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Ich betrat die Eingangshalle gleich hinter Bayless, ließ mich dann aber zurückfallen, während er in der Menge verschwand. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er nicht mehr in der Nähe war, ging ich zu der Anzeigentafel und fotografierte mit dem Handy die Namen der Mieter auf Grant Fellingers Stockwerk.

Viele waren es nicht; ein weiteres Anwaltsbüro und ein Unternehmen für Finanzmanagement.

Da die meisten mittags in umliegenden Restaurants essen gingen, war die Schlange an der Imbisstheke kurz. Ich wartete, bis gerade niemand anstand, und ging dann hinüber, um mir einen Kaffee zu kaufen, nur wenige Meter von Bayless’ Büro entfernt. Ich gab zwei Dollar zu viel und sagte: »Kannst den Rest behalten«, während ich dem pickligen jungen Mann hinter der Theke Katherine Hennepins Foto hinhielt.

Wenn man von einem Typ in T-Shirt und Jeans ein Foto vor die Nase gehalten bekommt, fragt man erst einmal nach. Doch der Junge sah nur darauf und antwortete: »Nein. Hat sie was geklaut?«

»Kommt das denn oft vor?«

Der Junge lächelte verschlagen. »Als ob Sie das nicht wüssten. Als Drogenfahnder.«

»Ich?«, sagte ich und grinste.

Er grinste zurück. »Wollen Sie jemanden hochnehmen?«

»Wenn es sich ergibt. Du kennst sie also nicht?«

»Nein.«

»Wird hier häufig geklaut?«

»Soll das ein Witz sein? Kaum dreht man sich um, fehlt die Hälfte der Zuckerpäckchen. Dreht man sich wieder um, ist der Ketchup weg.« Er schnaubte. »Reiche Leute sind Geizkrägen.« Ein dritter Blick auf Hennepin. »Ja, sie sieht auf jeden Fall verdächtig aus.«

Ich mischte mich wieder unter die Menge und ließ die Menschen um mich herumströmen.

Bayless hatte etwas gesagt, das mir immer noch durch den Kopf ging. Der Mord in der Oper.

Er ist zu ihr in den Aufzug gestiegen.

In diesen Aufzügen hier gab es keine Kameras. Wo könnte man besser ungestört auf die Jagd gehen?

Ich trat näher an die Fahrstühle heran und sah zu, wie sich Türen öffneten und schlossen und Menschen mit hungrigen Gesichtern entließen. Manche hatte Zigarettenschachteln in der Hand. Der Geräuschpegel stieg. Vielleicht war es auch nur der Lärm in meinem Kopf.

Es gab hier nichts mehr zu tun, und es war nicht sinnvoll, Bayless noch mehr zu provozieren. Ich strebte auf den Ausgang zu, als ich plötzlich ein Prickeln im Nacken verspürte.

Beobachtete mich jemand? Wahrscheinlich hatte ich nur zu viel Koffein zu mir genommen und zu wenig Erfolg bei meinen Unternehmungen.

Ich wandte mich halb um und sah erst einmal nichts. Und dann doch.

Eine schnelle Bewegung, jemand, der sich rasch zwischen den Menschen hindurchschob.

Ich erkannte ihn gerade noch, ehe er verschwand: Grant Fellingers gedrungene Gestalt versuchte, sich einen Weg zu den Aufzügen zu bahnen.

Ob er mich gesehen hatte? Selbst wenn es so war, konnte es eine einfache Erklärung dafür geben, dass er es eilig hatte, von mir wegzukommen: Er hatte mich erkannt, war aber nicht in der Stimmung, sich jetzt mit Polizeiangelegenheiten zu befassen.

Ich setzte meinen Weg zur Tür fort, wandte mich dabei jedoch noch einmal halb um.

Fellinger hatte sich auch umgedreht. Seine Miene war versteinert. Vor Angst? Wut? Einer Kombination aus beidem?

Eine Sekunde lang blickten wir uns in die Augen. Dann drehte er sich rasch zurück und zeigte mir seinen Rücken.

Doch kein Phantom? Sondern ein Mann, der hier arbeitete, der guten Grund hatte, sich im Gebäude aufzuhalten?

Jemand, der eine geschäftliche Beziehung zu Ursula Corey gehabt hatte? Oder sogar viel mehr als das, wenn man Richard Glauben schenken durfte.

Wer würde einer Frau in einer Tiefgarage weniger verdächtig vorkommen als ihr eigener Anwalt? Zumal sie ihn zuvor in seiner Kanzlei besucht hatte?

Wie groß musste dann die Überraschung gewesen sein, als der Mann ihr eine Waffe vors Gesicht hielt?

