6. KAPITEL

Eine Woche verging, und Frankie war sehr stolz darauf, dass sie der ständigen Versuchung nicht nachgab. Allerdings konnte sie den Kuss auch nicht vergessen – es hatte seinen Preis, so standhaft zu sein.

Am schlimmsten waren die Nächte. Sie bemühte sich, vor Nate ins Bett zu gehen, und signalisierte ihm mit ihrer geschlossenen Tür, dass sie kein Interesse hatte. Dumm nur, dass sie sich wünschte, er würde trotzdem reinkommen, wenn er an ihrem Zimmer vorbeiging.

In der Küche konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Selbst wenn er nur Kartoffeln schälte, schaute sie ihm fasziniert dabei zu, weil er so schöne Hände hatte. Lange, kräftige Finger und große Handteller. Wie es wohl wäre, wenn diese Hände ihren Körper streichelten?

Schließlich war sie so gestresst, dass nur noch Marmelade half. Marmelade kochen, nicht essen, wohlgemerkt. Diese Stressreaktion hatte sie von ihrer Mutter geerbt, und sie war nicht besonders praktisch, denn nicht immer gab es die passenden Früchte dazu. Frankie wünschte sich oft, dass Stricken denselben beruhigenden Effekt auf sie hätte, aber andererseits liebten ihre Gäste die selbst gemachten Köstlichkeiten zum Frühstück, also war die Zeit, die sie am Herd stand, nicht ganz verloren.

Nate starrte sie entgeistert an, als sie ihn entschlossen vom Herd wegschob, einen riesigen Topf aufsetzte und mindestens fünf Kilo Erdbeeren und die entsprechende Menge Zucker hineingab. Natürlich würde sie soviel Frühstücksmarmelade niemals loswerden, selbst wenn sie für den Rest des Jahres ausgebucht waren, aber die Gäste freuten sich immer, wenn sie ihnen als Abschiedsgeschenk ein Glas mitgab. Und wenn Stu keine Erdbeeren mehr liefern konnte, würde sie Rhabarberkompott kochen. Dann war schon bald Himbeerzeit, und danach kamen die Blaubeeren.

Wenn es sein musste, würde sie auch aus Gras Marmelade machen, Hauptsache sie schaffte es, die Finger von Nate zu lassen.

Wenigstens schien seine Anwesenheit dem White Caps wirklich gut zu bekommen. Zum ersten Mal seit Monaten waren sie an einem Wochenende voll ausgebucht – und das unter anderem auch deshalb, weil ausgerechnet der nörgelige Mr. Little sie anscheinend in seinem Freundeskreis weiterempfohlen hatte. Inzwischen hatte auch der Klempner die undichte Stelle gefunden, die an der Überschwemmung im Büro schuld war, und hatte sich an die Reparatur gemacht.

Eine Stunde später standen zwanzig Gläser frische Marmelade aufgereiht in der Speisekammer, und Frankie hatte den Topf abgewaschen. Weil sie schlecht schon wieder Nate in der Küche zuschauen konnte und im Büro der Klempner werkelte, beschloss sie, im Garten Unkraut zu jäten, und schlüpfte in alte Shorts und ein T-Shirt.

Sie hatte gerade ein halbes Beet geschafft, als ein Cadillac die Auffahrt hinaufkam, aus dem Mike Roy und ein großer dunkelhaariger Mann stiegen. Beide trugen Freizeitkleidung, dennoch wirkte der Fremde selbst in Leinenhose und Polohemd distinguiert.

Perfektes Timing, dachte sie resigniert, als sie an sich hinunterblickte. Hätte Mike nicht vorher anrufen können? Sie hatte die ganze Woche versucht, ihn zu erreichen, und es schließlich geschafft, für den kommenden Montag einen Termin mit ihm auszumachen. Einen Termin, bei dem sie möglichst professionell auftreten und Mike mit ihrem Finanzplan beeindrucken wollte. In Shorts und einem ausgefransten T-Shirt würde ihr das wohl nicht so gut gelingen.

