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Drei Tage in Folge kamen Flora Sullivan und Grant Fellinger morgens zwischen 8.30 Uhr und zehn Uhr zur Arbeit. Keiner der beiden verließ tagsüber das Gebäude, und beide fuhren um 17.34 Uhr beziehungsweise 18.58 Uhr aus der Tiefgarage.

Am ersten Abend igelte sich Grant Fellinger in seinem Haus in Pacific Palisades ein. Flora Sullivan hingegen fuhr nur kurz in ihrer georgianischen Villa in der June Street in Hancock Park vorbei, um dann ganz in Schwarz wieder zu erscheinen; Binchy konnte ihren Schmuck auf der anderen Straßenseite glitzern sehen. Ihre Haare hatte sie zu Locken gedreht, die bereits wieder aushingen. Sie trug eine weiße Handtasche, die nicht viel größer war als eine Zigarettenschachtel.

Vor dem Fahrerfenster ihres weißen Porsche Cayman S blieb sie stehen, um ihr Spiegelbild zu prüfen, formte die Lippen zum Kussmund und straffte den Rücken. Dann stieg sie in den coolen kleinen Sportwagen und brauste los.

Beim Grundstücksamt war zu erfahren, dass sie seit fünfzehn Jahren in dem großen, kastenförmigen Haus wohnte, und zwar zusammen mit einem gewissen Gary Sullivan. Ein Mann war jedoch nicht dabei, als sie die Sixth Street entlang durch Koreatown Richtung Innenstadt fuhr.

Ziel: das Biltmore Hotel.

Aha!, dachte Binchy. Die Reiche-Leute-Version von einem Stundenhotel. Vielleicht würde er Glück haben, und Fellinger fand sich ebenfalls dort ein.

Doch Sullivan hatte nichts Arges im Sinn, sondern steuerte den großen vergoldeten Ballsaal des Hotels an, wo sie an einer Benefizgala für Planned Parenthood teilnahm.

Binchy, der wie immer Anzug und Krawatte trug, konnte sich unbemerkt zwischen die hundertachtzig Teilnehmer mischen.

Als zu Tisch gerufen wurde, beobachtete er, wie Flora Sullivan an der zugewiesenen Stelle Platz nahm und sich ihren Tischnachbarinnen vorstellte, zwei eleganten älteren Damen.

»Zwei Getränke«, berichtete er am nächsten Morgen. »Und hat nur auf ihrem Teller herumgestochert. Wahrscheinlich bleibt sie deshalb schlank.«

»Kein Freund in Sicht«, sagte Milo.

»Nein. Sie ist allein nach Hause gefahren.«

»Klingt nach einem spannenden Abend, Sean.«

»Schon okay, Lieutenant. Ich nehm’s entspannt.«

Am zweiten Abend war Reed für Flora Sullivan und Milo für Grant Fellinger zuständig. Diesmal blieb Sullivan zu Hause, und die einzige Unterbrechung war ein Lieferant von Real Food Daily, den sie so großzügig mit Trinkgeld bedachte, dass er sogar lächelte.

»Veganes Essen«, sagte Moe Reed. »Wie bei Frankie DiMargio.«

»Zwei, die finden, dass Tiere essen grausam ist?«, bemerkte Milo. »Von so viel Zufall wird mir glatt schlecht.«

Er legte auf und beobachtete weiter Fellingers mittelgroßes modernes Domizil. Um 21.50 Uhr trat eine Frau aus der Tür, gefolgt von Fellinger. Milo erkannte in ihr die alternde Brünette, die er auf den Fotos in Fellingers Kanzlei gesehen hatte. Von den beiden Jungen war nichts zu sehen, und vor dem Haus standen auch nur der BMW und der Challenger. Aber inzwischen waren die Söhne sicherlich längst auf dem College, und die beiden lebten allein in dem Haus.

Aus den Grundbuchakten wusste Milo, dass die Frau die eine Hälfte des Grant-&-Bonnie-Jo-Fellinger-Familientrusts darstellte. Sie hatte ihre Haare blond gefärbt.

Ein Versuch, den Zeichen der Zeit zu trotzen und den Ehemann zu halten?

Er sah zu, wie Bonnie Jo einen Hausschlüsselbund einsteckte und sich bei ihrem Mann unterhakte. Die beiden gingen Richtung Norden die Straße entlang und kamen dabei an dem Porsche 928 vorbei, der auf der gegenüberliegenden Seite parkte.

