9. KAPITEL
Achtlos warf Nate seine Sachen auf den Boden und ging aufgewühlt im Zimmer auf und ab. Erst das kleine Mädchen im Diner, und dann Frankies Vorschlag, ungeschützten Sex zu haben. Wie alt wäre sein Kind heute? Drei. Würde er denn nie darüber hinwegkommen? Den Kopf in den Händen vergraben, ließ er sich aufs Bett sinken.
Es klopfte leise an der Tür.
Nate zog sich Boxershorts über. “Ja.”
“Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht”, sagte Frankie besorgt und trat ein.
Beeindruckend. Er kannte nicht viele Frauen, die es so gleichmütig hinnahmen, mitten im Liebesspiel einfach sitzen gelassen zu werden.
“Ist alles okay?”, flüsterte sie.
Da er sie nicht anlügen wollte, sagte er gar nichts. Nein, es ging ihm nicht gut. Schon drei Jahre nicht, auch wenn er es normalerweise geschickt überspielte.
“Wenn du reden willst …” Sie setzte sich neben ihn aufs Bett, und er sah, dass sie Jeans und ein T-Shirt übergezogen hatte.
“Nein.” Es ging nicht, weil er den Tränen nahe war. Und weil er nicht gleich zweimal in einer Nacht vor ihr als Mann versagen wollte.
“Schon gut.” Sie lachte leise. “Wie du selbst festgestellt hast, bin ich Expertin darin, alles mit mir selbst auszumachen. Mit Schweigen habe ich kein Problem.”
Wortlos nahm er ihre Hand in seine und streichelte ihren Handrücken.
“Weißt du was?”, fragte sie.
“Hmmm?”
“Wenn wir so weitermachen, werden wir womöglich doch noch Freunde.”
Nun hob er den Kopf. Sie hatte die Brille nicht aufgesetzt, und ihre Augen waren so blau, dass er darin hätte versinken mögen.
“Es tut mir leid, Frankie.”
“Das muss es nicht. Es macht mir nichts aus, dass wir aufgehört haben. Na ja, schon. Aber ich will nicht mit dir schlafen, wenn du mich nicht wirklich willst.”
Wie bitte? Sie nicht wollen? Er wollte sie so sehr, dass er beinah wirklich auf Schutz verzichtet hätte. Und genau da lag das Problem. Wie konnte ausgerechnet er alle Vernunft vergessen?
“Kann ich noch ein bisschen hier bleiben?”, fragte sie. “Nur zum Kuscheln.”
“Ja.”
Nate lehnte sich zurück, und sie schmiegte sich an ihn, einen Arm locker über seine Hüfte gelegt. Ihr Atem strich warm und sanft über seine Brust. Es tat ihm gut, dass sie bei ihm war.
“Jetzt weiß ich, wie schwer es ist”, sagte sie leise.
“Was denn?”
“Nicht helfen zu können.”
Er küsste sie auf die Stirn. “Aber du hilfst mir doch.”
Als Frankie aufwachte, spürte sie einen warmen Körper neben sich und war sofort hellwach. Nate.
“Guten Morgen”, sagte er leise.
“Hi.”
Sie wollte immer noch wissen, was genau eigentlich geschehen war, aber noch einmal fragen würde sie nicht. Schließlich konnte sie es auch nicht leiden, wenn man sie ständig bedrängte. Als er weiter schwieg, schwang sie die Beine aus dem Bett.
“Na, dann wollen wir mal. Es wird eine anstrengende Woche. Heute kommen neue Gäste an, eine Familie und ein Ehepaar und …”
“Frankie?”, unterbrach er sie mitten im Satz. “Wegen letzter Nacht … es hatte nichts mit dir zu tun.”
Sagten Männer das nicht immer?
“Ist schon gut. Wirklich. Wahrscheinlich ist es sogar besser so. Wir sehen uns dann unten.”
Damit ging sie hinaus.
Viel Zeit hatten sie im Laufe des Tages nicht füreinander. Nate stand am Herd, sie hatte im Büro alle Hände voll zu tun. Aber wenigstens blickte er jedes Mal auf und nickte ihr zu, wenn sie durch die Küche ging.
Am Nachmittag klingelte pausenlos das Telefon wegen Tischreservierungen, und sie schrieb zufrieden einen Namen nach dem anderen ins Buch. Ein Anrufer allerdings wollte Nate sprechen. Er meldete sich mit Spike, und als sie Nate Bescheid sagte, ließ der alles stehen und liegen und kam sofort ins Büro. Sie fragte sich, ob sie ihn allein lassen sollte, doch er schüttelte den Kopf.
“Bleib ruhig hier”, meinte er und griff nach dem Hörer. “Was gibt’s denn, Spike? Wo? Ja, von dem habe ich schon gehört. Wann schaust du es dir an? Wie viel wollen sie haben?”
Nach ein paar weiteren Fragen legte er auf und ging wieder.
Der Anruf erinnerte Frankie gerade noch rechtzeitig daran, dass Nate bald abreiste. Spätestens nach dem Labor-Day-Wochenende würde er in die Stadt zurückkehren und sein eigenes Restaurant eröffnen. In ein paar Jahren las sie dann in einem der Hochglanzmagazine vielleicht einen Artikel über den neuen Star der New Yorker Restaurantszene. Sie würde das Foto betrachten und sich vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn sie tatsächlich miteinander geschlafen hätten.
Aber das war immer noch besser, als ihm für den Rest ihres Lebens nachzutrauern. Oder?
Blödsinn. Sie wollte ihn. So sehr, dass es sie nicht mal kümmerte, wenn ihr später das Herz brach.
“Frankie?” Nate stand im Türrahmen. “Hast du einen Moment Zeit?”
Sie nickte und sah überrascht, dass er die Tür hinter sich zuzog. Wollte er jetzt doch kündigen?
“Ich bin dir wirklich dankbar, dass du so verständnisvoll warst.” Nervös strich er sich durchs Haar.