“Hey, Frankie”, begrüßte er sie und strich sich über den gepflegten Bart. “Wir kommen direkt vom Flughafen, und ich dachte, wir schauen einfach mal vorbei. Darf ich dir Karl Graves vorstellen? Mr. Graves, Frances Moorhouse.”

Als sie dem Mann die Hand schüttelte, spürte sie, wie er sie musterte. Sein Händedruck war fest und geschäftsmäßig, sein Lächeln eher kühl, und er sprach mit britischem Akzent.

Sie begann die Führung in den Gästezimmern im ersten Stock, und Graves schien tatsächlich beeindruckt zu sein. Er verstand viel von Architektur und wusste die Kirschholzfußböden und die stuckverzierten Decken zu schätzen.

“Und hier ist das Zimmer, in dem Abraham Lincoln übernachtete”, erklärte Frankie stolz. “Er verbrachte drei Tage in White Caps, auf Einladung meines Vorfahren Charles Moorehouse. Lincolns Dankschreiben hängt gerahmt an der Wand. Er beschreibt ausführlich den herrlichen Blick über den See und …”

Sie öffnete die Tür und unterbrach sich erschrocken. Vor ihr kniete ihre Großmutter auf dem Boden und hackte mit einem großen Fleischermesser auf die Wand ein. Ihr apricotfarbenes Abendkleid war über und über mit Gipsbröckchen und Staub bedeckt.

“Grand-Em!” Frankie stürzte sich auf sie und nahm ihr das Messer weg, bevor sie es noch einmal in die Wand rammen konnte.

“Was soll das? Gib mir das wieder!”, protestierte Grand-Em herrisch.

“Aber was machst du denn?”

“Das geht dich nichts an. Das ist mein Zimmer, und ich kann hier machen, was ich will.”

Offenbar wollte sie die Wand aufstemmen – was ihr angesichts ihres Alters und ihrer zierlichen Statur schon erstaunlich gut gelungen war.

“Vielleicht sollen wir euch beide besser allein lassen”, schlug Mike diskret vor.

“Danke, Mike. Du kennst das Haus ja auch, schaut euch einfach weiter um. Ich bin in etwa zehn Minuten wieder bei euch”, sagte Frankie erleichtert.

“Lass dir Zeit”, erwiderte der Banker.

Frankie schloss die Tür hinter den Besuchern und legte das Messer in die Nachttischschublade. Grand-Em versuchte inzwischen, mit bloßen Händen das Loch zu erweitern, und Frankie kniete sich neben sie und hielt sie sanft fest.

“Was ist denn los?”, fragte sie freundlich und streichelte die knotigen Finger. “Was machst du hier?”

“Ich kann ihn nicht finden!”, klagte Grand-Em.

“Was suchst du denn?”

“Meinen Ring.”

“Welchen?”

“Meinen ersten Verlobungsring.”

Frankie drehte die Hand ihrer Großmutter um und strich über den kleinen Diamantring an ihrem Finger. “Aber er ist doch hier.”

“Nein, nein, den ersten suche ich. Den, den mir Arthur Phillip Garrison gegeben hat.”

“Du warst aber nie mit jemand namens Garrison verlobt.”

“Das stimmt. Aber er hat mir einen Heiratsantrag gemacht. Das war 1941. Ich habe abgelehnt, weil er mir nicht sehr vertrauenswürdig vorkam, aber er war sehr selbstsicher und hat mir den Ring hiergelassen. Ich musste ihn vor Vater verstecken, sonst hätte er mich gezwungen, Arthur zu heiraten. Der arme Arthur, er ist kurz darauf gestorben. Ich habe den Ring behalten, weil in seinem Nachruf stand, dass er mit einer anderen verlobt war, und ich dachte mir, dass sie vielleicht lieber nichts von mir hören wollte.”

Kopfschüttelnd hörte Frankie zu. Vor zwei Jahren hätte sie das vielleicht noch geglaubt, aber inzwischen brachte Grand-Em so viel durcheinander, dass sie oft Dinge, die sie irgendwo aufschnappte, als ihre eigene Geschichte ausgab. Wo sie wohl den Namen Garrison gehört hatte?