Der Wagen war Ricks Sonntagsgefährt, das er aber großzügig zur Verfügung gestellt hatte – sehr zu Milos Gefallen, denn er nahm an, dass eine Edelkarosse in einer wohlhabenden Gegend wie dieser am wenigsten auffiel.

Milo sah zu, wie das Paar sich entfernte und in der Dunkelheit verschwand. Wenige Minuten später näherten sich die Fellingers gemächlich wieder, um an ihrem Haus vorbei weiter Richtung Süden zu spazieren. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, gab Grant Fellinger seiner Frau einen Kuss auf die Wange, den sie erwiderte.

Der Inbegriff des Eheglücks. Wie in einer dieser Werbungen für Kreuzfahrten hatte Fellinger den Arm um die Schulter seiner Frau gelegt, und ihr Arm schlang sich um seine ausladende Mitte.

Locker und entspannt wie ein zufriedenes Paar.

Milo fand, dass Rick und er auch in diese Kategorie passten, so lange, wie sie schon zusammen waren und sich kaum jemals stritten.

Und das war eine große Leistung, wenn man bedachte, was für stressige Jobs beide hatten.

Und dass sie beide zu Griesgrämigkeit neigten.

Außerdem waren sie beide Männer derselben Epoche; schwul oder nicht, Gefühle zu zeigen hatten sie zu Hause nicht gelernt.

Sie gingen also nie Arm in Arm, auch nicht in West Hollywood, wo es absolut üblich war, öffentlich Zuneigung zu zeigen.

Die Zeiten hatten sich geändert. Intellektuell war Milo das klar. Doch manchmal, wenn er in Boystown sah, wie sich junge Männer in den Armen lagen und küssten und wer weiß was machten, kam er sich ganz schön alt vor.

Rick hatte dazu noch nie etwas gesagt, doch für ihn war es mit Sicherheit genauso. Sein Blick verriet das und sein penibel getrimmter Schnurrbart, der sich auf und ab bewegte, wenn sein Kiefer sich verspannte.

Ja, sie wurden alt. Vom langen Sitzen waren seine Gelenke steif, und die Blase drückte.

Die Turteltäubchen kehrten zu ihrem Haus zurück. Bonnie Jo lachte über etwas, das Grant gesagt hatte, und lachte wieder, als er ihren stattlichen Hintern tätschelte.

Das heimische Glück hatte ihn nicht davon abgehalten, Ursula Corey zu poppen und wer weiß wie viele Frauen sonst noch.

Was für ein großartiger Schauspieler.

Hatte er Schlimmeres zu verbergen als Ehebruch?

Bonnie Jos Lachen klang in Milos Ohren.

Sie liebt den Kerl.

Es würde nicht leicht werden.

Am dritten Abend – Moe Reed folgt in sicherem Abstand – fährt Flora Sullivan heim nach Hancock Park, bleibt eine Stunde und zweiundfünfzig Minuten in ihrer Villa und erscheint dann wieder, mit einem Mann im Rollstuhl, den sie schiebt. Der Mann hat ihr Alter, er ist grauhaarig und gut aussehend, und seine breiten Schultern bilden einen auffälligen Kontrast zu seinen verkümmerten Beinen.

Sullivan tritt vor den Rollstuhl. Der Mann lächelt, als sie seinen Hemdkragen zurechtzupft. Sie dreht den Stuhl Richtung Straße. Es stehen an diesem Abend nicht viele geparkte Autos in der June Street, und Reed fürchtet schon, dass sein drei Jahre alter Mustang, den er vom Abstellplatz der Verkehrspolizei geliehen hat, entdeckt wird.

Doch Sullivan und der Mann im Rollstuhl haben nur Augen füreinander. Sie reden. Dann zupft sie noch einmal seine Kleidung zurecht. Er nimmt ihre Hand und führt sie kurz an seine Lippen.

Sullivan küsst ihn auf den Kopf, tritt dann wieder hinter ihn und blickt mit zusammengepressten Lippen in die Ferne. Diese kurze, von ihrem Gefährten unbemerkte Verspannung ist der einzige Hinweis darauf, dass ihr Leben nicht uneingeschränkt der Himmel auf Erden ist.

Ihr weißer Porsche ist das einzige Auto, das die Detectives bislang vor ihrem Haus gesehen haben. Der Wagen wäre vollkommen ungeeignet für einen Mann mit Rollstuhl, und so ist Reed nicht überrascht, als lautlos ein großer schwarzer Van heranrollt, der links am Heck die silber- und goldfarbene Aufschrift eines der größten Limo-Services der Stadt trägt. Ein Chauffeur in schwarzer Livree steigt aus. Dass er sofort lächelt und begeistert winkt, deutet darauf hin, dass man sich kennt. Flora Sullivan und der Mann im Rollstuhl reagieren entsprechend.

