3. KAPITEL
Nate wachte davon auf, dass ihn etwas am Hals juckte. Er rieb im Halbschlaf über die Stelle, fluchte leise, als es nicht aufhörte, und öffnete die Augen.
Im ersten Moment wusste er nicht gleich, wo er sich befand, und schaute sich verwirrt im Zimmer um. Kiefernmöbel, zwei schmale Fenster, ein bequemes Bett. Geschlafen hatte er jedenfalls gut.
Er setzte sich auf und beugte sich vor, um aus dem Fenster zu schauen. In der Ferne schimmerte Wasser.
Der See. Die Adirondack Mountains. Frankie.
Er lachte leise, als er an seine neue dickköpfige Chefin dachte. Sie konnte einen bis zur Weißglut treiben, aber er mochte sie. Mehr als das, sie faszinierte ihn.
Kopfschüttelnd dachte er daran, wie nachdrücklich sie ihn gewarnt hatte, etwas mit ihrer Schwester anzufangen. Wenn sie nur wüsste, dass da überhaupt keine Gefahr bestand! Sicher, als er Joy zum ersten Mal gesehen hatte, war er von ihrer überirdischen, zerbrechlichen Schönheit beeindruckt gewesen – aber mehr im künstlerischen Sinn. Als Mann gefielen ihm richtige Frauen viel mehr als engelhafte Wesen. Starke Frauen. So wie Frankie.
Ob er es wohl schaffen würde, ihre harte Schale zu knacken? Pfeifend schwang er die Beine aus dem Bett und kratzte sich dabei wieder am Hals. Das fast unerträgliche Jucken ließ kurz nach, setzte dann aber wieder ein. Ein schlechtes Zeichen.
Er stand auf, merkte dabei, dass sein Knöchel bei Belastung noch immer schmerzte, und humpelte zum Spiegel.
Von seinem linken Ohr bis zum Schlüsselbein zog sich eine Reihe von winzigen, geröteten Bläschen. Verflixt. Gift-Efeu!
Das Grünzeug, das im Graben seinen Sturz gedämpft hatte, gehörte wohl zu diesen heimtückischen Arten, bei denen der kleinste Kontakt zu allergischen Reaktionen führte. Zum Glück hatte er die Lederjacke angehabt und war nicht mit dem Gesicht in den Ranken gelandet – aber schon diese relativ kleine Stelle würde ihn mindestens eine Woche quälen, bis sie abgeheilt war.
Er nahm sich ein Handtuch aus der Kommode und ging ins Bad. Sicher wollten die Pensionsgäste bald frühstücken. Er duschte, zog die Sachen vom Vortag an und machte sich auf in die Küche.
In der Kühlkammer fand er zwar Milch, Eier, Käse und ein paar frische Gemüsesorten, aber ansonsten sah es schlecht aus. Wenn er verwöhnten Pensionsgästen ordentliche Mahlzeiten bieten sollte, brauchte er zumindest Feta- und Ziegenkäse, Artischocken und Frühlingszwiebeln. Immerhin entdeckte er noch ein Körbchen frischer Blaubeeren.
Die Situation in der Fleischabteilung war besser: Rindfleisch, Lammrücken und ein Truthahn. Es gab also Hoffnung.
Es war erst kurz vor sechs, also hatte er genügend Zeit, fürs Frühstück seine berühmten Blaubeer-Muffins zu backen. Als Nate eine halbe Stunde später das erste Blech aus dem Ofen nahm, hörte er Schritte auf der Treppe und lächelte Frankies Schwester an, die hereinkam.
“Guten Morgen, Engelchen.”
“Mmmmh, die sehen lecker aus”, erwiderte Joy, beugte sich über das Blech und atmete den Duft ein.
“Nimm dir eins.”
“Nein, die sind doch für die Gäste.”
“Das ist nur das erste Blech. Und du siehst aus, als solltest du mal wieder ordentlich frühstücken.” In dem übergroßen Bademantel wirkte sie noch zierlicher.
“Kann ich irgendwas tun?”, fragte sie.
“Du könntest Kaffee kochen. Und die Tische eindecken.”
