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Mein engster Freund ist Detective bei der Mordkommission. Wenn man ihn fragt, in wie vielen Mordfällen er schon ermittelt hat, verweigert er die Aussage, weil er findet, dass Nostalgie etwas für Schwächlinge ist. Ich schätze, er kommt etwa auf dreihundert.

Die meisten davon waren eine Verquickung banaler unglückseliger Umstände.

Zwei Volltrunkene, die sich gegenseitig den Rest geben, während gleichermaßen abgefüllte Zeugen um sie herumstehen und sie anfeuern.

Ein fehlgeleiteter Messerstich oder Gewehrschuss, der einen Streit nachhaltig beendet.

Feuerwaffen in den Händen von oft milchgesichtigen Bandenkids, angefangen von Kleinkaliberknarren, die in der Hand explodieren, bis hin zu halbautomatischen Waffen, mit denen sie aus den offenen Fenstern ramponierter Kleinwagen ballern.

Es sind nicht diese Fälle, die Milo Sturgis zu mir führen. Es sind die »anderen«.

Der Mord an Katherine Hennepin hätte ohne Probleme in die Kategorie der »anderen« gepasst, dennoch hatte Milo ihn mir gegenüber nie erwähnt. Nun stand er um neun Uhr morgens in meinem Wohnzimmer, in einer staubgrauen Windjacke und braunen Polyesterhosen aus einer anderen Ära, in seiner Pranke seine olivgrüne Vinylaktentasche. Blass, pockennarbig, übergewichtig, das schwarze Haar schlaff und ungepflegt, sah er aus wie ein Nilpferd, das gerade vom Alphamännchen der Herde besiegt worden war.

»Doktor«, brummte er. Meinen Titel benutzt er nur ironisch oder wenn er deprimiert ist. Damit ist schon ziemlich viel abgedeckt.

»Guten Morgen«, erwiderte ich.

»Wenn du meinst.« Er zockelte hinter mir her in die Küche. »Entschuldige bitte.«

»Was denn?«

»Das große Glas schales Bier, das ich dir gleich anbiete.« Nach einem kurzen Halt vor dem Kühlschrank sank er auf einen Stuhl, rieb sich das Gesicht, schlug die Zähne aufeinander und öffnete seine grüne Aktentasche, ohne mich dabei anzusehen. Zutage kam einer dieser blauen Hefter, von denen ich schon so viele gesehen hatte.

Der Fall Hennepin, K. B. war zwei Monate zuvor eröffnet worden.

»Ja, ja,«, sagte er, immer noch ohne Blickkontakt zu mir. »Dachte, ich muss dich nicht damit behelligen, weil es vollkommen offensichtlich schien.« Er brummte. »Börsentipps solltest du von mir nicht annehmen.«

Er wartete, während ich las.

Katherine Belle Hennepin, dreiunddreißig, angestellt in einer kleinen, familienbetriebenen Steuerberatungskanzlei in Sherman Oaks, war im Schlafzimmer ihrer Wohnung in West Los Angeles aufgefunden worden, mit Würgemalen und Stichwunden. Ihr vergrößertes Führerscheinfoto zeigte eine Frau mit schmalem Gesicht und fein geschnittenen Zügen, schulterlangem hellbraunem Haar, süßem Lächeln und Sommersprossen, die selbst im erbarmungslosen Licht der Behördenkamera liebenswert wirkten. Ihre Augen blickten traurig, fand ich, aber vielleicht war ich auch schon voreingenommen.

Mir war klar, warum Milo das Foto dazugelegt hatte: damit ich sie als Mensch betrachtete.

Und damit er sich ebenfalls daran erinnerte.

Rötungen und winzige Blutaustrittsstellen um die Würgemale, dafür viel weniger Blut und Geschmier, als man bei sechsunddreißig Stichwunden erwarten würde, deuteten darauf hin, dass der Täter zuerst gewürgt und dann gestochen hatte.

Ein paar Blutstropfen und ein eingedrückter Bereich auf dem Teppich ließen annehmen, dass die Tat im Flur vor der Küche begonnen hatte und Katherine Hennepin anschließend in ihr Schlafzimmer geschleppt worden war.