Sie lachte etwas gezwungen. “Du siehst aus, als wolltest du dich entschuldigen.”
“Will ich ja auch.”
“Nein, lass es lieber.”
Nate holte tief Luft, dann fuhr er fort: “Okay. Aber ich muss dir etwas sagen. Ich kann es nicht abwarten, mit dir zu schlafen. Heute Nacht. Oder gleich jetzt.” Er sah ihr tief in die Augen. “Würdest du mir noch eine Chance geben?”
Was für eine Frage! Natürlich würde sie.
“Nun ja, es war wirklich ganz schön”, sagte sie zögernd, um zu verbergen, dass sie am liebsten laut Ja geschrien und den Computer vom Schreibtisch gefegt hätte, damit sie gleich hier und jetzt …
“Es war weitaus mehr als nur ‘ganz schön’ für mich”, sagte er verführerisch.
Sie gab auf. “Ich will auch mehr”, gestand sie leise. “Ich will dich ganz.”
Nate ging um den Schreibtisch herum und zog sie aus dem Stuhl hoch in seine Arme. Sie spürte deutlich, wie erregt er war.
“Und ich will dich”, flüsterte er ihr ins Ohr.
Mit letzter Selbstbeherrschung legte sie im die Hände auf die Brust und schob ihn ein Stück weg. “Aber ich erwarte nicht, dass du länger bleibst als bis zum Labor Day. Das hier ist nur eine Affäre, okay?”
Hoffentlich merkte er nicht, dass sie log. Sie mochte ihn wirklich, trotz seiner Besserwisserei und obwohl sie nicht viel von ihm wusste. Wenn er im September abreiste, würde sie nicht so leicht über ihn hinwegkommen. Aber was sollte sie mit einem halbherzigen Versprechen, nur damit sie sich besser fühlte? Schließlich war sie erwachsen – sie konnte ganz bewusst eine falsche Entscheidung treffen, wenn sie bereit war, die Konsequenzen zu tragen.
“Reiner Gelegenheitssex”, betonte sie noch einmal.
Nate blinzelte überrascht. “Wie du willst.”
“Fein. Fährst du zur Drogerie oder ich?”
An diesem Abend war das Restaurant bis zum letzten Platz besetzt. Einige Gäste mussten sogar warten, bis ein Tisch frei wurde. Als Frankie hinterher die Belege zusammenrechnete, traute sie ihren Augen nicht. Über fünftausend Dollar! Es gab offensichtlich wohl doch noch so etwas wie Wunder.
Das Telefon klingelte, und sie meldete sich wie gewohnt mit “White Caps”.
Zuerst hörte man nur Rauschen, dann sagte jemand: “Frankie?”
“Alex! Wo steckst du?”
“Ich bin auf dem Heimweg.” Wieder rauschte es in der Leitung. “… in etwa einer Woche.”
“In einer Woche?”
“… danach … Training … America’s Cup.”
“Alex?”
“… Schluss machen. Bis bald.”
“Ich kann’s kaum erwarten!”, rief sie glücklich.
“Ich auch nicht …” Die Verbindung wurde unterbrochen.
Lächelnd legte sie auf.
“Wer war das denn?” Nate stand im Türrahmen. Er hatte schon geduscht und trug nur eine abgeschnittene Jeans. Sein Haar war noch feucht und ringelte sich im Nacken.
“Alex, mein Bruder. Er kommt endlich mal wieder nach Hause.” Etwas nervös stand sie auf. Nate verschlang sie mit Blicken, aber sie war sich nicht sicher, was genau sie jetzt machen sollte …
Nate beantwortete die Frage, indem er auf sie zukam und die Hände ausstreckte. “Es ist schon spät. Wir sollten ins Bett gehen.”
Erleichtert schlang sie ihm die Arme um den Nacken. “Das habe ich auch gerade gedacht.”
Oben angekommen zog sie ihn in ihr Schlafzimmer. Sie fühlte sich kurz beklommen, als Nate begann, sie auszuziehen. Doch in dem Augenblick, als sie auf ihr Bett fielen und er auf ihr lag, hörte Frankie auf zu denken. Die Gefühle, die Nate in ihr weckte, als er ihre Brüste liebkoste und mit seiner Hand immer tief glitt, waren mehr, als sie verarbeiten konnte.
Er war ein unglaublicher Liebhaber. Wieder und wieder verwöhnte er sie, bis Frankie dachte, sie könne unmöglich noch einen weiteren Höhepunkt ertragen. Sie wollte seine Zärtlichkeiten so gerne erwidern. Doch jedes Mal, wenn sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, entzog Nate sich ihr. Seine Selbstlosigkeit war beinahe frustrierend, und Frankie hatte das Gefühl, dass er sein Fortgehen von letzter Nacht wieder gutmachen wollte. Aber Nates Vergnügen war auch ihres.
“Warum darf ich dich nicht berühren?”, flüsterte sie.
Seine Stimme klang rau an ihrem Ohr. “Weil ich mich dann nicht mehr beherrschen kann. Oh mein Gott, ich bin so verrückt nach dir!” Aufreizend langsam setzte er seine Erkundung ihres Körpers fort und hörte nur kurz auf, um ein Kondom überzustreifen.
Seine gesamten Muskeln waren angespannt, als Nate sich wieder zu ihr legte. Frankie umfasste seine Hüften, um ihn zu sich heranzuziehen, doch er widerstand ihr. Tief atmend lehnte er seine Stirn an ihre.
“Frankie, schau mich an. Ich möchte deine Augen sehen.” Und dann sank er in sie, füllte sie aus, passte perfekt zu ihr. Langsam fing er an, sich zu bewegen, doch dann wurden seine Bewegungen immer schneller, bis sie einen erneuten Höhepunkt erlebte. Als sie ihre Beine um ihn schlang, hielt er einen Moment inne, um dann mit ihrem Namen auf den Lippen Erlösung zu finden.