“Mach ich, kein Problem.”
“Wunderbar.” Bisher hatte Nate dem Drang, sich die wunde Stelle am Hals zu kratzen, heldenhaft widerstanden, aber so langsam wurde das Jucken unerträglich, und er verzog das Gesicht.
“Ist alles okay?”, fragte Joy besorgt.
“Ja, bis auf die Stelle, wo der Gift-Efeu mich erwischt hat.”
“Ach je, du Armer. Lass mal sehen.” Joy kam auf ihn zu und stellte sich auf Zehenspitzen, um die Pusteln zu begutachten.
Frankie streckte sich genüsslich. Sie musste besonders gut geschlafen haben, denn sonst war sie um diese Zeit nicht so ausgeruht. Ein Blick auf die Uhr vertrieb ihr Behagen. Verflixt!
Sie hatte vergessen, den Wecker zu stellen, und jetzt war es schon Viertel nach sieben! In Windeseile zog sie sich an. Als sie sich das Haar zu einem Knoten aufsteckte, stieg ihr ein verführerischer Duft in die Nase, und sie hielt kurz inne. Nate musste schon bei der Arbeit sein.
Im Laufschritt stürzte sie in die Küche – und blieb dann unvermittelt stehen. Hinter der Arbeitsfläche standen ihr neuer Koch und ihre Schwester so nah beieinander, dass sie sich hätten küssen können. Nate hielt den Kopf gesenkt, und Joy balancierte auf Zehenspitzen, um an sein Ohr heranzureichen. Flüsterte sie ihm etwas zu? Berührte sie ihn etwa? Und dabei trug sie nur einen Bademantel!
“Tut mir leid, wenn ich störe”, sagte Frankie laut. “Aber vielleicht sollten wir lieber ans Frühstück denken?”
Joy wurde rot und trat einen Schritt zurück, doch Nate hob völlig gelassen den Kopf.
“Das Frühstück ist schon fertig”, antwortete er und deutete auf das Blech mit den Muffins. “Und die Gäste sind noch nicht mal aufgestanden.”
“Joy? Bitte lass mich und Mr. …” Herrgott, sie wusste nicht mal seinen Nachnamen, “äh, einen Moment allein.”
Als Joy hinausgegangen war, starrte Frankie den neuen Koch wütend an. “Welchen Teil von ‘Finger weg’ verstehen Sie eigentlich nicht?”
Er wandte sich ab und spähte konzentriert in den Backofen. “Sind Sie morgens immer so gut gelaunt?”
“Antworten Sie mir!”
“Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?”
“Verdammt, wollen Sie mir jetzt endlich erklären, was Sie mit meiner Schwester gemacht haben?”
“Nein, eigentlich nicht.”
Je mehr sie sich aufregte, desto ruhiger wurde er, und so langsam wusste sie nicht mehr, was sie machen sollte. “Ich dachte, wir hätten eine Abmachung? Entweder halten Sie sich von Joy fern, oder Sie sind gefeuert.”
Er lachte laut. “Und was, glauben Sie, hatte ich vor? Dachten Sie, ich würde sie auf den Küchenboden werfen, sie aus dem Bademantel wickeln und …”
Entnervt hob Frankie die Hand. “Sie brauchen nicht ins Detail zu gehen.”
“Und Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.”
Zweifelnd sah sie ihn an. Einem Mann wie ihm konnte keine Frau trauen. Und wenn er es mit seinen braunen Augen schaffte, sogar sie durcheinanderzubringen, wie sollte dann Joy ihm widerstehen?
Liebe Güte, was hatte sie sich da nur eingebrockt? Sie kannte nicht mal seine Referenzen. Am Ende war er ein Serienmörder oder wurde wegen Vergewaltigung gesucht!
Vor Frankies Augen liefen gleich mehrere Horrorszenarien ab. Wenn Joy etwas zustieß, würde sie sich das niemals vergeben, und …
“Gift-Efeu”, sagte er trocken.
“Wie bitte?”
“Sie hat sich meinen Ausschlag vom Gift-Efeu angeschaut. Hier, sehen Sie?” Er zeigte auf seinen Hals. Als sie sich nicht rührte, bemerkte er: “Sie können ruhig näher kommen, ich beiße nicht. Es sei denn, man bittet mich darum.”