“Grand-Em, wollen wir mal schauen, was Joy gerade macht?”

“Nein. Nein. Ich will den Ring finden. Ich habe ihn in der Wand versteckt, damit Vater nichts erfährt.”

Sanft versuchte Frankie, sie zum Aufstehen zu bewegen. “Komm doch mit.”

“Nein, ich gehe nirgendwohin. Das hier ist mein Zimmer!” Mit erstaunlicher Kraft machte Grand-Em sich los.

“Das hier ist ein Gästezimmer. Deins ist hinten im Haus.”

Jetzt riss Grand-Em entsetzt die Augen auf, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. “Willst du etwa sagen, dass ich im Dienstbotenflügel wohne?”

Frankie bemühte sich um Gelassenheit. “Erinnerst du dich nicht …” Nein, das brachte gar nichts. “Komm, wir suchen Joy.”

“Ich habe hier zu tun.”

“Es gibt keinen Ring, Grand-Em, außer dem, den du am Finger trägst.”

“Soll das heißen, dass ich verrückt bin?”

“Nein, ich …”

“Du wirst mich einweisen lassen! Du lässt mich wegbringen!”

“Aber nein, niemals”, sagte Frankie so ruhig wie möglich. “Das hier ist dein Zuhause.”

“Ich lasse mich nicht ins Irrenhaus sperren!”

Grand-Em kam mit erstaunlicher Flinkheit auf die Füße, verhedderte sich jedoch in ihrem langen Rock, stolperte und stieß einen Schrei aus. Frankie hechtete vorwärts und fing sie auf, bevor sie mit der Stirn gegen das Mahagonibett prallte. Doch Grand-Em wehrte sich mit aller Kraft und trat sie wiederholt vors Schienbein, bevor sie sich endlich etwas beruhigte und leise zu weinen begann.

“Ich verspreche, mich zu bessern”, schluchzte sie. “Ich will nur nicht weg von hier. Bitte, schick mich nicht weg. Ich kenne mich ja schon hier nicht mehr aus. Was soll mit mir werden, wenn ich in der Fremde bin?”

Auch Frankie traten Tränen in die Augen, als sie ihre Großmutter fest im Arm hielt. “Ich verspreche es dir. Ich verspreche dir, dass du nie von hier fortgehen musst. Mach dir keine Sorgen, ja?”

Grand-Em bemühte sich um Fassung, doch ihr Atem kam in schnellen, rasselnden Stößen.

“Komm, setzen wir uns hin”, schlug Frankie vor. Sie half ihrer Großmutter aufs Bett und fragte sich, wo Joy bloß steckte. Ihre Schwester hatte einen geradezu wundersam beruhigenden Einfluss auf Grand-Em. Wenn Joy sie hier überrascht hätte, wäre die Situation wahrscheinlich nicht so eskaliert.

Frankie kniete sich vors Bett und betrachtete Grand-Em besorgt. Vielleicht kam die Atemnot nur von der Aufregung – aber was, wenn es was Ernstes war?

“Bekommst du genug Luft? Tut dein Kopf weh?”

Doch Grand-Em sah sie nur müde an, und eine einzelne Träne rann ihr die Wange hinab.

“Schsch.” Zärtlich streichelte Frankie ihr weißes Haar. “Lass uns einfach einen Moment ausruhen.”

Als das Zittern etwas nachließ, suchte Frankie den Blick ihrer Großmutter. “Geht es dir besser?”

Grand-Em blinzelte verwirrt, streckte dann die Hand aus und berührte Frankies Gesicht. “Ich kenne dich. Du bist Frances. Meine Enkelin.”

Bewegt drückte Frankie die Hand der alten Dame an ihre Wange. “Ja. Ja, ich bin Frances.”

Diese Lichtblicke der geistigen Klarheit dauerten nie lange und kamen immer seltener vor. Es war über ein Jahr her, dass Grand-Em jemanden erkannt hatte, Joy eingeschlossen.

“Grand-Em, hör mir zu”, sagte Frankie hastig. “Wir werden dich nicht fortschicken. Niemals. Wir lieben dich. Du bist in Sicherheit.” Sie hoffte, dass die eindringlichen Worte hängen blieben. “Hier ist dein Zuhause. Wir werden dich niemals in ein Heim geben.”