Nate erwachte bei Sonnenaufgang, spürte Frankie neben sich und zog sie in seine Arme. In ein paar Minuten musste er aufstehen, um das Frühstück vorzubereiten, aber er wollte sie noch einmal ganz für sich haben.
Sie regte sich träge. “Ist es schon Morgen?” Müde rieb sie sich die Augen.
“Ja, leider.”
Nach dem ersten wundervollen Höhepunkt der vergangenen Nacht waren noch zwei weitere gefolgt, und insgesamt hatten sie nicht viel geschlafen. Trotzdem fühlte sich Nate frisch und erholt. Sie war so unglaublich gewesen. Leidenschaftlich. Zärtlich. Ungehemmt.
Langsam strich er mit der Hand über ihre Hüfte bis zum Schenkel hinunter. “Weißt du was?”
“Nein, was denn?”
Nate biss sich auf die Lippe. Beinah hätte er gesagt, dass er sich daran gewöhnen könnte, neben ihr aufzuwachen. Aber sie hatten ja nur eine Affäre, nicht wahr? Weil Frankie es so wollte – und weil er grundsätzlich keine festen Beziehungen einging.
Aber irgendetwas war mit ihm geschehen. Nach der letzten Nacht hätte er Frankie am liebsten die romantischsten Erklärungen gemacht, in denen Worte wie “für immer” und “Liebe” vorkamen. Sie brachte sein ganzes Weltbild durcheinander.
“Was denn?”, drängte sie und sah zu ihm auf.
Oh, diese blauen Augen. Wie gern er darin ertrank!
“Ich muss in die Küche.” Er küsste sie auf den Mund und stand dann schnell auf. Als er nach seiner Hose griff, sah er ihr amüsiertes Lächeln.
“Du siehst wirklich gut aus”, bemerkte sie. Ihr Blick blieb an seiner Mitte hängen.
Die Hose fiel ihm aus der Hand, und er warf einen raschen Blick auf die Uhr. Da musste das Frühstück wohl noch ein bisschen warten.
Am Vormittag saß Frankie wie gewohnt am Schreibtisch, doch sie schaute verträumt aus dem Fenster. Noch immer spürte sie Nates Hände auf seiner Haut, seine leidenschaftlichen Küsse und …
Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken.
“Frankie? Hier ist Mike Roy.”
“Mike, wie geht es dir?”
“Ganz gut.” Es klang allerdings nicht so. “Ich habe leider keine guten Nachrichten.”
Frankie umklammerte den Hörer fester. “Schieß los.”
“Die Bank wird verkauft.”
“Ach herrje. Verlierst du deinen Job?”
“Das weiß ich noch nicht. Ich hoffe nicht. Aber wir müssen deine Hypothek auf Stand bringen, bevor die Geschäfte übergeben werden. Der Käufer will es so.”
“Wie viel Zeit haben wir?”
“Bis Ende August.”
Sie stützte den Kopf schwer in die Hand und rieb sich nachdenklich die Stirn. “Ist gut.”
Gut war was anderes, aber was sollte sie sonst sagen?
“Es tut mir leid”, sagte Mike, und es klang ehrlich.
“Du kannst ja nichts dafür. Ich treibe das Geld schon auf.”
“Und falls nicht – ich hätte da einen Interessenten.”
“Einen Interessenten? Für White Caps?”
“Ja. Das wäre besser als eine Zwangsversteigerung. Du bekämst viel mehr Geld dafür.”
“Der Engländer”, flüsterte sie. “Dieser Hotelier, mit dem du hier warst. Ist das wirklich ein Freund von dir?”
Mike räusperte sich. “Ich versuche nur, dir zu helfen.”
“Du wusstest schon länger, dass die Bank verkauft wird, oder?”
“Ich wusste von den Plänen dafür, aber ich durfte nicht darüber reden. Du bist die Erste, die offiziell davon erfährt.”
Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte Frankie mutlos auf das Foto auf dem Bücherregal, das eine glückliche Familie zeigte. Eine Familie mit Kindern – und Eltern.
Wieder klingelte das Telefon.
“White Caps.”
“Verbinden Sie mich bitte mit Frances Moorehouse.”
“Am Apparat.”
“Ma’am, hier spricht Commander Montgomery von der Küstenwache.”
Ein eiskalter Schauer lief Frankie über den Rücken. “Was ist mit Alex?”
“Ich muss Sie leider informieren, dass Ihr Bruder Alexander Moorehouse vor der Küste von Massachusetts vermisst wird. Sein Boot wurde führerlos auf hoher See im Auge des Hurrikan Bethany aufgefunden. Wir haben sofort die Suche nach Ihrem Bruder und seinem Segelpartner Mr. Cutler eingeleitet. Sobald wir Neuigkeiten haben, melde ich mich wieder, aber ich gebe Ihnen auch gern meine Nummer.”
Frankies Hände zitterten so sehr, dass sie kaum leserlich schreiben konnte. Sie ließ den Hörer fallen und rannte blind aus dem Büro. Erst auf dem Bootssteg blieb sie stehen und schaute mit brennenden Augen auf den See hinaus. Dann begann sie zu schreien.
Nate sah Frankie aufgelöst durch die Küche stürzen, ließ sofort alles stehen und liegen und folgte ihr. Als er sie auf dem Bootssteg endlich einholte, hörte er noch ihren qualvollen Schrei.
“Frankie!”, rief er erschrocken und streckte die Hand nach ihr aus.
Tränenüberströmt drehte sie sich zu ihm um. “Alex ist tot. Mein Bruder …”
Nate schloss die Augen und zog Frankie in seine Arme. Sie brach völlig zusammen. Ihr Körper wurde so von Weinkrämpfen geschüttelt, dass er sie kaum halten konnte, und ihr Schluchzen ging ihm durch Mark und Bein.