Der Fahrer öffnet die hintere Beifahrertür. Eine elektrisch betriebene Plattform schiebt sich heraus und senkt sich auf Straßenniveau. Der Fahrer übernimmt von Flora Sullivan den Rollstuhl und schiebt ihn über die Rampe in das Fahrzeug. Während die Tür zugleitet, tritt Flora Sullivan auf die unbefahrene Straße und geht auf die Fahrerseite, wo sie im Fond einsteigt, ehe ihr der Chauffeur behilflich sein kann.

Der Van gleitet langsam davon.

Reed wartet einen Augenblick, bevor er losfährt und zwei Querstraßen weiter die Rücklichter des Vans wieder sieht. Er folgt dem Fahrzeug zum Beverly Boulevard und lässt sich wieder zurückfallen, als der Van auf den Parkplatz eines sündhaft teuren japanischen Restaurants östlich vom La Cienega Boulevard einbiegt.

Sündhaft teuer deshalb, weil Reed letztes Jahr Liz an ihrem Geburtstag hierher ausgeführt hat und entsetzt über die Rechnung war. Aber er hat den Schock wohl ziemlich gut verborgen, denn der Rest des Abends verlief blendend …

Für Leute, die in Hancock Park wohnen und sich einen Chauffeur leisten können, kein Problem.

Der Van fährt vor dem Restaurant vor. Der Chauffeur manövriert Rollstuhl und Mann aus dem Wagen. Flora Sullivan übernimmt. Jemand, der wie ein Angestellter des Restaurants aussieht, hält ihr die Eingangstür auf.

Sullivan und ihr Partner – ein Mann, der bis auf die Behinderung den Angaben zu ihrem Ehemann Gary entspricht – bleiben fast zwei Stunden im Lokal. Nach rund einer Stunde kommt Sullivan heraus und bringt dem Chauffeur einen Teller Sushi.

Fünfzehn Minuten nachdem man zu Hause in der June Street angekommen ist, gehen die Lichter aus.

Zwei nach außen hin glückliche Paare. Milo und ich, aber auch alle anderen, beginnen, an unserer Hypothese zu zweifeln.

Am Tag vier unserer Observation ist Milo an der Reihe, das Gebäude in der Avenue of the Stars zu beobachten. Diesmal geht Grant Fellinger früher als sonst, schon kurz vor siebzehn Uhr, und zwar weder im BMW noch im Challenger. Er kommt zu Fuß heraus, in Begleitung einer extrem jungen Latina in dunklem Hosenanzug und Perlenschmuck.

Die Empfangsdame, die uns am Tag von Ursulas Mord begrüßt hat.

Okay, jetzt geht’s endlich los.

Tut uns wirklich leid für Sie, Bonnie Jo, Sie scheinen eine nette Person zu sein.

Doch der große Aha-Moment verpufft, als zwei weitere Personen dazustoßen, zwei Frauen um die vierzig, eine blond, die andere schwarz mit elegant frisiertem grauem Haar, beide in dunklen, edel geschneiderten Hosenanzügen.

Die vier gehen Seite an Seite, warten, bis die Ampel grün wird, und überqueren dann den Boulevard, um auf das Gebäude zuzusteuern, vor dem Milo steht und längst mit den Politessen ein nettes Verhältnis aufgebaut hat, das auf gegenseitigem Respekt und Bakschisch basiert.

Eine ruhige Wohngegend am Abend ist eine Sache, die Avenue of the Stars in vollem Tageslicht eine andere. Und heute hat er nicht den Porsche, der ihm Seriosität verleiht. Der LTD, in dem er heute sitzt, könnte genauso gut die Aufschrift tragen: Achtung, Polizei in Zivil!

Er lässt den Wagen an und fährt erst einmal einen halben Block weit, ehe er einen Blick zurück wagt.

Fellinger und die drei Frauen betreten das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Von einem Büroturm in den anderen? Was soll das?

Milo biegt um die Ecke, parkt vor einem benachbarten Bürogebäude und bedenkt den Parkwächter mit reichlich Trinkgeld, um sich einen Platz und genügend Zeit zu sichern.

