27
Der rote Mercedes fuhr davon.
»Meine Gebete sind erhört worden«, sagte Milo. »Der Scheißkerl hat einen großen Fehler gemacht.«
»Nämlich?«
»Sich die Pferde zu holen.«
Wir kehrten zu der Wohnung der Schwestern zurück, wo er nach Hinweisen auf ihren Verbleib suchte. Was er fand, hätte eine mittlere Drogenrazzia oder ein Einschalten des Gesundheitsamtes gerechtfertigt. Doch ihre Spuren hatten sie verwischt.
Ich fuhr zurück in die Stadt, während Milo Reed anrief, der damit beschäftigt war, Flora Sullivan zu observieren. Milo trug dem jungen Detective auf, ein Auge auf das Wohnhaus der Corey-Schwestern zu haben.
»Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sie auftauchen, aber man weiß nie. Wichtiger ist es, ihren Vater zu finden, denn er ist derjenige, vor dem sie davonlaufen.« Er beschrieb die Veränderungen in Richard Coreys Verhalten.
»Er hat ihre Pferde getötet?«, sagte Reed. »Das ist ja mies. Was denkt der Doc darüber?«
»Der Mann hatte lange seinen Zorn an der Kandare, doch jetzt gehen die Pferde mit ihm durch«, erwiderte ich.
»Elegant formuliert«, fand Reed.
Milo grinste. »Ja, das kann er, der Doc.«
»Die These ist also, dass ihn die Kandare so nervös gemacht hat, dass er sich an anderen Frauen abreagiert hat?«
»Das trifft den Kern der Sache ziemlich gut, Moses. Wo ist Sean?«
»Der observiert das Gebäude, Lieutenant, genau wie ich. Was glauben Sie, warum Corey ausgerechnet jetzt ausflippt?«
»Wahrscheinlich denkt er, er ist außer Gefahr und kann machen, was er will.«
»Nun ja«, erwiderte Reed. »Das werden wir ja sehen.«
Anruf Nummer zwei ging an die Kollegen in Oxnard, wo Milo nach längeren Irrwegen mit Detective Francisco Gonzales von der Mordkommission verbunden wurde und um Unterstützung im Fall Richard Corey bat. Gonzales erklärte gut gelaunt mit tiefer Stimme, dass er gerade eine Dreißig-Stunden-Dauerschicht hinter sich habe, in der er einen Fall von Bandenschießerei mit Hausfriedensbruch und mehreren Opfern abgeschlossen habe.
»Ich habe meine Geständnisse, aber jetzt brauche ich Zahnstocher für meine Augendeckel.«
»Glückwunsch«, sagte Milo. »Hören Sie, wenn es zu viele Umstände macht, können Sie mir gern jemand anderen nennen, mit dem ich sprechen kann.«
»Nein«, erwiderte Gonzales. »Ich hatte es hier mit lauter Dumpfbacken zu tun, Ihr Fall dagegen klingt spannend. Geben Sie mir ein bisschen Zeit für ein Nickerchen, dann dürfen Sie mich zum Abendessen einladen.«
»Wann und wo, Detective?«
»Nennen Sie mich Frank. Geben Sie mir Ihre Nummer, ich rufe Sie an.«
Dreieinhalb Stunden später saßen Milo und ich an einem Ecktisch in einem Weinlokal in Oxnard, in einem teuren Industriepark mit der Sorte Firmen, die riesige Gebäude brauchen, aber keine Werbung.
Dieses Gebäude mit seiner ocker-rostroten Fassade war hübscher als die benachbarten; Schilder erklärten, was es zu wissen gab. Die Probierstube im Eingangsbereich war voll mit selig dreinblickenden Weintestern. Ich war vor Jahren schon einmal hier gewesen, um mich mit der jungen Witwe eines Bösewichts zu treffen. Doch ich hatte das Lokal nicht vorgeschlagen, sondern Gonzales.
Milo und ich hatten kaum Platz genommen, da erschien er; eins achtzig groß, Hühnerbrust und Trommelbauch, gegelte schwarze Haare und grauer Mexikanerschnurrbart. Er trug ein weißes Polohemd, schwarze Hosen und schwarze Segeltuchschuhe mit weißer Sohle. Ein Schwergewicht, wenn auch kompakt. Er bewegte sich behände und geschmeidig, ein Baumstumpf auf Rollen in einer Schultheateraufführung.
Wir begrüßten uns per Handschlag. Gonzales hatte einen festen Händedruck und einen klaren Blick, und der einzige Hinweis auf Übermüdung waren stoppelige Flecken am Hals, die er bei der Rasur übersehen hatte.
Er dippte Brot in Olivenöl, kaute, schluckte und wischte sich den Schnurrbart ab.
Eine Kellnerin kam mit Speisekarten, ein persönliches Lächeln für Gonzales im Gesicht. Die Bestellung war schnell und simpel: drei Mal vierhundertfünfzig Gramm Rib-Eye-Steaks, à point gebraten, aus Vernunftgründen Salat statt Kartoffeln. Die Kellnerin sagte »Selbstverständlich«, als hätten wir vorbestellt.