Als er zum Haus hinüberblickte, um festzustellen, ob jemand sie beobachtet hatte, sah er schon Joy über den Rasen kommen.
“Deine Schwester”, flüsterte er Frankie leise zu.
Frankie ließ ihn los und wischte sich mit zitternden Händen die Tränen ab. Er reichte ihr das saubere Geschirrtuch, das er bei der Arbeit immer in der Tasche stecken hatte.
“Frankie?”, fragte Joy ängstlich.
“Ich lasse euch besser allein”, flüsterte Nate.
Doch Frankie griff nach seiner Hand. “Nein, bleib.”
“Was ist denn passiert?”
“Alex …” Frankie konnte nicht weitersprechen. “Alex”, wiederholte sie hilflos.
Aus weit aufgerissenen Augen starrte Joy sie an, doch ihre Stimme klang gefasst, als sie fragte: “Wird er vermisst oder ist er tot?”
“Vermisst. Aber …”
“Also gibt es Hoffnung.”
“Sein Boot ist gekentert. In einem Hurrikan.”
“Alex ist der einzige Mensch, den ich kenne, der so was überleben kann.” Trotzig hob Joy das Kinn. “Ich werde erst trauern, wenn man seine Leiche findet.”
Damit drehte sie sich um und ging zum Haus zurück.
“Sie ist stark”, sagte Nate bewundernd.
“Stärker als ich im Moment”, erwiderte Frankie und blickte wütend auf den See hinaus. “Ich kann es nicht ertragen, ihn auch noch zu verlieren. Wieso verschlingt das Wasser nach und nach meine ganze Familie?”
Nate legte einen Arm um sie. Er wagte es nicht, ihr Hoffnungen zu machen, die sich am Ende als trügerisch herausstellen konnten. “Sollen wir heute Abend das Restaurant schließen?”
Müde schüttelte sie den Kopf. “Nein, wir brauchen das Geld.”
Den Rest des Tages vergrub sich Frankie im Büro, und erst nach Restaurantschluss sah Nate sie wieder. Sie saß vor dem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster, eine Hand neben dem Telefon.
Nate kniete sich vor sie und legte ihr die Hände auf die Knie. “Wollen wir nach oben gehen?”
Als sie den Kopf schüttelte, setzte er sich zu ihren Füßen auf den Boden und lehnte sich ans Bücherregal.
“Was wird das denn?”, fragte sie.
“Ich lasse dich doch hier nicht alleine sitzen.”
“Aber ich werde die ganze Nacht hier sein. Schlafen kann ich sowieso nicht.”
“Ich lasse dich trotzdem nicht allein.”
Nach langem Schweigen sagte sie leise: “Das erinnert mich alles so furchtbar an die Nacht, in der meine Eltern starben. Dieses Warten. Wie langsam die Zeit vergeht. Aber wenigstens bin ich diesmal nicht schuld.”
“Am Tod deiner Eltern warst du auch nicht schuld”, sagte Nate stirnrunzelnd.
“Doch. Ich habe meine Mutter getötet.”
Frankie sah Nates ungläubigen Blick, doch zum ersten Mal seit über zehn Jahren machte es ihr nichts aus, darüber zu reden. Ganz im Gegenteil. Sie war unendlich dankbar, dass Nate bei ihr blieb und ihr zuhörte.
“Schon damals lief die Pension nicht mehr so gut”, erzählte sie, “und mein Vater fing an, alte Segelboote zu restaurieren. Alex half ihm dabei, sie hatten die Werkstatt in der Scheune eingerichtet. An jenem Nachmittag hatte mein Vater gerade wieder ein Boot fertig und wollte eine Testfahrt machen. Doch im Frühling kann das Wetter hier stündlich wechseln, und es kam ein schwerer Sturm auf. Später fand man heraus, dass der Bootsmast gebrochen war – offenbar wurde Dad am Kopf getroffen und fiel bewusstlos in den See.”
Sie holte tief Luft und sprach dann schnell weiter. “Mein Vater war ein fantastischer Schwimmer, deshalb machten wir uns zunächst keine Sorgen. Die Wellen waren hoch, aber nicht so hoch, dass er es nicht bis an Land geschafft hätte. Meine Mutter und ich haben etwa eine Stunde gewartet, dass er wohlbehalten an Land geht – und dann doch den Sheriff angerufen. Aber sie konnten ihn nicht suchen, weil sie eine Pfadfindergruppe retten mussten, die auf dem See mit Kanus unterwegs war. Also nahm meine Mutter das Angelboot meines Vaters und fuhr auf den See hinaus. Es war nur ein kleines Holzboot mit einem Außenbordmotor. Mir sagte sie, ich solle hier bleiben und auf Joy aufpassen.”
Frankie tat das Herz weh, als sie an den Tag dachte, an dem sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen hatte.
“Meine Mutter konnte nicht mal schwimmen, während ich ganz nach meinem Vater schlug und sogar die Schulmeisterschaft im Schwimmen gewonnen hatte. Das werde ich mir nie verzeihen – dass ich sie als Nichtschwimmerin in einem wetteruntauglichen Boot bei Sturm auf den See hinausfahren ließ. Sie trug nicht mal eine Schwimmweste, dabei hatten wir die im Haus, für die Gäste. Ich hätte sie aufhalten müssen, sie zumindest zwingen müssen, eine Schwimmweste anzulegen, ich hätte an ihrer Stelle hinausfahren sollen …” Ihre Stimme brach.
“Frankie …”
Sie hörte schon an seinem Tonfall, dass er sagen wollte, es sei nicht ihre Schuld gewesen, und unterbrach ihn. “Nein. Ich bin hier aufgewachsen. Ich kannte den See. Es war unverantwortlich von mir, sie hinausfahren zu lassen.”
“Aber hast du mal daran gedacht, dass sie die Mutter war und nicht du?”, fragte er sanft. “Sie hat ihr Kind beschützt, deshalb ließ sie dich nicht mitkommen.”