Weder die hübsche Empfangsdame im schwarzen Kleid noch Fellingers Assistent hatten erwähnt, dass Fellinger an dem Morgen, als Ursula ermordet wurde, sein Büro verlassen hatte. Doch Chefs meldeten sich nicht ab oder zurück, und angenommen, die junge Frau war zwischendurch von ihrem Platz weggegangen?

Schafe. Die Beschreibung war respektlos, doch zutreffend, wie ich gerade feststellen musste.

Ich verließ das Gebäude und telefonierte bereits, noch ehe ich die Straße überquert hatte.

Rechtsanwalt Earl Cohen war bereit, mich in seinem Büro zu empfangen, wenn ich bald käme, doch als ich dort eintraf, erklärte mir die Sekretärin, er sei bereits zum Mittagessen gegangen. »Ins Café Europa, gleich nebenan.«

Das »Café« entpuppte sich als ein Mini-Imbissstand in einem der benachbarten Ärztehäuser. Zwei junge Frauen in Krankenschwesternuniformen warteten an der Theke auf abgepackte Salate. Am einzigen Tisch in der Ecke saß Earl Cohen.

Im hellen Licht sah der alte Mann aus wie eine Wachsfigur im Maßanzug. Sein Mittagessen war von mönchischer Einfachheit: Naturjoghurt mit Plastiklöffel und ein Glas Wasser.

Ich setzte mich. Cohen wartete, bis die Schwestern gegangen waren, ehe er zu sprechen begann. »Und jetzt, Dr. Delaware?«

»Wie ich schon beim ersten Mal sagte, Grant Fellinger hat von Ihnen in den höchsten Tönen gesprochen. So was habe ich bei einem gegnerischen Anwalt noch nie erlebt.«

Cohen grinste. »Vielleicht habe ich die Lobeshymnen ja verdient.«

»Zweifellos«, meinte ich. »Aber Sie waren umgekehrt nicht so begeistert.«

»Wie respektlos von mir.«

»Alles, was Sie mir über Fellinger erzählen können, wäre hilfreich.«

»Verdächtigen Sie ihn, dass er etwas mit Ursulas Tod zu tun hat?« Keine Spur von Überraschung.

»Von Verdacht kann keine Rede sein, aber ich finde ihn interessant.«

»Warum?«

»Erstens, weil wir gehört haben, dass er mit seiner Mandantin geschlafen hat.«

Cohen lächelte. »Welcher Mandantin genau?«

Ich lächelte zurück. »So ist das also?«

»Nun ja«, sagte Cohen. »Mir ist nicht bekannt, ob Grant auch auf Männer steht, aber mehrere weibliche Mandanten sollen seinem Charme anheimgefallen sein.«

»Ein Don Juan unter den Anwälten.«

Cohen lachte. »Schwer zu begreifen, aber so wurde es mir zugetragen.«

»Das ist also eine allgemein bekannte Tatsache unter Ihren Kollegen.«

»Allgemein bekannt würde ich nicht sagen. Das Thema kam ein paarmal auf, inoffiziell, und so sollte es auch bleiben. Auch was dieses Gespräch angeht, Doktor. Ich bin zu alt für Komplikationen.«

»Ist er jemals wegen sexueller Belästigung angezeigt worden?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Cohen und tauchte den Löffel in seinen Joghurt. »Vielleicht ist er einfach gut in Liebesdingen und macht die Mädels glücklich.«

»Was genau haben Sie gehört?«

»Genau? In meinem Alter ist Genauigkeit kein Thema mehr. Ungefähr? In Anbetracht dessen, dass die arme Ursula tot ist? Da ist alles möglich. Solange es inoffiziell bleibt.«

Er hob eine Löffelspitze Joghurt an und gönnte sich eine halbe Kalorie. »Inoffiziell bedeutet, dass Sie es für sich behalten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Inoffiziell bedeutet, dass Ihr Name nicht in offiziellen Akten auftaucht. Doch alle relevanten Informationen werden an Lieutenant Sturgis weitergeleitet.«

»Nun ja«, meinte Cohen. »Danke für Ihre Offenheit. So was kommt in meiner Branche nicht oft vor.«

Er fummelte an seiner Krawatte. »Sie sagen, Sie verdächtigen Fellinger nicht, trotzdem wollen Sie in seinem Privatleben herumstochern.«

»Sofern es mit Ursula Corey zu tun hat.«

Er legte den Löffel hin. »Ich weiß nicht, warum ich mich darauf eingelassen habe, Sie zu sehen. Ich bekomme den klaren Eindruck, dass Sie ein junger Mann sind, der Komplikationen sucht.«

»Im Gegenteil, Mr Cohen. Ich bin stets darauf aus, Dinge zu vereinfachen.«

Er musterte mich. »Wenn Sie eine Frau wären, würde ich Sie eine Tratschtante nennen.«

