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Ich tat so, als würde mich die Körpersprache von Ballou, La Guardia und Marissa Corey gar nicht weiter interessieren. Alle drei wirkten ziemlich eingeschüchtert. Ich nickte Milo zu, woraufhin er sagte: »Vielen Dank für Ihre Geduld. Wir kümmern uns um den Rest.«

Wir begleiteten Ballou und LaGuardia nach draußen und blieben neben seinem bronzefarbenen Jaguar stehen, während LaGuardia zu ihrem weißen Infiniti ging. Marissa Corey war als Erste davongestürmt und wirbelte beim Ausparken ihres BMW viel Staub auf. Schlingernd schlug sie den Weg zur Straße ein und raste dann mit durchdrehenden Reifen auf das Wärterhäuschen zu.

»Wow, Formel 1 ist nichts dagegen«, sagte Ballou. »Können wir mit dem Dekorieren denn weitermachen, Lieutenant?«

»Noch nicht, Sir.«

»Wann denn?«

Milo deutete auf den Transporter der Spurensicherung. Die zwei Männer waren ausgestiegen und kamen mit ihren Taschen, die sie aus dem Laderaum geholt hatten, auf uns zu.

»Wow. CSI?«, staunte Ballou.

»Ja. Genau wie im Fernsehen«, sagte Milo.

»Glauben Sie denn, hier ist tatsächlich was Schlimmes passiert? Ich meine, das war doch nur ein gedeckter Tisch. Vielleicht ein alberner Streich.«

»Schon möglich, aber wir müssen das überprüfen.«

»Können Sie mir denn wenigstens einen Anhaltspunkt nennen?«

Als die Spurensicherer, zwei Männer Mitte zwanzig, zu uns traten, sagte Milo: »In der Frühstücksecke am Ende der Küche. Ich komme gleich rein und sage euch, was ihr machen sollt.«

»Können Sie mir ungefähr …«, setzte Ballou wieder an.

»Nein, Sir.«

»Candy ist ziemlich ausgebucht.«

»Ich werde das im Hinterkopf behalten.«

»Auf einem fluktuierenden Markt ist Zeit alles, Lieutenant.«

»Einen schönen Tag noch, Sir.« Milo öffnete die Fahrertür des Jaguars.

»Verdammt«, sagte Mick Ballou. »Ich dachte, das hier würde ein Spaziergang werden.«

Als er losfuhr, meinte Milo: »Willkommen im Club, Blödmann.«

Auf dem Rückweg zum Haus kamen uns Binchy und Reed entgegen, und Milo sagte ihnen, sie könnten gehen. Den Kriminaltechnikern trug er auf, die Frühstücksecke zentimeterweise abzusuchen und sich dann die gesamte Küche vorzunehmen. Der eine war einen Meter fünfundneunzig groß und dünn, der andere einen Kopf kleiner und noch dünner. Beide hatten ein stoppeliges Kinn und trugen Brillen.

»Das ist ja riesig hier«, sagte Bohnenstange. »Ich habe nichts gegen arme Opfer in Einzimmerbuden.«

»Ich sehe kein Opfer«, meinte Shorty. »Alles, was wir hier haben, ist Essen.«

Bohnenstange sah an ihm vorbei. »So groß, wie das ist, sind wir hier den ganzen Tag beschäftigt.«

»Wenn ihr Hunger bekommt«, schlug Milo vor, »lass ich was zu essen kommen.«

»Sehr witzig«, meinte Shorty. »Ich bin für mexikanisch.«

Bohnenstange ergänzte: »Ich bin dafür, dass wir bis zum Abendessen fertig sind.«

Milo und ich gingen wieder nach draußen. Er lehnte sich an den Zaun des verwaisten Reitplatzes, rieb sich das Gesicht und blickte hoch in den hübschen Himmel.

»Du weißt es, und ich weiß es«, sagte er. »Was sind wir doch für Glückspilze.«

Pause.

»Hennepin 2.0?«

Er fluchte. »Wie zum Henker kann das sein, Alex? Will mir da jemand ans Leder?«

Plötzlich trabte er zu seinem Wagen, schlug so fest auf den Kofferraum, dass seine Hand ganz rot wurde, und kam dann mit einer Miene zurück, als würde er gleich etwas Schreckliches tun.

»Erst Lachs, dann Hühnerbrust?«

»Gerichte, die ein Mann als typisch weiblich ansehen könnte«, mutmaßte ich.

»Soll heißen?«

»Fettarm, ballaststoffreich, kleine Portionen.« Ich war nicht sicher, ob ich damit einen Witz machen wollte. Milo jedenfalls nahm es bierernst.