“Ich weiß nur, dass sie noch leben würde, wenn ich damals rausgefahren wäre. Dann hätte Joy wenigstens noch eine Mutter.”
“Du lädst dir eine Menge Verantwortung auf.”
“Wem denn sonst? Joy war in ihrem Zimmer, Alex gar nicht zu Hause. Ich war diejenige, die auf dem Bootssteg stand und meine Mutter nicht aufgehalten hat. Noch heute habe ich Albträume deswegen. Manchmal kann ich sie beide retten. Manchmal kommt sie allein zurück. Aber meistens stehe ich nur auf dem Bootssteg und warte. Warte und warte und warte.” Verzweifelt sah sie ihn an. “So wie heute.”
Nate wollte sie in die Arme ziehen, doch sie hob die Hände. “Wenn du mich jetzt umarmst, werde ich weinen.”
“Dann tu das. Das ist in Ordnung. Hauptsache, ich kann dich festhalten.”
Irgendwo klingelte eine Alarmglocke. Frankie regte sich unbehaglich. Ihr Rücken tat weh, ihr Hals war steif …
Als sie die Augen aufmachte, sah sie, dass sie in Nates Armen im Büro auf dem Boden geschlafen hatte. Und was sie hörte, war das Telefon.
Sie kam auf die Beine und tastete sich im Dunkeln zum Schreibtisch. “Hallo?”
“Frances Moorehouse? Hier spricht Commander Montgomery. Ihr Bruder wurde gefunden. Er ist verletzt und muss im örtlichen Krankenhaus wegen mehrerer Knochenbrüche behandelt werden. Aber er lebt, und in zwei Tagen kann er nach Hause geflogen werden.”
Frankie schlug die Hand vor den Mund, unfähig, die Tränen zurückzuhalten. Sie schaffte es noch, den Hörer aufzulegen, dann warf sie sich in Nates Arme. “Er lebt. Er lebt. Er lebt …”
Am darauf folgenden Nachmittag konnte Frankie endlich mit Alex selbst reden. Sie war überglücklich seine Stimme zu hören, als könne sie erst jetzt richtig glauben, dass er wirklich noch lebte. Sein Segelpartner Reese Cutler dagegen wurde noch gesucht, und sie spürte, wie sehr ihn das belastete.
Wenigstens würde er nach Hause kommen. Sie versprach ihm, sein altes Zimmer für ihn herzurichten, und verabschiedete sich lächelnd.
“Sie haben es also gehört?”, fragte einer der Gäste von der Tür her.
“Was denn?”
Der Gast wedelte mit einer Zeitung. “Die Kritik in der New York Times.” Der Mann trat ein und legte die Zeitung aufgeschlagen auf den Tisch. Die Überschrift lautete: Das White Caps: Ein Geheimtipp im Hinterland.
Frankie lachte laut auf. Wer hätte gedacht, dass ein Restaurantkritiker den Weg zu ihnen gefunden hatte? “Kann ich die Zeitung behalten?”, fragte sie.
“Gern. Hauptsache, ich bekomme heute Abend einen Tisch.”
Freudestrahlend zeigte sie den Artikel Nate, der gerade Brotteig knetete. “Hast du das schon gesehen?”
Er überflog die Überschrift und den Autorennamen. “Na so was. Walter war hier.”
“Oh, Nate, das könnte uns retten. Das White Caps, meine ich”, verbesserte sie sich hastig. Schließlich waren sie keine Partner. “Jedenfalls herzlichen Glückwunsch.”
“Danke. Wann holst du Alex vom Flughafen ab?”
“Morgen Nachmittag.”
“Soll ich mitkommen?”
“Ist nicht nötig, danke. Ich wäre gern erst eine Weile mit ihm allein.”
Außerdem hatte sie das Gefühl, etwas Abstand zwischen ihr und Nate würde ihr guttun. Sie war ihm unendlich dankbar, dass er in den schrecklichen Stunden des Wartens für sie da gewesen war, aber es bedeutete auch, dass sie ihm gegenüber jetzt verletzlich war. Er hatte in ihr Innerstes geblickt und ihre Seele berührt.
Und in nur vier Wochen würde er weiterziehen.
Als Frankie am nächsten Tag mit Alex vom Flughafen zurückkam, erwartete Nate sie an der Hintertür. Frankie parkte den Wagen und sprang heraus, doch bevor sie es bis zur Beifahrertür geschafft hatte, war Alex mithilfe seiner Krücken schon selbst ausgestiegen.
Er war ein hochgewachsener Mann mit athletischem Körperbau. Seine dunklen Haare waren von sonnengebleichten blonden Strähnen durchzogen, er war braun gebrannt und trug Shorts und ein Poloshirt. Stur weigerte er sich, Frankies Hilfe anzunehmen, und machte sich allein auf den Weg zum Haus.
Als er Nate in der Tür stehen sah, kniff er die Augen zusammen.
“Das ist unser neuer Koch, Nate. Nate, mein Bruder Alex”, stellte Frankie vor.
Entweder war Alex es gewöhnt, sich auf Krücken fortzubewegen, oder er war außergewöhnlich geschickt – jedenfalls legte er den Weg zur Tür bemerkenswert schnell und sicher zurück. Als Nate ihm die Hand hinstreckte, klemmte er sich die rechte Krücke unter den Arm und ergriff die gebotene Rechte.
Obwohl der Händedruck fest war und Alex ihm freundlich zunickte, spürte Nate doch deutlich die Botschaft, die der Mann ihm mit seinem Blick sandte: Wenn du meiner Schwester Kummer machst, bekommst du es mit mir zu tun.
Aber da war er bei Nate an den Falschen geraten. Sicher, Alex hatte eine Menge durchgemacht, aber das war noch kein Grund, sich von ihm herumschubsen zu lassen. Sobald Nate Gelegenheit dazu bekam, legte er Frankie den Arm um die Schultern. Und als sie sich nicht von ihm losmachte, zog er sie eng an sich und schaute ihrem Bruder dabei herausfordernd in die Augen.