»Wichtigtuer ist auch okay«, erwiderte ich. »Und es ist dazu geschlechtsneutral.«

Cohen lachte so laut, dass der Mann hinter dem Tresen herübersah. Er verstummte keuchend und rieb dann den Bereich an seinem Hals, der ausgehöhlt war. »Für einen Psychologen sind Sie ganz schön direkt. Geht es denn in Ihrer Branche nicht vor allem um die Nuancen?«

»Was ich bei Ihnen heraushöre, ist, dass sich Ihre Gefühle durch emotionale Faktoren erklären ließen, andererseits …«

Er lachte wieder. »Ein Schlaumeier! Hören Sie, ich bin ein alter Knacker und habe zwei verschiedene Krebsarten hinter mir. Was soll mir schon noch passieren? Also, bitte schön: Eines Tages bemerkte ich, wie Grant seine Wurstfinger nach Ursulas wohlgeformtem Hintern ausstreckte, als er sich unbeobachtet fühlte.«

»Wo war das?«

»Im Aufzug seines Gebäudes. Wir waren auf dem Weg nach unten nach einer Besprechung – Richard, Ursula, Grant und ich.«

»Fellinger hat sie angetatscht, obwohl Richard dabei war?«

»Ich könnte mir denken, das hat den Kick erhöht.«

»Wie hat sie reagiert?«

»Kaum merklich gelächelt.«

»Sie waren in Fellingers Büro, doch er ging danach auch.«

»Er kam mit, um Ursula zu begleiten«, sagte Cohen. »Ganz Kavalier.«

»In Wahrheit ging es ihm darum, dem Ex eins auszuwischen. Beiden.«

»So sah es für mich aus.« Cohen hob zitternd eine Hand und krümmte seine knotigen Finger. »Es war nicht nur ein Klaps; er hat sie mehrfach getätschelt.«

»Und ihr hat das Spaß gemacht.«

»Sie hat die ganze Zeit gelächelt«, sagte Cohen. »Die unvermeidliche Schlussfolgerung: ein alter Insidergag zwischen den beiden. In dem Moment wurde mir klar, dass Richard nicht übertrieben hatte, als er behauptete, Fellinger habe es mit seiner Frau getrieben.«

Richard hatte das Gleiche von Cohen behauptet. »Danke für die Auskünfte«, sagte ich. »Gibt es sonst noch was?«

»Es war mir unangenehm«, antwortete Cohen. »Nicht das Sexuelle, sondern die Tatsache, dass Fellinger so brutal gegen seine Berufsethik verstieß. Ich bin einer von der alten Schule, Dr. Delaware. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.«

»Hat Richard Ihnen je erzählt, ob Ursula ihn betrogen hat, solange sie verheiratet waren?«

»Nein, darum ging es nicht.«

»Worum ging es nicht?«

»Ihr Leben vor der Scheidung. Darüber kann ich mich nicht äußern. Die Eskapaden Ursulas, von denen er mir erzählte, fielen alle in die Zeit nach der Scheidung. Deshalb habe ich ihm auch geraten, sich herauszuhalten.«

»Wie ist er damit zurechtgekommen?«

»Er sagte, er verstehe es intellektuell, doch es mache ihn traurig, dass Ursula sich das antäte.«

»So viel Sorge um ihr Wohlergehen«, sagte ich. »Ein fürsorglicher Exmann.«

Cohen nahm einen zögerlichen Schluck Wasser und erhob sich dann wackelig. »Genug, Dr. Delaware.«

»Lassen Sie mich nur noch eines klarstellen«, bat ich. »Richard wollte also sagen, dass sich Ursula mit ihrer sexuellen Freizügigkeit selbst schadete.«

Cohen deutete an die Decke. »Es ist schon spät. Ich muss hier hoch zu einem meiner nichtsnutzigen Ärzte.«

Ich rief Milo an.

»Ist wahrscheinlich keine große Sache, aber Darius Kleffer ist wieder in Los Angeles. Er hat keine Adresse hier, arbeitet jedoch seit etwa einem Monat bei einem Italiener namens Beppo Bippo. Weiß ich alles, weil ich auf Gourmet-Blogs gesurft bin.«

»Ist er so bekannt?«

»Nein. Er postet selbst auf einer Seite, die Big-Eyes Gourmandize heißt. Ich habe in dem Restaurant angerufen, doch heute ist Kleffers freier Tag. Der Manager sagte, er würde Kleffer Bescheid sagen. Ansonsten fahre ich einfach mal hin. Was gibt’s Neues?«

»Ich habe einen Vorschlag für dich.«

»Was?«

Ich erzählte ihm alles.

»Wir treffen uns vor der Polizeistation«, schlug er vor. »Und vielleicht sollten wir zuerst noch einen Snack besorgen.«