Traurig schaute Grand-Em sie an. “Aber das solltet ihr natürlich. Irgendwann wird es sich nicht mehr vermeiden lassen, und dann darfst du dir keine Vorwürfe machen. Ich erinnere mich manchmal daran, wer ich mal war, und das zeigt mir, wie wenig von mir übrig ist.”

Frankie griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch, ohne den Blickkontakt mit ihrer Großmutter abzubrechen, und drückte die Taste, die sie mit Joys Zimmer verband.

“Joy, komm schnell. Ich bin im Lincoln-Zimmer.”

“Joy ist auch hier? Wie schön.” Verwundert sah Grand-Em sich im Zimmer um und entdeckte das Loch. “Was ist das? Wer hat das … ach, das war ich, nicht wahr? Ich habe meinen Ring gesucht. Weil bald jemand heiraten wird.”

Ihr Blick begann sich wieder zu verschleiern, und Frankie legte die Hände um ihr Gesicht. “Grand-Em, schau mich an. Bleib hier. Geh noch nicht wieder, hörst du?”

Unvermittelt begann Grand-Em zu lachen. “Deine Schwester sieht mir ähnlicher als du, aber dafür hast du meinen eisernen Willen geerbt. Wir sind beide Kämpfernaturen, nicht wahr? Deshalb habe ich deinen Großvater geheiratet, obwohl mein Vater strikt dagegen war. Ich habe aus Liebe den Gärtner genommen, und ich habe es nie bereut.”

In diesem Moment stürzte Joy herein. “Was ist passiert?”

Triumphierend klatschte Grand-Em in die Hände. “Sie wird heiraten und braucht meinen Ring. Also, wo war ich gerade …”

Frankie schüttelte nur stumm den Kopf, als Joy entsetzt auf das Loch in der Wand und die Gipsbrocken starrte.

“Wann ist die Trauung?”, fragte Grand-Em, als Joy sich neben sie setzte.

“Aber ich heirate doch gar nicht”, erwiderte Joy geduldig. “Außerdem wäre Großvater nicht begeistert, wenn jemand anderes den Ring tragen würde, den er dir geschenkt hat.”

“Nein, den meine ich ja auch nicht. Ich rede von dem, den mir Arthur Phillip Garrison 1941 gegeben hat …”

Hilflos musste Frankie zusehen, wie ihre Großmutter wieder in geistiger Umnachtung versank.

“Sie war kurz bei sich”, flüsterte sie Joy zu. “Ich habe dich sofort angerufen, damit du es vielleicht auch noch mitbekommst.”

Joy formte mit den Lippen ein “Danke”, während sie Grand-Em interessiert zunickte. “Na, dieser Arthur Garrison war bestimmt ein fescher Bursche. Wollen wir in dein Zimmer gehen, damit du dich umziehen kannst? Ich habe gerade dein hellgelbes Kleid gebügelt, und es passt perfekt zu einem sonnigen Tag wie heute.”

Nachdem Joy die Großmutter hinausgeführt hatte, schaute Frankie aus dem Fenster und sah Mike Roy und diesen Graves am Seeufer. Mike zeigte auf den Berg, der sich hinter dem Haus erhob, und gestikulierte mit den Händen.

Seufzend schob Frankie die Kommode neben das Bett und stellte die Tischlampe darauf. Auf diese Weise war das Loch erstmal verdeckt, ohne dass sie schon wieder einen Handwerker bezahlen musste.

Eine Stunde später verabschiedeten sich Mike und sein Gast endlich, und als Frankie dem Cadillac nachsah, wünschte sie sich, dieser ganze Besuch mit seinen Zwischenfällen hätte nicht stattgefunden.

Nate kam durch die Hintertür und stellte sich neben sie. “Wer war denn der Kerl mit dem Bart?”, fragte er. Er trug eine Sandwichtüte in der Hand.

“Ein Freund”, erwiderte sie. Nach allem, was Mike Roy für sie getan hatte, verdiente er diese Bezeichnung wohl. “Und wo willst du hin?”