Widerstrebend ging sie auf ihn zu. Tatsächlich war die Haut gerötet und mit den typischen Bläschen übersät.
“Das muss scheußlich jucken”, sagte sie statt einer Entschuldigung.
“Ja, angenehm ist es nicht gerade.” Damit drehte er sich um und holte ein zweites Blech mit goldgelben, duftenden Muffins heraus.
“Möchten Sie einen? Ich hab Ihre Schwester auch schon gefragt, aber sie wollte nicht.”
Er nahm einen der Muffins und brach ihn auseinander, bestrich ihn mit Butter und reichte ihr die dampfende Hälfte.
Nach kurzem Zögern nahm sie an, pustete auf das heiße Gebäck und biss schließlich ab. Wider Willen schloss sie genüsslich die Augen, als sich der köstliche Geschmack in ihrem Mund ausbreitete.
“Nicht schlecht, was?”, fragte er lachend.
Ja, kochen konnte er wirklich, und backen offenbar auch. Trotzdem würde sie ihn nach seinen Referenzen fragen.
“Lecker”, bestätigte sie trocken. “Ich bräuchte übrigens Namen und Telefonnummer von Ihrem letzten Arbeitgeber. Und Ihren Nachnamen natürlich.”
“Walker. Ich heiße Walker.”
Nathaniel Walker? Der Name kam ihr bekannt vor, doch ihr wollte nicht einfallen, woher. Bevor sie fragen konnte, fuhr er fort: “Und mein letzter Arbeitsplatz war das La Nuit in New York. Fragen Sie nach Henri, er wird Ihnen alles erzählen.”
Jetzt machte Frankie große Augen. Ja, vom La Nuit hatten sie selbst hier im Hinterland schon gehört. Es war eins dieser Vier-Sterne-Restaurants, das in den teuren Magazinen besprochen wurde, die die Gäste manchmal hier liegen ließen. Wieso hatte jemand wie er dort gearbeitet?
“Ach übrigens, ich wollte Sie wegen der Vorräte fragen”, fuhr er fort. “Wann wird geliefert?”
“Samstags und mittwochs Gemüse und Fleisch, die Milchprodukte montags und bei Bedarf freitags.”
“Gut. Wie erreiche ich den Lieferanten? Vielleicht erwische ich ihn noch.”
“Sie wollen mit Stu reden?”
Nate runzelte die Stirn. “Ja, natürlich. Oder kann er Gedanken lesen?”
“Ich mache die Bestellungen. Sagen Sie mir, was Sie brauchen.”
“Das kann ich erst sagen, wenn ich in etwa weiß, was er liefern kann.”
Sie deutete auf die Kühlkammer. “Alles das, was wir schon haben.”
Nate verschränkte die Arme vor der Brust. “Ich dachte, ich soll hier kochen?”
“Ja und?”
“Dann lassen Sie mich meinen Job machen.”
Am liebsten hätte sie ihn darauf hingewiesen, dass das hier immer noch ihre Küche war, aber ohne ihn konnte sie leider nicht viel damit anfangen. Also atmete sie tief durch und erklärte: “Wie Sie selbst schon festgestellt haben, hat das White Caps gewisse finanzielle Schwierigkeiten. Es gibt für alles ein festes Budget, das auf keinen Fall überschritten werden darf, und ich werde ganz sicher nicht zusehen, wie Sie in der Küche das Geld zum Fenster hinauswerfen.”
“Aha. Aber Sie wünschen sich doch sicher ein paar mehr Gäste als gestern? Und dass die Leute wiederkommen, wenn sie einmal hier waren? Dann brauchen Sie die entsprechende Speisekarte dafür. Mit Kantinenessen kommen Sie da nicht weiter. Man muss Geld ausgeben, wenn man Geld verdienen will, Herzchen.”
“Ach ja, und was verstehen Sie davon, wenn ich fragen darf?” Sie deutete auf seine abgerissene Kleidung. “Wollen Sie mir etwa erzählen, wie man ein Restaurant führt?”