Am Abend bekam Alex einen Anruf von der Küstenwache. Daran, wie er in sich zusammengesunken die Treppe hinaufhinkte, sah Frankie, dass er schlechte Nachrichten bekommen hatte. Reese Cutler war tot.
Sie wäre Alex am liebsten gefolgt, wusste jedoch, dass er wie sie dazu neigte, seine Gefühle vor anderen zu verbergen und alles mit sich selbst abzumachen. Außerdem wurde sie im Restaurant gebraucht. Alex’ Rückkehr schien Grand-Em noch mehr durcheinanderzubringen, und Joy konnte sie keinen Moment mehr aus den Augen lassen.
“Verzeihung?”
Die fordernde Frage riss Frankie aus ihren Gedanken. Vor ihr stand eine umwerfend schöne Frau – blonde, lange Haare, teures Designerkostüm, die Seidenbluse tief ausgeschnitten.
“Ich will mit Nate sprechen”, verlangte sie und schaute dabei ungeduldig auf ihre diamantbesetzte Uhr.
“Tut mir leid, er ist sehr beschäftigt.”
“Sagen Sie ihm, dass Mimi hier ist. Und ich will einen Tisch. Dort drüben.”
Sie zeigte quer durch den Raum zu den Fenstern mit Seeblick. Dummerweise war dort tatsächlich gerade ein Zweiertisch frei, sodass es keinen Grund gab, ihren Wunsch nicht zu erfüllen. Frankie griff nach einer Speisekarte und geleitete Mimi zu dem Platz. Die setzte sich und verlangte: “Ein Glas Chardonnay. Nicht die Hausmarke, einen französischen. Macht er seine Schnecken?”
“Nein.”
“Dann nehme ich nur einen Salat. Er kennt meine Vorlieben.”
Frankie hoffte, dass man ihr Zähneknirschen nicht hörte. Sie redet bestimmt nicht nur vom Salat, dachte sie grimmig. Ziemlich schlecht gelaunt marschierte sie in die Küche, wo Nate mit fliegenden Händen an mehreren Stationen gleichzeitig arbeitete.
“Du hast Besuch”, verkündete sie. “Sieht aus wie ein Model. Mimi Irgendwer.”
Nate blickte nicht auf. “Okay. Danke.”
“Sie möchte einen Salat und meinte, du wüsstest, wie sie ihn mag.”
“Ist gut.”
Frankie goss ein Glas Wein ein. Es wäre ihr viel lieber gewesen, wenn Nate sich beschwert hätte, schon wieder von dieser überkandidelten Tussi belästigt zu werden – aber welcher Mann würde schon über den Besuch einer so attraktiven Blondine meckern?
“Wo steckt er?”, fragte Mimi, als Frankie ihr den Wein servierte. “Haben Sie ihm gesagt, dass ich warte?”
“Ja.”
Mimi lächelte kühl. “Na schön, aber wenn er nächste Woche anfängt, ist er hoffentlich etwas kooperativer.”
“Wenn er was anfängt?”
Überrascht blickte Mimi auf und erklärte hoheitsvoll: “Mir gehört das Cosmo, und Nate ist mein neuer Küchenchef.”
Frankie hob die Augenbrauen: “Ach, tatsächlich.”
“Und wo bleibt mein Salat?”
“Schon unterwegs.”
Frankies erster Impuls war, in die Küche zu stürmen und Nate zur Rede zu stellen, doch sie schaffte es, sich zu beherrschen. Schließlich hatte sie, was Nate betraf, jetzt schon mehrmals voreilige Schlüsse gezogen und Unrecht gehabt. Nate würde sie nicht einfach mitten in der Saison sitzen lassen. Das war einfach nicht seine Art.
Und auch Mimi wusste offenbar, wie es zu Stoßzeiten in einer Restaurantküche zuging, denn sie wartete tatsächlich bis zur Schließung, statt in die Küche zu stürzen und Nate bei der Arbeit zu stören. Erst, nachdem der letzte Gast gegangen war, setzte sich Nate zu ihr an den Tisch.
Für Frankie war in der Zwischenzeit an konzentrierte Arbeit nicht zu denken. Deshalb schob sie die Belege auf ihrem Schreibtisch zur Seite und holte die Zeitung hervor, in der die Restaurantkritik über das White Caps stand.
Endlich ein Durchbruch! Lächelnd las sie den durchweg positiven Artikel – bis sie zu dieser Stelle kam:
Nathaniel Walker, das schwarze Schaf der wohlhabenden und einflussreichen Familie Walker, macht seit zehn Jahren in der kulinarischen Szene von sich reden. Nach drei Jahren im Pariser Maxim’s kehrte der Walker-Erbe zu dem Familiensitz in New York zurück, wo er zunächst im La Nuit für Furore sorgte …”
Der Walker-Erbe. Natürlich. Nate – die Abkürzung von Nathaniel. Sie hatte doch gleich gewusst, dass sie den Namen schon mal gehört hatte. Der Gouverneur von Massachusetts hieß ebenfalls Walker. Das musste Nates Bruder sein – der, der “viel für die Gesellschaft” tat. Die Walkers waren nicht nur wohlhabend, sie waren unverschämt reich.
Frankie ließ die Zeitung sinken. Wie konnte Nate es wagen, sie so zu belügen?
Wie aufs Stichwort erschien er im Türrahmen. “Hey, heute Abend war es noch voller als sonst, was? Hör zu, wegen Mimi …”
“Ja, reden wir über Mimi”, unterbrach Frankie ihn ärgerlich. “Danke, dass du mir so rechtzeitig Bescheid sagst.”
Eigentlich war sie wegen Nates Geheimnistuerei hinsichtlich seiner Familie wütend, aber die arrogante Blondine bot auch ein gutes Ziel.