»Komm schon, Alex, ehrlich? Jemand, der es auf mich abgesehen hat? Die arme Ursula war nur ein Bauernopfer? Ich meine, wie konnten die das wissen?«

Ich musste an Milos Lieblingsautoaufkleber denken: Auch Paranoide haben Feinde. »Vielleicht hängen Hennepin und Corey auch irgendwie zusammen.«

»Eine Erbsenzählerin und eine Großunternehmerin?«

»Großunternehmer brauchen Erbsenzähler. Wer hat das für Ursula gemacht?«

Sein düsteres Lächeln war beängstigend. »Du denkst wahrscheinlich, mit der Frage erwischst du mich kalt, aber Tatsache ist, dass ich die Antwort parat habe, weil ich nämlich eine verdammte Woche lang ihre und Richards Finanzen durchforstet habe. Nein, Hennepin hat nicht für sie gearbeitet, sondern nur für die Gross. Und nein, die Steuererklärung für Urrick macht eine der schicken Kanzleien in Fellingers Gebäude.«

»Tatsächlich.«

»Was meinst du?«

»Nur so eine Idee, aber vielleicht ist das Gebäude die Verbindung«, sagte ich. »Was, wenn Hennepin dort war – weil sie vielleicht für die Gross etwas zu erledigen hatte – und derselbe Täter, der Ursula nachstieg, hat auch ihre Fährte aufgenommen?«

»Also, alles, was ich für Ursula ausgetüftelt habe – das Habgiermotiv, Richard, ein unglücklicher Liebhaber –, war totale Zeitverschwendung, und in Wahrheit war es irgendein Psychopath von der Avenue of the Stars, der wahllos auf Beute aus war?«

Es ist nie wahllos. Ich sagte nichts.

»Super, das ist fantastisch, ganz wunderbar. Das Phantom des Büroturms? Selbst wenn ich das für realistisch halten würde, warum sollte er ein Opfer erdrosseln und dann mit dem Messer bearbeiten, um anschließend erst einmal über vier Monate zu warten, bis er das nächste Opfer per Schusswaffe erledigt?«

»Na ja …«

»Als Nächstes sagst du, es geht um das Markenzeichen, nicht um die Vorgehensweise, oder?«

Ich lächelte.

»Aber was ist sein Markenzeichen? Die Freude am Kochen?«

»Marissa hätte es vor ein paar Minuten zufällig entdecken können. Besitzerstolz.«

»Er kocht, um seine Opfer zu besitzen? Und warum genau? Hat ihm seine Mami in der Wiege nicht genug zu essen gegeben? Zu früh abgestillt?«

Er ging zum zweiten Mal weg, diesmal bis zur Mitte der Straße, und blieb dort stehen, die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt. Als wollte er ein Fahrzeug damit herbeiprovozieren.

Es kam keines. Außer Vogelgezwitscher war nichts zu hören. Ein herrlicher Ort. Ursula Corey war am Morgen weggefahren, in der Erwartung eines wunderbaren Tages, versüßt durch einen Akt des Altruismus zugunsten ihrer Töchter. Stattdessen hatte sie auf öligem Asphalt ihr Leben gelassen.

Als Milo zurückkam, sagte ich: »Es müsste gar nicht jemand sein, der regelmäßig in dem Gebäude ist. Menschen kommen und gehen. Gelegentliche Besuche wären genug. Das könnte erklären, warum vier Monate zwischen den Taten liegen.«

»Reed hat sich die Videoaufnahmen angesehen. An dem Morgen, als Ursula ermordet wurde, war nichts Verdächtiges zu sehen.«

»Definiere ›verdächtig‹.«

»Bei einem Auto wäre das ein Nummernschild, das zu einem Vorstrafenregister führt. Bei einem Fußgänger gaffen, herumlungern, sich ganz allgemein unheimlich oder seltsam verhalten, jede Art von scheinbar sinnfreiem Benehmen.«

Ich erwiderte nichts.

»Okay, es war Zeitverschwendung«, sagte er. »Fällt dir was Besseres ein, Einstein? Oh, entschuldige, du bist wirklich der Letzte, an dem ich es auslassen sollte. Aber es ist einfach Wahnsinn. Nie im Leben hätte ich mit so was gerechnet.«

»Ebenso wenig wie ich.«

»Gott, ich hoffe nur, es ist nicht das Gebäude. Schon allein eine Aufstellung von Mitarbeitern und Personal zu machen wäre so gut wie unmöglich, bei der Menge an Menschen, die da arbeiten.«

Er wandte sich zum Haus. »Einstweilen habe ich ein gruseliges Dinner-Diorama da drin. Hühnchenbrust … und rate mal, wo auch keine Kamera ist?«

»Im Haus.«

»Im Haus nicht, klar, aber auch nicht an der Einfahrt zu dieser verdammten Anlage. Warum sie da überhaupt ein Tor hingebaut haben, ist mir sowieso ein Rätsel. Die Leute, die da arbeiten, haben keine Erfahrung, jeder kann da durchgehen. Genau das ist ja offensichtlich passiert. Wahrscheinlich abends im Dunkeln. Irgendein Arschloch mit Picknickkorb. Konnte einfach reinmarschieren. Zu Fuß.«

»Er musste aber irgendwie ins Haus gelangen«, wandte ich ein. »War die Alarmanlage an?«