“Jetzt steigen Sie aber mal von Ihrem hohen Ross”, entgegnete er und trat einen Schritt auf sie zu. “Sie wissen doch gar nichts über mich – außer, dass Sie mich wirklich brauchen.”
Erschrocken riss Frankie die Augen auf. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand ihr die Stirn bot, und wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte. Schließlich trat sie einen Schritt zurück und hob kämpferisch das Kinn. “Ich weiß aber, dass Sie für mich arbeiten und dass ich deshalb das Sagen habe.”
Schweigend starrte er sie an, und sie dachte schon, dass er gleich wieder kündigen würde. Angesichts ihrer Kochkünste war das zwar schade, aber wenn er sich ihren Anordnungen nicht fügte, wollte sie ihn nicht im Haus haben.
Wenn man genügend Geld zur Verfügung hatte, konnte man ja vielleicht großzügig damit umgehen, aber sie musste jeden Cent zweimal umdrehen.
“Hören Sie”, begann sie etwas versöhnlicher, “schreiben Sie doch einfach eine Liste mit den Sachen, die Sie gerne hätten, und ich sehe, was ich machen kann, okay? Und hören Sie auf, sich zu kratzen. Ich fahre nachher in die Stadt und bringe Ihnen aus der Apotheke Salbe mit.”
Damit ging sie hinaus, denn noch mehr Zeit für lange Diskussionen hatte sie wirklich nicht. Sie musste ins Büro und ihr Budget neu kalkulieren, um irgendwie noch Geld für den Klempner rauszuholen.
Nate stützte sich auf die Arbeitsfläche und versuchte, sich zu beruhigen. Was dachte sie denn wohl, was er bestellen würde? Trüffel, Gänseleberpastete und Kaviar? Er wusste doch, wie schlecht es um das White Caps stand. Trotzdem brauchte er ein paar ordentliche Zutaten.
Einen Moment später beschloss er, nach ihren Regeln zu spielen – eine Weile jedenfalls. Er würde ihr Listen vorlegen und ihr beweisen, dass man ihm vertrauen konnte. Wenn sie merkte, dass er nicht auf den Kopf gefallen war, würde sie ihn schon in Ruhe lassen. Als Hotelmanagerin sollte sie sich um die Gäste und die Buchhaltung kümmern, nicht darum, ob er vier oder fünf Köpfe Eisbergsalat bestellte.
Liebe Güte, wie lange war es her, dass er eine Lieferliste zur Prüfung hatte abgeben müssen?
Sein Plan schien zunächst daran scheitern zu wollen, dass es in der Küche kein Papier gab. Also ging er ins Büro, wo er Frankie dabei antraf, wie sie versuchte, den schweren Schreibtisch unter dem Loch in der Decke wegzuschieben.
“Warten Sie, ich helfe Ihnen”, bot er an.
“Geht schon, danke.”
Doch es ging ganz offensichtlich nicht, also trat er ein, hob das entgegengesetzte Ende an und zog den Schreibtisch zum Fenster. Danach nahm er den ebenfalls massiven Stuhl und trug ihn an seinen neuen Platz.
“Hätten Sie ein Blatt Papier für mich?”, fragte er beiläufig, als er sah, wie überrascht sie von seinem Eingreifen war.
“Dort drüben im Schrank.”
Er nickte kurz, nahm sich, was er brauchte, und ließ sie wieder allein. Sie würde sich wohl daran gewöhnen müssen, nicht mehr alles selbst zu machen.
Völlig verblüfft legte Frankie den Telefonhörer auf. Der Besitzer des La Nuit hatte in den höchsten Tönen von Nate geschwärmt. Laut Henri hatte Nate das Culinary Institute of America, die berühmteste Kochschule des Landes, mit Auszeichnung abgeschlossen, und danach in Paris gearbeitet.
Ein echter Glücksfall also. Wenn er lange genug blieb, würde sich sein Können zumindest in der Gegend herumsprechen, und dann kamen vielleicht den Sommer über mehr Restaurantgäste. Und danach konnten sie vielleicht …
Als Frankie aufschaute, sah sie Nate in der Tür stehen. Sie versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen, und hob fragend die Augenbrauen.
