefühl, belauscht und beobachtet zu werden, verlässt sie zu keiner Tages- oder Nachtzeit. Sogar wenn Perry sein selbstauferlegtes Schweigen brechen wollte: Die Angst vor dem Abgehörtwerden würde ihm den Mund verschließen.
An ihrem vorletzten Tag steht er um sechs Uhr auf und geht laufen. Gail schläft aus, aber als sie sich schließlich zum Captain’s Deck aufmacht, um in Gottes Namen alleine zu frühstücken, berät dort Perry mit Ambrose über Mittel und Wege, den Abreisetermin vorzuziehen. Ambrose bedauert zutiefst, dass ihre Flüge nicht umbuchbar sind.
»Ja, wenn die Herrschaften gestern losgewollt hätten! Da hätten Sie gleich zusammen mit Mr Dima und seiner Familie fahren können. Bloß dass die alle erster Klasse geflogen sind, und Sie sitzen in der guten alten Holzklasse. Nein, da werden Sie’s wohl noch einen Tag mehr auf unsrer Insel aushalten müssen.«
Sie gaben sich redliche Mühe. Sie gingen in die Stadt und besichtigten alles, was es nur zu besichtigen gab. Perry dozierte über die Gräuel der Sklaverei. Sie fuhren an einen Strand auf der anderen Seite der Insel und schnorchelten, zwei Briten unter vielen, die mit so viel Sonne überfordert waren.
Erst beim Abendessen auf dem Captain’s Deck platzte Gail schließlich der Kragen. Als hätte er über ihre Gespräche in der Hütte nie ein Embargo verhängt, wagte es Perry allen Ernstes, sie zu fragen, ob sie »rein zufällig« jemanden aus dem »Geheimdienst-Metier« kenne.
»Wieso, für den arbeite ich doch«, gab sie zurück. »Hast du das immer noch nicht geschnallt?« Ihr Sarkasmus verpuffte wirkungslos.
»Ich dachte nur, vielleicht hat jemand bei dir in der Kanzlei einen Draht dahin«, sagte Perry lahm.
»Ach. Und wie kommst du darauf?« Gail spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg.
»Na ja« – betont unschuldiges Achselzucken –, »ich dachte eben, bei so vielen Prozessen und öffentlichen Anfragen wegen dieser ganzen Thematik – Überstellung von Terrorverdächtigen, Folter, alles solches Zeug – müssten die Spione doch eigentlich alle juristische Schützenhilfe brauchen, die sie kriegen können.«
Das war zu viel. Mit einem heftigen »Du bist so ein Arschloch!« rannte sie den Weg zu ihrem Häuschen hinunter, wo sie in wildes Schluchzen ausbrach.
Und ja, es tat ihr fürchterlich leid. Und ihm tat es auch fürchterlich leid. Er konnte es nicht fassen. Beide konnten sie es nicht fassen. Es ist ganz allein meine Schuld. Nein, meine. Fahren wir heim nach England und lassen diesen ganze Schlamassel hinter uns. Kurzzeitig wieder vereint, klammern sie sich aneinander wie Ertrinkende und lieben sich, als könnte das sie retten.
* * *
Sie steht wieder an dem schmalen Fenster und stiert böse auf die Straße hinunter. Kein einziges Scheißtaxi. Nicht mal ein falsches.
»Saubande«, sagt sie laut mit der Stimme ihres Vaters. Und stumm – zu der Saubande oder auch zu sich selbst:
Was zum Teufel macht ihr mit ihm?
Was zum Teufel wollt ihr von ihm?
Wozu sagt er nein, aber irgendwie doch ja, während er vor euch seinen moralischen Eiertanz vollführt?
Wie würde es euch gefallen, wenn Dima sein Geständnis mir abgelegt hätte und nicht Perry? Wenn er sich statt eines Beichtvaters eine Beichtmutter gesucht hätte?
Und wie fände Perry es wohl, hier zu warten wie bestellt und nicht abgeholt, bis ich mit einer neuen Ladung Geheimnisse ankomme, in die ich ihn zu seinem eigenen Besten leider, leider nicht einweihen darf?
* * *
Gute Frage.
Jemand hat ihr das Telefon in die Hand gedrückt und ihr befohlen, mit ihm zu sprechen. Nein, Unsinn. Sie ist allein. Und es ist Perry in Echtzeit, kein Flashback, und sie steht nach wie vor mit der Hand am Fensterrahmen abgestützt und starrt hinunter auf die Straße.
»Hör zu. Tut mir leid, dass es so spät ist und alles.«
Alles?
»Hector will uns beide morgen früh um neun sprechen.«
»Hector?«
»Ja.«
Ganz ruhig. Wenn um dich der Wahnsinn tobt, halt dich an die Fakten. »Das geht nicht. Ich weiß, es ist Sonntag, aber ich muss ins Büro. Samson gegen Samson schläft nie.«
»Dann ruf an und sag, dass du krank bist. Es ist wichtig, Gail. Noch wichtiger als Samson gegen Samson. Im Ernst.«
»Sagt das Hector?«
»Wir beide sagen das, Gail.«