»Marissa kann sich nicht erinnern, das heißt vermutlich, nein. Es gibt keine Einbruchsspuren, was nur bedeuten kann, dass eine Tür unverschlossen war. Von wegen sichere Gegend und so.«

»Wenn er über die laschen Sicherheitsvorkehrungen Bescheid wusste, hat er sich vorher hier umgesehen. Im Moment ist ein Wärter draußen. Wann hat der seinen Dienst angetreten?«

»Um acht Uhr. Zwischen zwanzig Uhr und diesem Zeitpunkt war das Tor unbesetzt. Logisch, oder? Ich habe Sean und Moe losgeschickt, um die Nachbarn nach Eindringlingen, ungewöhnlichen Fahrzeugen oder Passanten auszufragen. Nada.«

»Die Häuser sind so abgelegen, wenn es dann noch Nacht ist, muss man schon bewusst Ausschau halten, um jemanden zu entdecken. Gibt es Hinweise darauf, dass das Essen im Haus zubereitet wurde?«

»Genau wie bei Hennepin, alles blitzblank, wobei er Teller und Besteck, die vor Ort waren, benutzt hat. Das heißt, entweder hat er seine Leckerbissen schon fertig mitgebracht, oder er hat geputzt wie ein Zwangsneurotiker.« Er fluchte leise. »Ich kam, sah und deckte den Tisch.«

»Marissa meinte, Richard hatte keinen Schlüssel, doch Ballou hat dem widersprochen. Wäre wahrscheinlich sinnvoll herauszufinden, wie Richard an einen Schlüssel gekommen ist.«

»Um ehrlich zu sein, mein Freund, kann ich dir das sogar schon sagen, weil ich nach Marissas Anruf bei Richard angerufen habe. Er hat mir erzählt, dass er, nachdem er beschlossen hatte, das Haus zu verkaufen, hergekommen ist und einen Schlüssel geholt hat, der an einem geheimen Ort versteckt war, den Ursula und er bestimmt hatten, falls sie sich mal ausschließen.« Er deutete mit dem Finger in eine Richtung. »Dort drüben im Stall. Doch freu dich nicht zu früh, Richard war zwei Tage in San Diego. Und ich habe ihm das nicht einfach so abgekauft, sondern im Manchester Grand Hyatt nachgefragt. Nach deren Schlüsselkartendaten war er gestern Abend zwischen 19.30 und 22.00 Uhr nicht auf seinem Zimmer, doch seine Bar- und Restaurantbelege stammen von 20.30 beziehungsweise 21.30 Uhr.«

»Mit wem hat er gegessen?«

»Mit Kunden. Ich habe das Hotelrestaurant angerufen. Richard und mehrere asiatische Herren.«

»Einsamer Stubenhocker auf Geschäftsreise«, sagte ich. »Das ist doch mal was Neues.«

»San Diego ist zwar nur zweihundert Kilometer entfernt und nicht Phnom Penh. Aber es stimmt, es ist was Neues, Corey hat das auch angesprochen, er müsse jetzt mehr Kontakte pflegen, seit Ursula nicht mehr da sei. Natürlich kann es sein, dass er mich reingelegt hat, Alex, aber er klang nicht eben begeistert. Eher überfordert.«

»Was sagt er denn zu dem, was hier passiert ist?«

»Er fand es Wahnsinn. Ich denke, da sind wir mal absolut einer Meinung.«

Wir sprachen mit den Kriminaltechnikern. »Bislang nichts, Lieutenant«, sagte Shorty. »Da hat jemand superpenibel aufgeräumt.«

»Hinweise auf Essenszubereitung?«, fragte Milo.

»Nicht in letzter Zeit«, erwiderte Bohnenstange. »Wenn ich so wohnen würde, würde ich jeden Sonntag Barbecue machen.«

»Wenn du so wohnen würdest«, sagte Shorty, »hättest du jemanden, der für dich kocht.«

»Nein«, widersprach Bohnenstange. »Reich zu sein heißt nicht unbedingt, dass man faul sein muss.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Super«, meinte Shorty. »Und ich dachte, ich hätte heute mal was Neues gelernt.«

Als wir bei den Autos angekommen waren, sagte ich: »Ich würde trotz allem versuchen herauszufinden, ob Kathy Hennepin mal in diesem Bürogebäude war.«

Milo angelte sein Handy aus der Tasche und rief im Büro der Gross an. Als der Anrufbeantworter ansprang, legte er auf. »Zu kompliziert, das jetzt auf Band zu sprechen. Sonst noch was?«

»Hennepins kochender Freund Kleffer hatte ein wasserdichtes Alibi, aber jetzt haben wir zwei Dinnerszenen.«

»Darius Verschwindibus kehrt zurück? Mit ihm nicht zu reden war ganz schön schlampig, was? Vielleicht passe ich nicht mehr genug auf.«

Er nahm meine Hand und schüttelte sie heftig. »Danke.«

»Wofür?«

»Wenn ich nicht aufpasse, falle ich irgendwann. Manchmal bist du mein Sicherheitsnetz.«