“Hier ist meine Liste, Boss.” Wieder klang die Anrede wie ein Kosename. Er kam an den Schreibtisch und reichte ihr das Blatt. Seine Handschrift war ordentlich, die Liste nach Nahrungsmittelgruppen geordnet und sehr übersichtlich.
“Ich bin davon ausgegangen, dass wir nächste Woche nicht mehr als zehn Gäste am Abend haben. Ach ja, und ich werde die Speisekarte ändern. Was Sie jetzt anbieten, ist zu langweilig.”
Sie nickte abwesend. “Ich habe gerade mit Henri gesprochen.”
Nate lächelte. “Wie geht es dem alten Drachen?”
“Er hat mir erzählt, dass Sie … sehr gut sind.”
“Deshalb habe ich ihn ja als Referenz genannt. Ich dachte mir, dass Sie dann endlich aufhören, sich Sorgen zu machen. Ich habe übrigens keine Vorstrafen und bin noch nie verhaftet worden. Allerdings bezahle ich meine Strafzettel nie, ist das ein Problem?”
Frankie unterdrückte ein Lächeln. “Ich verstehe nur eins nicht …”
“Nämlich?”
“Wieso nimmt jemand mit Ihrem Können einen Job wie diesen an?”
Lässig zuckte er die Achseln. “Ich brauche das Geld. Und es ist ja nur für den Sommer.”
“Aber warum suchen Sie sich dann nicht ein Restaurant wie das La Nuit? Dort würden Sie viel mehr verdienen.”
Nate schien zu überlegen, wie offen er bei seiner Antwort sein sollte, dann erwiderte er: “Ein Freund und ich wollen unser eigenes Restaurant eröffnen. Wir suchen jetzt schon seit vier Monaten – in New York City, Boston, Washington D.C. und Montreal, aber bis jetzt war noch nicht das Richtige dabei.” Er grinste. “Oder vielleicht sollte ich sagen, es war noch nichts dabei, was wir uns leisten konnten. Im Moment lebe ich von meinen Ersparnissen, die eigentlich für die Anzahlung gedacht sind. Und da mein Auto nun mal vor Ihrer Haustür den Geist aufgegeben hat, kann ich den Sommer über genauso gut hierbleiben und im Herbst weitersuchen.”
“Tja, das leuchtet mir ein.”
“Außerdem fällt es mir schwer, Nein zu sagen, wenn ich für jemanden wie Sie arbeiten kann.”
Überrascht blickte sie auf. “Wie mich?”
Wie in Zeitlupe ließ er den Blick von ihren Augen zu ihren Lippen wandern, sodass sie unwillkürlich den Atem anhielt. Wieso schaute er sie an, als ob er sie küssen wollte? Das musste ein Irrtum sein. Unbehaglich wandte sie den Kopf ab, als sie die Spannung nicht mehr aushielt.
“Hey, Herzchen”, sagte er leise.
Sie atmete tief durch und sah ihn wieder an. Eigentlich sollte sie sich diese Anrede verbitten, aber sie gefiel ihr sogar.
“Lächeln Sie doch mal für mich. Unterdrücken Sie es diesmal nicht.”
“Vielleicht später”, erwiderte sie errötend.
“Ich kann warten”, sagte er lächelnd. Und damit wandte er sich um und ging hinaus.
Frankie stützte den Kopf in die Hände. Sie war nun wirklich keine Frau, die auf Süßholzgeraspel hereinfiel. Doch obwohl sie genau wusste, dass er es nicht so meinte, wirkte sein Charme entwaffnend. Schon allein seine tiefe, ruhige Stimme ließ ihr Herz höher schlagen.
Das war gar nicht gut.
Sie hatte schon genug Probleme, auch ohne dass sie sich von ihrem neuen Koch den Kopf verdrehen ließ.
Als das Telefon klingelte, war sie für die Ablenkung dankbar – bis sich herausstellte, dass der Anrufer seine Reservierung für das kommende Wochenende absagen wollte. Nach dem Gespräch schaute sie nachdenklich aus dem Fenster. Der Rasen musste schon wieder gemäht werden. Mit dem altmodischen mechanischen Mäher würde das wieder Stunden dauern, doch der Rasentraktor hatte schon lange den Geist aufgegeben.