Die Salate kamen im Handumdrehen, zusammen mit eingelegten Oliven, frittierten Zucchiniblüten und Stockfisch-Beignets aufs Haus. Frank Gonzales schien nicht überrascht.
»Kommen Sie regelmäßig hierher?«, fragte Milo.
»Eher mäßig als regelmäßig. Ich ernähre mich sonst leider überwiegend von Junkfood.«
»Kommt mir bekannt vor.«
Gonzales’ Haselnussaugen richteten sich voller Interesse auf mich. »Psychologe. Meine Tochter will das auch machen.«
Milo erklärte ihm in aller Kürze, was ich mit der Polizei zu tun hatte, und lieferte anschließend eine Schnellfassung der Morde. Selbst die verkürzte Version nahm geraume Zeit in Anspruch. Gonzales besaß die wichtigste Eigenschaft eines Detectives: Er konnte zuhören.
Als Milo fertig war, sagte er: »Sie halten diesen Corey also für eine Art Familienkiller à la John List? Einen dieser Geizkrägen, die ihre gesamte Familie ausrotten, um sich anschließend neu zu erfinden?« Die Frage war an mich gerichtet.
»Es gibt gewisse Ähnlichkeiten, doch die meisten Familienmörder beschränken sich auf eine finale Bluttat.«
»Ist dieser Typ hier berechnender?«
»Vielleicht hat er auch gemischte Motive, und er hat erst jetzt beschlossen, sich seine Töchter zu holen.«
»Inwiefern gemischt?«
»Seine Ex hat er aus finanziellen Gründen erledigt, doch weil er sie hasste, dauerte es eine Weile, bis er sich sicher genug fühlte, um auf die Töchter loszugehen.«
»Und die anderen Morde?«
»DiMargio – die mit den Tattoos und Piercings – hat er sich wahrscheinlich herangezogen, um seine Frau zu erschießen, und sie dann kaltgemacht, als sie ihren Zweck erfüllt hatte. Die Buchhalterin war möglicherweise die erste Kandidatin für diesen Job, hat sich aber geweigert.«
»Und die Obdachlose ging ihm einfach nur auf die Nerven, also vielmehr seinem Anwalt«, ergänzte Gonzales. »Ganz schön verzwickt.«
»Oh ja«, sagte Milo. »Fest steht zumindest, dass er offenbar ein Problem mit Frauen hat.«
»Wenn seine Frau wirklich mit allem geschlafen hat, was nicht bei drei auf dem Baum war – nachvollziehbar«, meinte Gonzales. »Vielleicht ist er aber auch nur paranoid.«
»Das würde ich gern herausfinden, Frank.«
»Wow … das ist wirklich spannend. Genau das Richtige für Sie, Doc.« An Milo gewandt fügte er hinzu: »Und was kann ich für Sie tun?«
»Ich weiß ja nicht, wie gut Sie besetzt sind, aber ich könnte jeden Mann gebrauchen, den Sie entbehren können, um Coreys Haus zu beobachten. Wir sind auf dem Weg hierher daran vorbeigefahren. Es steht kein Auto da, aber das könnte er auch in einer Garage stehen haben.«
»Mandalay Bay«, sagte Gonzales. »Mit Zugang auf beiden Seiten?«
»Nein, nur von der Straße aus. Es sei denn, man zählt die Terrasse im ersten Stock auch als Zugang.«
»Vielleicht ist er ja Tarzan. Ich kenne die Gegend. Da verläuft eine kleine Promenade entlang des Hafens. Haben Sie überprüft, ob er ein Boot hat?«
»Als wir bei ihm waren, lag jedenfalls keins an seinem Liegeplatz.«
»Das lässt sich ja leicht herausfinden. Was unsere Besetzung angeht, die ist wie immer mehr schlecht als recht. Ich werde mich bemühen, ein paar Mann für Sie abzuzweigen, aber es kann sein, dass Sie sich mit echten Grünschnäbeln begnügen müssen. Anfänger, die alles tun, um sich bei den Vorgesetzten einzuschmeicheln.«
»Geschenkter Gaul, Frank.«
»Das sagt meine Frau auch immer.«
Zwei Stunden später, es war längst Abend, bog ich auf den Parkplatz der Polizeistation von West Los Angeles ein. Als Milo seinen Gurt löste, fing sein Handy an, eine Chopin-Etüde zu spielen.