“Was ist?”
“Wann wolltest du mir denn sagen, dass du gehst? Einen Tag vorher?” Sie sprang auf. “Ich kann nicht glauben, dass du mich mitten in der Saison einfach im Stich lässt. Du hast versprochen, bis zum Labor Day zu bleiben!”
“Frankie, hör zu …” Besorgt kam er auf sie zu.
“Ich bin so ein Idiot.” Ihre Stimme überschlug sich. “Ich habe dir vertraut, mich dir geöffnet. Wie konnte ich nur so dumm sein?”
“Frankie, ich gehe doch gar nicht. Ich bleibe hier. Du kennst doch meine Pläne. Und ich möchte, dass du dazugehörst. Komm mit mir nach New York.”
“Und du glaubst, dass Miss Er-kennt-meine-Vorlieben damit einverstanden wäre?”
“Mimi war hier, weil sie …”
“Sie ist der ideale Partner für dich. Ihr werdet das goldene Traumpaar der Restaurantszene.”
“Hör doch bitte mal zu …”
“Obwohl ich ihren Ausschnitt etwas zu tief fand. Aber vielleicht will sie ja ein Striplokal aufmachen …”
Nate schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. “Wieso interessiert es dich überhaupt, mit wem ich ein Restaurant aufmache? Du wirst White Caps doch sowieso nie verlassen. Du versteckst dich lieber hinter deiner Familie, statt dein eigenes Leben zu leben.”
Frankie zuckte zusammen, fing sich aber schnell wieder. “Ach ja, Familie, das ist auch ein guter Punkt. Nathaniel Walker, der Erbe einer der reichsten Dynastien der Ostküste. Wann wolltest du mir sagen, dass du im Geld schwimmst? Oder dachtest du, du würdest mich nicht mehr ins Bett bekommen, wenn ich’s weiß – wo ich doch reiche Männer nicht ausstehen kann!”
Wütend funkelte Nate sie an. “Ist es dir mal in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht nicht gelogen habe? Hast du auch nur eine Sekunde daran gedacht, dass …”
“Willst du damit behaupten, dass die New York Times schlampig recherchiert?”
Nate schüttelte den Kopf. “Dein Vertrauen in mich ist einfach umwerfend.” Er fluchte leise, drehte sich um und ging zur Tür.
“Oh nein, wage es nicht, jetzt mir die Schuld zu geben”, rief Frankie und folgte ihm. “Ich habe dich nach deiner Familie gefragt – zwei Mal sogar. Und das war, nachdem ich dir von dem Fiasko mit David erzählt habe. Was soll ich denn sonst denken, nachdem ich es aus der Zeitung erfahre?”
Nate blieb stehen, doch er schwieg.
“Und nicht mal jetzt willst du mir die Wahrheit sagen”, murmelte sie enttäuscht.
Nate wirbelte herum und kam mit großen Schritten auf sie zu, sodass sie erschrocken zurückwich. “Die Wahrheit willst du wissen?”, brüllte er. “Ich erzähle nie jemandem von meiner Familie. Ich bin kein Walker-Erbe. Mein Vater hat mich enterbt, als ich mich für die Kochschule angemeldet habe. Auf meinem Konto liegen gerade mal 100.000 Dollar, und das auch nur, weil ich bis zum Umfallen gearbeitet und jeden Cent gespart habe.”
Frankie stieß im Rückwärtsgehen gegen den Schreibtisch und stützte sich instinktiv auf.
Nate sprach jetzt leiser, aber seine Stimme zitterte. “Willst du wissen, warum ich nie von meiner Familie rede? Weil ich nicht das Gefühl habe, dazuzugehören. Meine Eltern haben mir immer nur gesagt, dass ich nicht so bin, wie sie mich haben wollten. Aber vor allem liegt es daran, dass die letzte Frau, die wusste, dass ich einer von diesen Walker bin, mein Kind abtrieb, als sie herausfand, dass ich keinen Cent erben würde.”
Frankie spürte, dass sie blass wurde. “Oh, Nate …”
“Ich habe mein Kind verloren. Ich wollte sie heiraten, als sie mir sagte, dass sie schwanger ist, aber dann hat sie mitbekommen, dass ich es mir nicht leisten konnte, ihr einen Einkaräter zu schenken, und sie fuhr in eine Klinik.”
Seine Augen glänzten feucht. “Ich hasse meinen Namen. Ich hasse mein Elternhaus. Und mich einen Lügner zu nennen, weil ich meine Herkunft verschweige, setzt allem die Krone auf.”
So langsam wurde Frankie einiges klar. Seine Panik in der ersten Nacht, als sie keine Verhütung hatten. Warum er Kindern aus dem Weg ging. Sein altes Auto. Seine abgewetzten Klamotten. Dass er nun schon seit Monaten nach einem Restaurant suchte, statt einfach eins zu kaufen, das ihm gefiel.
“Es tut mir so leid”, flüsterte sie.
Nate atmete tief durch und ließ sich in den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. “Ach, verdammt”, seufzte er.
“Ich konnte doch nicht wissen …”
“Nein, konntest du nicht”, sagte er etwas ruhiger und griff nach ihrer Hand.
Sie streichelte seine Schulter.
“Ich denke immer, dass ich irgendwann darüber hinwegkomme, weißt du. Aber immer wenn ich ein Kind sehe, stelle ich mir sofort vor, wie alt meines jetzt wäre. Und mache mir Vorwürfe.”
“Aber du hast diese Entscheidung nicht getroffen.”
“Ich hätte es irgendwie wissen müssen. Ich hätte kämpfen sollen, sie überzeugen, was weiß ich. Aber ich habe es ja erst herausgefunden, als es schon zu spät war …”
“Es war nicht deine Schuld. Dir wurde etwas sehr Wertvolles genommen, aber du konntest nichts dafür.”
“Und das sagst gerade du”, erwiderte er sanft.