Der Blick auf ihren Schreibtisch war leider auch nicht erfreulicher. Dort lag das Schreiben ihrer Bank, in dem man sie informierte, dass sie mit ihren Hypothekenzahlungen sechs Monate im Rückstand war. Ihr Berater, Mike Roy, hatte handschriftlich darunter notiert: Wir finden schon einen Weg, lassen Sie uns bald mal einen Termin ausmachen.
Was für ein Glück, dass sie es mit Mike zu tun hatte, der immer wieder ein Auge zudrückte! Es lief immer nach dem gleichen Muster – bis zum Sommer geriet sie mit den Zahlungen in Rückstand, konnte die fehlende Summe aber nach der Feriensaison auf einen Schlag abzahlen. Bis zum letzten Jahr – da hatte sich das Minus nicht einmal nach der Hauptsaison ausgleichen lassen.
Vielleicht kam sie irgendwann doch nicht mehr drum herum, das Haus zu verkaufen. Bisher hatte sie diesen Gedanken immer weit von sich gewiesen, aber wie lange würde sie noch durchhalten?
Allein die Vorstellung trieb ihr die Tränen in die Augen. Ihr einziges Zuhause aufgeben? Das Familienerbe Fremden überlassen? Undenkbar!
Irgendwie musste es weitergehen. Das Einzige, was ihr von ihren Eltern noch blieb, war das White Caps. Und sie hatte nicht ein ganzes Leben lang geschuftet, um ihr Erbe jetzt doch noch zu verlieren.
Vielleicht lief diese Saison besser. Immerhin hatte sie jetzt Nate, einen ausgebildeten Spitzenkoch. Und sie konnte mal wieder einen Artikel über das Lincoln-Zimmer an die Zeitungen der Umgebung schicken. Am Wochenende vor dem Labor Day waren sie normalerweise ausgebucht, und außerdem ging es mit dem Tourismus insgesamt wieder aufwärts.
Nein, wenn sie nur durchhielt, würde alles wieder gut. Mit einem Blick auf die Uhr stand sie auf und griff nach ihrer Handtasche. Sie musste in die Stadt, um Geld aufs Konto einzuzahlen und ein paar Besorgungen zu erledigen. Danach war der Rasen dran.
Sie ging durch die Küche, wo Nate am Herd stand, und rief die Treppe hinauf: “Joy, ich fahre in die Stadt, brauchst du etwas?”
“Können Grand-Em und ich mitkommen?”
“Na gut, aber beeilt euch.”
Während sie wartete, schaute sie Nate zu. “Das riecht gut. Was wird das?”
“Brühe aus den Überresten des Huhns.”
Fasziniert beobachtete sie, wie er mit Überschallgeschwindigkeit eine Zwiebel würfelte. “Ach ja, ich habe dem Abschleppwagen gesagt, dass er Lucille herbringt, ist das okay? Ich muss erstmal rausfinden, was sie hat”, bemerkte er.
Autos kann er auch noch reparieren, dachte sie. Und er gibt ihnen Namen.
“Kein Problem. Stellen Sie sie in die Scheune hinterm Haus.”
“Danke.”
Kurz darauf erschien Joy mit Grand-Em, die wie immer in großer Robe auftrat. Diesmal war es ein fliederfarbenes Satinkleid, das mindestens fünfzig Jahre alt war, aber immer noch schön aussah. Irgendwie schaffte es Joy, die Kleider in Form zu halten. Sie verbrachte Stunden damit, sie von Hand auszubessern, und das schon seit Jahren. Frankie bewunderte ihre Geduld.
“Brauchen Sie irgendwas?”, fragte sie Nate.
Er grinste. “Nichts, was man kaufen kann.”
Frankie presste die Lippen aufeinander und verließ fluchtartig die Küche. Schlimm genug, dass der neue Koch ständig mit ihr flirtete – aber wieso ließ sie sich davon auch noch so durcheinanderbringen?