Der Mörder hatte Katherine auf ihr Bett gelegt, mit dem Gesicht nach oben, ein Kissen unter dem Hinterkopf. Man fand sie vom Scheitel bis zur Sohle bedeckt mit einem Leintuch, das aus ihrem Schrank stammte.

Die Pose, die der Täter gewählt hatte – die Arme an ihre Seiten gepresst, die Beine geschlossen –, sah nach friedvoller Ruhe aus, wenn man einmal von dem Blut absah. Sexuelle Gewalt schien keine Rolle gespielt zu haben, was auch die Autopsie bestätigt hatte. Milo und sein Kollege Sean Binchy hatten die Wohnung mit gewohnter Gründlichkeit durchsucht und keinen Hinweis auf einen Einbruch gefunden.

In einem Messerblock in der Küche mit hochwertigen Klingen aus Deutschland war der Schlitz für das schwerste Schlachtermesser leer. Die Maße passten zu dem, was der Coroner über die Mordwaffe gesagt hatte. Trotz sorgfältiger Suche in der Wohnung und Müllcontainern in der Umgebung tauchte das Messer nicht auf. Eine Befragung in der ruhigen, gutbürgerlichen Gegend, in der das Opfer zwei Jahre lang zur Miete gewohnt hatte, ergab ein ebenso enttäuschendes Resultat.

Es gab keine Fingerabdrücke außer denen von Katherine Hennepin. Ebenso wenig fremdes Blut; Messermörder, vor allem wenn sie in Rage töten, rutschen oft an blutverschmierten Griffen ab und schneiden sich. Doch obwohl dieser Täter ganz offensichtlich wild zugestochen hatte, war er nicht abgerutscht.

Ich blätterte um und blickte auf weitere Fotos.

Der Tisch in der Küche war für zwei Personen gedeckt: zweimal grüner Salat, angemacht mit Essig und Öl, wie sich später herausstellte, zweimal Lachsfilet gegrillt mit Pilawreis und grünen Bohnen. Eine entkorkte Flasche Pinot Noir mittlerer Qualität stand neben der kleinen Blumendeko. Zwei Gläser enthielten je ein Achtel Wein.

Alles an diesem Tatort – keine Spuren von Einbruch, Diebstahl oder Vergewaltigung, postmortaler Gewaltexzess, ein in Laken gehülltes Opfer, die Mordwaffe vom Tatort – deutete darauf hin, dass der Mörder dem Opfer wohl bekannt war und dass er von glühendem Zorn getrieben war.

Milos Befragung von Katherine Hennepins Arbeitgebern, Maureen und Ralph Gross, Steuerberater, beide über achtzig, enthüllte eine stürmische Affäre mit einem Koch namens Darius Kleffer.

Jemand, der ausgezeichnet mit Messern umgehen konnte.

Ich las weiter.

Katherine wurde von Mr und Mrs Gross als »reizend«, »süß« und »schüchtern« beschrieben. Ralph Gross nannte Darius Kleffer einen »verdammten Irren«, und seine Frau pflichtete ihm bei. Zweimal sei der Ex in das Büro »eingefallen« und habe »die arme Katherine beschimpft«. Beim ersten Mal habe er Folge geleistet, als ihn die Gross zum Gehen aufforderten, beim zweiten Mal nicht, da habe er Katherine bedrängt und versucht, sie zum Mitkommen zu überreden. Die Gross riefen die Polizei, doch der »Irre« verschwand, ehe die Streife eintraf.

Ein genauerer Blick auf Kleffer ergab zwei Festnahmen in Clubs in Hollywood wegen tätlichen Angriffs auf Saufkumpane. Beide Verfahren waren eingestellt worden. Seine Impulsivität, das Bild vom Koch, der ein Dinner für zwei zubereitet, und der Umstand, dass er ganz in der Nähe in North Hollywood gewohnt hatte – all das passte zusammen, und ich verstand, warum Milo an eine rasche Aufklärung geglaubt hatte.

Er war zu Kleffers Wohnung gefahren, doch der war dort schon seit drei Monaten nicht mehr gesehen worden und hatte keine Nachsendeadresse hinterlassen. Als Milo ihn nach einer Woche immer noch nicht aufgespürt hatte, war er überzeugter denn je, auf der richtigen Spur zu sein.

Alle Puzzleteile passten zusammen.

Doch dann tauchte ein neues auf.