Aus dem Lautsprecher tönte Frank Gonzales’ volle Bassstimme. »Gleichfalls, Milo. Ich habe da was für mich ausgehandelt, von dem Sie auch profitieren werden. Offiziell bin ich bei der Arbeit, aber ich darf mit meinem Boot rausfahren und Coreys Haus vom Wasser aus beobachten. Das Department stellt mir ein Fernglas zur Verfügung. Sogar angeln darf ich, weil auch mein Chef der Meinung ist, dass ein paar Angelruten im Wasser die Tarnung perfekt machen.«
»Wie haben Sie das hinbekommen?«
»Indem ich ein paar ganz bösen Jungs das Handwerk gelegt habe«, antwortete Gonzales. »Vielleicht liegt’s auch an meinem minzfrischen Atem. Jedenfalls kann ich Corey im Auge behalten, wenn er auf der Promenade spazieren geht, und zwar über mehrere Hundert Meter in beide Richtungen. Ebenso falls er davonsegeln sollte, denn er besitzt in der Tat ein registriertes Wasserfahrzeug, wenn auch nichts Besonderes, ein Sechs-Meter-Sportboot.«
»Vielleicht war das Ding zur Reparatur, als wir dort waren«, sagte Milo. »Weil er vorhat, einen kleinen Ausflug damit zu machen.«
»Schon möglich, die Papiere sagen aber, dass er es in Ventura hat«, sagte Gonzales. »Das Gute ist, dass er damit nicht weit kommt. Für eine kleine Vergnügungsfahrt nach St. Barbara oder San Simeon würde es allerdings schon genügen, vielleicht auch in die andere Richtung, um von Long Beach aus abzuhauen.«
»Warum hat er das Boot in Ventura, wenn er gleich hinter dem Haus einen Liegeplatz hat?«
»Das versuche ich noch herauszufinden. Ich habe jetzt ein Zwei-Personen-Team aufgestellt, das sich mit der Observation abwechselt. Genau wie ich sagte, zwei ahnungslose junge Leute, die ihre Mütter verkaufen würden für das Privileg, im Auto zu hocken, bis der Hintern einschläft.«
»Achtstundenschicht?«, fragte Milo.
»Zwölf«, sagte Gonzales. »Die armen Kleinen. Andererseits, ich habe ihre Mütter nie kennengelernt.«
Den Fluchtweg der Mädchen nachzuvollziehen war einfacher als gedacht. Milo rief auf Verdacht MasterCard, Amex, Discovery und Visa an, wo er tatsächlich fündig wurde und außerdem an eine erstaunlich kooperative Ansprechpartnerin namens Brenda geriet. Es mochte geholfen haben, dass er von einer »Sache auf Leben und Tod« sprach, doch als er auflegte, trommelte er sich auf die Brust. »Der geborene Gigolo!«
Die Schwestern hatten jeweils eine eigene Kreditkarte, doch die Kontonummern unterschieden sich nur in der letzten Ziffer. Ashleys Karte war östlich von Palm Springs für eine Tankfüllung benutzt worden. Die übrigen Beträge verteilten sich gleichmäßig auf beide Karten. Die letzten Abbuchungen waren in Las Vegas erfolgt, was sich mit Laura Smiths Aussage deckte. Benzin, Essen, Kosmetika, eine größere Rechnung im Venetian Hotel, die dem Preis für ein Deluxe-Zimmer inklusive Zimmerservice entsprach.
»Flucht nach Sin City. Hoffentlich sind es tatsächlich die beiden und nicht irgendjemand anders, der ihre Karten benutzt.«
»Besonders clever ist das nicht. Bestimmt hat Ursula die Kreditkartenrechnungen bekommen. Dann gehen sie jetzt an Richard.«
»Oh, Leichtsinn, dein Name ist Jugend.« Er rief noch einmal Brenda an und erfuhr, dass die Rechnungen in der Tat inzwischen an die Adresse in Oxnard gingen.
»Gibt es irgendeine Möglichkeit, das zeitweise zu stoppen?«
»Warum sollten wir das tun, Lieutenant?«
»Nun, unter uns, das ist die Adresse ihres Vaters, und er ist derjenige, der uns Sorgen bereitet.«
»Oh … tut mir leid, aber ohne gerichtliche Anordnung können wir da gar nichts machen.«
»Wirklich nicht?«, fragte Milo.
Klick, klick, klick, summ, summ. »Jetzt wird nicht mehr aufgezeichnet. Zumindest nicht an meinem Ende der Leitung.«
»An meinem auch nicht.«
»Na dann«, sagte Brenda. »Ich sage Ihnen, was ich denke: Wir sind eine große Firma mit ausgezeichnetem technischem Support. Trotzdem kommt es hin und wieder zu Pannen. Allerdings werden die meist sehr schnell behoben.«
»Vielleicht kann eine Panne die nächste ablösen?«, schlug Milo vor.
Die Frau lachte. »Sie sind ganz schön anspruchsvoll.«
»Wahrheit, Gerechtigkeit und so weiter, Brenda. Aber ganz im Ernst, das sind verängstigte Kinder, und sie sind in Gefahr.«
»Wegen ihres eigenen Vaters. Schrecklich. Okay, ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Vielen Dank.«
»Mein Bruder ist bei der Polizei. In Indianapolis.«
»Das ist großartig, Brenda.«
»Dachte mir, dass Sie das so sehen.«