Als er das Gebäude erreicht, in das Fellingers Grüppchen verschwunden ist, liest er auf einem Schild in der Lobby, dass im obersten Stockwerk ein Restaurant namens Gio untergebracht ist.

In besagtem Etablissement herrscht alles andere als Betrieb, zumindest nicht zu dieser frühen Stunde. Selbst die lange ebenholzschwarze Bar ist praktisch unbesetzt. Vielleicht sind die Nutzer des Gebäudes – überwiegend Unterhaltungsfirmen – heilfroh, wenn sie den Kasten endlich verlassen können, nachdem sie den ganzen Tag gefeilscht und geschwindelt haben.

Oder das Essen taugt nichts.

Was auch immer der Grund ist, Fellinger und die drei Frauen sind leicht zu entdecken, weil nichts den Blick auf ihren Ecktisch mit fantastischem Panoramablick über die Stadt verstellt.

Fellinger und die schwarze Frau sitzen mit dem Rücken zu Milo, die anderen beiden Frauen ihnen gegenüber.

Sie können Milo unmöglich entdecken, denn er steht draußen vor dem Restaurant und blickt durch die Löcher einer kunstvoll gestalteten Glaswand.

Ein Kellner bringt Getränke: zwei übergroße Martinigläser, gefüllt mit etwas Kupferrotem und Obstgarnitur für die hübsche junge Rezeptionistin und die Schwarze, für die Blondine Cola, die jedoch durchaus Rum enthalten konnte.

Fellinger hebt ein Whiskyglas mit einer klaren Flüssigkeit – Wodka oder Gin. Man stößt reihum an.

Ein anderer Kellner bringt Brot. Fellinger wartet, bis alle drei Frauen sich aus dem Korb bedient und ihr Stück mit Butter bestrichen oder in Olivenöl getaucht haben. Erst dann nimmt er selbst einen Bissen. Ein ausgemachter Gentleman.

Die Speisekarten kommen. Fellinger bestellt von einer Weinliste. Zwei Flaschen, eine rote, eine weiße.

Alle sind entspannt und glücklich und plaudern munter drauflos.

Ein netter Chef, der seine Mitarbeiter nach der Arbeit zum Essen ausführt.

Das könnte wirklich kompliziert werden.

Oder schlimmer – er könnte sich grandios irren.

Ich beendete meine Lektüre der Überwachungsberichte und legte sie ab.

»Faszinierend, was?«, sagte Milo.

Wir waren bei mir zu Hause. Es war elf Uhr abends, und er lag abgespannt und entmutigt auf dem Sofa im Wohnzimmer.

»Ich bin immer noch der Meinung, du bist auf dem richtigen Weg.«

»Wenn du kein Psychiater wärst, würde mich das jetzt trösten.«

Er fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Strähnen, strich über seine weißen Koteletten – er nannte sie Stinktierstreifen – und fing unbewusst an, daran zu zupfen. »Ich habe sämtliche Telefongesellschaften angerufen. Vielleicht haben wir was übersehen, und sie hat doch noch einen Vertrag irgendwo. Nada.«

»Und wenn er ihr ein Prepaid-Telefon gekauft hat und ihre Welt in seiner aufging?«

»Eine persönliche Hotline? Aber was sollte sie daran hindern, andere anzurufen?«

»Das würde voraussetzen, dass sie überhaupt mit anderen telefonieren wollte. Und selbst wenn, konnte er jederzeit ihre Verbindungen einsehen. Du hattest doch Reed gebeten, sich in Läden umzuschauen, die Taxidermie und Kuriositäten verkaufen. Ist dabei nichts rausgekommen?«

»Er hat ein paar Läden in Venice und Echo Park gefunden. Echo Park klang vielversprechend, weil Even Odd nicht weit entfernt ist. Doch niemand hat je von Frankie gehört. Ich habe selbst recherchiert und auch Läden außerhalb von Los Angeles angerufen, San Francisco, New York und Boston. Aber alle meinten, das sei reine Zeitverschwendung, denn die Sachen gebe es überall zu kaufen, auf Flohmärkten, Online-Auktionen oder in Antiquitätengeschäften.«

Er stand auf. »Ich brauche jetzt ein bisschen Schönheitsschlaf. Tut mir leid, wenn ich schlechte Laune verbreite.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast schließlich den ganzen Abend im Auto gesessen!«

»Diese Empathie«, sagte er. »Kommt dir die eigentlich jedes Mal von selbst?«

In diesem Fall ja.

»Man kann alles erlernen«, erwiderte ich.