Ich stand auf und schenkte mir den dritten Kaffee ein. Die ersten beiden hatte ich morgens um halb sieben mit Robin getrunken, ehe sie mit unserem Hund in ihr Atelier im Garten ging, um einen Gitarrendeckel zu schnitzen. Ich bot Milo einen Becher an.

»Nein, danke.«

»Plötzlich so enthaltsam?«

»Bei Katholiken ist das angeboren«, erklärte er. »Buße muss zumindest versucht werden.«

»Buße für welche Sünde genau …?«

»Versagen.«

»Ich hätte bei Hennepin genau die gleichen Schlüsse gezogen.«

»Schon möglich.«

»Ich verarbeite Fakten genauso wie du.«

Er sagte nichts.

»Du kannst dich noch so geißeln, aber Kleffer sah aus wie der Lehrbuchmörder.«

»Und dann plötzlich doch nicht mehr.«

Ich deutete auf den blauen Hefter. »Hier steht nicht drin, warum du ihn von der Liste gestrichen hast.«

»Habe den Papierkram noch nicht erledigt.« Sein Lächeln war trauriger als Tränen. »Okay, ich fasse zusammen … weil Beichten ja gut fürs Gemüt ist und so. Ich suche also überall vergeblich nach ihm, dann springt mir plötzlich sein Name bei Google ins Auge. Ein Video, Pilotfilm zu einer Kochshow, die dann nie gelaufen ist, namens Mega-Chef, um ein chinesisches Kochgenie mit Michelin-Stern und sein Team, aufgenommen in Lower Manhattan. Kleffer hat zu dem Zeitpunkt schon mehrere Monate in New York gelebt. Wie ist er von dort weggekommen? Sein Name steht bei keiner Fluglinie auf der Passagierliste. Auch die Autoverleiher kennen ihn nicht. Er kann sich natürlich einen Wagen von einem Freund geliehen haben, aber auch darauf habe ich keine Hinweise gefunden. Amtrak wäre eine Möglichkeit, falls er seine Bahnfahrkarte bar bezahlt hat. Nur: Fünf Tage vor dem Mord bis drei Tage nach dem Mord war er nachweislich im Filmstudio. Übernachtet hat er in dem Hotel, wo auch die Showkandidaten untergebracht waren. Die alte Geschichte von den Zimmergenossen, die ihn nicht mögen, aber trotzdem für ihn bürgen. Ebenso wie der Produzent der Show und alle anderen, mit denen ich gesprochen habe. Der Typ hat eine Armee von Leuten, die sein Alibi bestätigen.«

»Hast du mit Kleffer persönlich gesprochen?«

»Habe ich versucht, aber nie einen Rückruf erhalten. Ich weiß, das klingt komisch – seine Freundin wird gemeuchelt, und ihn interessiert es nicht die Bohne. Aber solange die Gesetze der Physik gelten, ist er nicht mein Mann.«

»Gibt es befreundete Bösewichter? Jemand in Los Angeles, der ihm einen Gefallen tun würde?«

»Daran habe ich auch gedacht, aber bislang ist noch niemand aufgetaucht, der infrage käme. Es gibt niemanden, der sich als Kleffers Freund bezeichnet. Der Mann ist nicht gerade super beliebt.«

»Stinkstiefel und Profi-Messerwerfer«, sagte ich. »Wie oft hört man von sechsunddreißig Messerstichen, ohne dass sich der Täter selbst schneidet?«

»Ich weiß, ich weiß … sonst noch irgendwelche Ideen?«

»Selbst wenn Kleffer nicht der Mörder war, lohnt es sich, den Tatort noch mal genauer anzuschauen.«

»Es gab noch jemanden, den sie kannte.«

»Mit dem sie zu Abend essen wollte. Weißt du, ob sie das Essen selbst zubereitet hat?«

»In der Wohnung deutet nichts darauf hin, dass dort gekocht wurde, doch es kann ja jemand aufgeräumt haben. Du meinst, sie stand auf Köche, und Kleffers Nachfolger war wieder ein psychopathischer Küchenmeister?«

»Oder einer von diesen Typen, die Frauen mit ihren Kochkünsten beeindrucken wollen. Ein neuer Mann in Katherines Leben könnte erklären, warum Kleffer wutentbrannt an ihrem Arbeitsplatz aufgekreuzt ist.«