Frankie dachte daran, wie sie auf dem Bootssteg gewartet hatte. “Das ist was anderes.”
“Inwiefern?”
“Weiß ich auch nicht.”
“Weil es dir passiert ist?”
“Vielleicht.”
Er zog sie auf seinen Schoß. “Es ist viel einfacher, anderen zu vergeben, nicht? Bei uns selbst sind wir nicht so großzügig.”
Nachdenklich nickte sie, und sie blieben eng aneinandergekuschelt sitzen. Nach einer Weile sagte er übergangslos: “Ich werde nicht für Mimi arbeiten. Das habe ich ihr im Frühjahr schon gesagt. Als sie die Kritik in der Times gelesen hat, wollte sie noch mal versuchen, mich zu überreden. Aber ich habe ihr klipp und klar gesagt, dass ich mich von meinem Weg nicht abbringen lasse, nicht einmal vom Cosmo.”
“Und wenn du nichts Geeignetes findest?”, fragte Frankie. Sie hoffte, dass er dann vielleicht bleiben würde.
“Dann werde ich weitersuchen, und wenn es zehn Jahre dauert”, erwiderte er. “Ich musste immer für das kämpfen, was ich wollte. Meine Eltern haben meine Arbeit nie respektiert, weil ich kein Anwalt oder Banker werden wollte. Ich sollte eine Frau aus unseren Kreisen heiraten und in den Countryklub gehen und Golf spielen. Aber ich war immer schon anders. Meine Freunde waren Heavy-Metal-Fans und hatten Tattoos. Ich spielte Hockey, brach mir die Nase und verlor meinen Schneidezahn. Und mein Harvard-Studium habe ich mit Hängen und Würgen geschafft – nicht, weil es zu schwer war, sondern weil es mich einfach nicht interessierte.”
Bewegt strich sie ihm durchs Haar. Es tat gut, endlich Antworten auf ihre vielen Fragen zu bekommen.
“Ich werde nicht aufgeben. Ich will mein eigenes Restaurant, in dem ich selbst bestimmen kann. Dann redet mir niemand mehr rein, und niemand kann es mir wegnehmen.”
“Und das wirst du auch schaffen”, sagte sie mit Überzeugung, obwohl ihr das Herz brach. Sie würden getrennte Wege gehen. Und es blieben ihnen nur noch vier kurze Wochen.
Er sah zu ihr auf. “Ich habe das erst gemeint, Frankie. Ich möchte, dass du mitkommst. Es ist bewundernswert, was du mit so wenig Mitteln hier auf die Beine stellst. Mit etwas mehr Kapital können wir zusammen Großes schaffen.”
“Schsch”, flüsterte sie und küsste ihn auf die Stirn.
“Ich habe das vorher schlecht ausgedrückt, aber du kannst doch wirklich nicht nur für deine Familie leben. Es bringt deine Eltern nicht zurück, wenn du hier bleibst und dich zu Tode arbeitest.”
Als sie aufstand, hielt er sie nicht fest. “Das weiß ich doch”, sagte sie leise.
“Wirklich?”
Sie ging zum Fenster und blickte auf den See hinaus. Wie sollte er, der seine Familie hasste, verstehen, was sie mit Joy und Grand-Em verband? Aber dann dachte sie noch einmal über seine Worte nach. Wenn sie nur für ihre Familie hier lebte, wie sahen denn dann ihre eigenen Wünsche aus? Vielleicht lag das Problem wirklich bei ihr, und sie hing zu sehr in der Vergangenheit fest.
“Vielleicht hast du recht”, sagte sie leise. Zum ersten Mal überhaupt versuchte sie, sich ein Leben ohne ihre selbst aufgeladene Verantwortung vorzustellen. Wenn Joy nicht mehr hier leben wollte, wenn Grand-Em starb, was würde sie dann tun?
Ganz langsam formte sich ein Bild in ihr. Nein, White Caps war nicht nur eine Last, die sie für ihre verstorbenen Eltern weitertrug. Es war ihr Zuhause, unabhängig von den anderen.
Langsam drehte sie sich um. “Weißt du, mir gefällt es hier wirklich. Sicher, manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, in New York zu leben – aber ich bin sicher, dass der Reiz des Neuen schnell nachlassen würde. Als ich jünger war, damals mit David, war das was anderes. Ich war eine andere. Aber jetzt habe ich meinen Lebensrhythmus gefunden – und das White Caps gehört einfach dazu.”
Wie seltsam, dass sie das erst heute erkannt hatte.
“Ich will weiter mit dir zusammen sein”, sagte er eindringlich.
Überwältigt schloss sie die Augen. Also war es für ihn doch nicht nur eine Affäre. Sie spürte, wie eine gewaltige Anspannung von ihr abfiel. “Ich will auch nicht, dass es zwischen uns endet”, erwiderte sie.
“Ich habe nicht damit gerechnet, dass Gefühle ins Spiel kommen”, sagte er und stand auf.
“Ich auch nicht.”
Lächelnd beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie leicht. “Zum Glück gibt es einen Schnellzug von Albany nach New York.”
“Und sogar einen Direktflug”, murmelte sie.
Diesmal küsste er sie länger, und sie schmiegte sich in seine Arme. Trotzdem war sie nicht von einer gemeinsamen Zukunft überzeugt. Eine Fernbeziehung zwischen zwei Geschäftsleuten, wie sollte das funktionieren? Nate musste rund um die Uhr arbeiten, um mit seinem neuen Restaurant Erfolg zu haben – und sie würde weiter um den Erhalt des White Caps kämpfen. Im Alltag würden sie sich Stück für Stück voneinander entfernen.
Prüfend sah er sie an. “Du siehst nicht glücklich aus.”
Sie schüttelte den Kopf und streichelte sein Gesicht: “Warum an die Zukunft denken, wenn wir den Augenblick haben? Lass uns nach oben gehen. Ich will dich spüren – ganz.”