»Ein heimlicher Liebhaber? Ich habe die Nachbarn mehrmals befragt, aber Kleffer ist der einzige Mann, der je gesehen wurde. Binchy und ich haben uns die Gegend angesehen, und du weißt, wie penibel Sean ist. Wir haben keinen Hinweis auf eine Romanze gefunden.«

»Wann hat sie zum letzten Mal mit Kleffer telefoniert oder E-Mail-Kontakt gehabt?«

»Lange vor dem Mord – er ist sechs Monate zuvor nach New York gegangen, und sie haben schon davor nicht mehr miteinander gesprochen. Ansonsten geben ihre Daten nicht viel her. Die meisten ihrer E-Mails waren geschäftlich und gingen an ihre Arbeitgeber – oft nach Feierabend. Das arme Ding war äußerst gewissenhaft, sie liebten sie wirklich. Alle übrigen Anrufe und E-Mails gingen an die Familie. Immer fröhlich, Geburtstagswünsche, Jahrestage. Sie stammte aus einer großen Familie in South Dakota. Eltern, Großeltern, eine Urgroßmutter, fünf Geschwister, Nichten, Neffen. Der halbe Clan kam angereist, um sich um den Leichnam zu kümmern und sich von mir ins Bild setzen zu lassen. Und da stand ich dann, vor mir ein Haufen wohlerzogener, anständiger Leute, und hatte nichts, was ich ihnen geben konnte. Und das Schlimmste daran war, dass sie es mir nicht mal übel nahmen.«

Er hob den Arm und ließ die Faust Richtung Tisch sausen. Ehe sie auftraf, hielt er abrupt inne und ließ seine Finger Millimeter über der Platte schweben. »Wenn es keinen geheimnisvollen Freund gibt, hast du vielleicht recht, und ein Kumpel von Kleffer hat sie im Auftrag zerschnippelt.« Er stand auf. »Na denn, danke für den Kaffee.«

»Du hast gar keinen getrunken.«

»Die Absicht zählt.« Er drehte ein paar Runden und blieb dann stehen. »Was meinst du, könnte der gedeckte Tisch post mortem inszeniert worden sein? Als eine Art kranker Scherz?«

Ich dachte darüber nach. »Sicher, warum nicht? Wenn Kleffer den Mord delegiert hat, könnte er damit dem Ganzen seinen Stempel aufgedrückt haben.«

»Ich habe für dich gekocht, du hast mich sitzen lassen, jetzt bist du Hackfleisch.«

»Du kannst einfach mit Worten umgehen.«

Er rieb sich das Gesicht, als würde er sich ohne Wasser waschen, stapfte zur Kaffeemaschine, goss sich einen Becher ein, trank einen Schluck und schüttete den Rest in die Spüle. »Hat nichts mit dem Kaffee zu tun. Mein Magen ist völlig im Eimer.«

»Wie viele Ave Marias für die Koffeinverschwendung?«

»Ritz es mit ins Kerbholz. Wie geht’s Robin?«

Das klang nach höflicher Floskel.

»Prima.«

»Und der Flohquaste?«

»Charmant wie immer. Wie geht’s Rick?«

»Seit ich an Hennepin arbeite, muss er meine miese Laune ertragen.« Er ließ die Akte in seine grüne Tasche gleiten und verließ die Küche. An der Eingangstür blieb er noch einmal stehen. »Ich hätte früher zu dir kommen sollen. Keine Ahnung, warum ich das nicht gemacht habe.«

»Mir ist jetzt auch nicht viel dazu eingefallen«, wandte ich ein.

»Vielleicht, wenn du am Tatort gewesen wärst …«

»Das bezweifle ich.«

»Was soll’s. Bis dann.«

»Hoffentlich ergibt sich was Neues.«

Es ergab sich nichts.

Zwei Wochen später rief er an, um mir zu sagen, dass der Fall offiziell zurückgestellt worden sei, nachdem es keinerlei Indizien gäbe, die Katherines Tod mit Darius Kleffer oder anderen Verdächtigen in Verbindung brachten.

Danach hörte ich wieder fast drei Wochen lang nichts von ihm, bis er ganz aufgeregt anrief.

»Fortschritt bei Hennepin?«

»Ein neuer Fall, Amigo. Und diesmal bist du von Anfang an dabei.«