“Auf den Berg. Ich wollte beim Essen die Aussicht genießen. Kommst du mit?” Er hob die Tüte hoch. “Das hier reicht für zwei.”

Eigentlich wollte sie Nein sagen, aber ihr Büro war noch immer durch den Klempner besetzt, und das Unkraut konnte wohl noch etwas warten. Sie hatte wirklich keine Lust, jetzt allein zu sein und die ganze Zeit über den Zwischenfall mit Grand-Em nachzugrübeln. Außerdem war sie schon lange nicht mehr auf dem Berg gewesen, und ein Spaziergang würde ihr guttun.

“Und mach dir keine Sorgen wegen der Höhenangst”, fügte Nate vertraulich hinzu. “Das passiert mir nur in Flugzeugen, auf Brücken und auf Balkonen. Na ja, und auf Leitern. Aber sonst bin ich stark wie ein Baum.” Er klopfte sich auf die Brust. “Ein ganzer Kerl.”

Frankie musste lachen. “Na, dann mal los, Tarzan, erklimmen wir den Gipfel.”

Der Pfad begann auf der anderen Seite der Landstraße und war mit einem großen, orangefarbenen “Durchgang verboten”-Schild markiert, weil das Gelände noch zum Besitz von White Caps gehörte. Frankie hatte es jedoch nie gestört, wenn Touristen hier wanderten.

“Kann man ganz bis nach oben fahren?”, fragte Nate.

“Nein, nur ein kurzes Stück.”

Schon bald waren sie von dichtem Wald umgeben. Es roch nach Kiefernharz und Pilzen, und Frankie spürte, wie ihre Anspannung nachließ.

Nach einer Weile zweigte der Pfad zum Gipfel vom Fahrweg ab, und sie schlug diese Richtung nach oben ein, während Nate geradeaus weitermarschierte.

“Wo geht’s denn dort hin?”, fragte er.

“Zum Friedhof. Aber da gibt’s nicht viel zu sehen. Lass uns den Weg nehmen, ja? Nate?”

Er antwortete nicht, sondern lief einfach weiter, und sie folgte ihm leise fluchend. Als sie das Tor aus unbehauenen Ästen erreichten, blieb sie stehen. Es diente vor allem dazu, Autos aufzuhalten, denn Fußgänger konnten einfach drum herumgehen – so wie Nate es bereits getan hatte. Geöffnet wurde das mit einer Kette gesicherte Tor nur dann, wenn eine Beerdigung stattfand.

Seufzend legte Frankie die Hände auf den obersten Ast. Auf der grasbewachsenen Lichtung vor ihr standen etwa zwanzig Grabsteine, alle aus schlichtem grauem Schiefer. Es gab keine Engelsstatuen oder Kreuze, nur einfache Steine mit Namen und Datum.

Nate stand vor einem der Gräber. “Das hier ist von 1827. Ist es das älteste?”

“Nein. Das war der zweite Sohn von Charles Moorehouse, Edward. Der erste starb schon als Kind, 1811.”

Ehrfürchtig berührte er den verwitterten Stein. “Edward ist auch jung gestorben. Er wurde nur fünfzehn.”

Sie nickte, und Nate ging langsam weiter. Früher hatte Frankie es tröstlich gefunden, über den Friedhof zu schlendern und die Namen auf den Steinen mit den Gesichtern auf alten, verblichenen Fotografien in Verbindung zu bringen. Doch jetzt standen dort zwei Steine, die einfach zu viele schmerzliche Erinnerungen weckten.

Ihre Eltern waren bei einem Bootsunfall auf dem See gestorben, und sie hatte nicht einmal an der Beerdigung teilgenommen – weil sie Angst gehabt hatte, vor allen Leuten die Fassung zu verlieren.

Als die Polizisten ihr damals die schlimme Nachricht überbrachten, hatte Joy sie zitternd gefragt, ob sie jetzt ins Heim müsse. Damals hatte Frankie sich geschworen, dass sie Joy die Eltern ersetzen würde. Sie wusste nicht, was man dafür tun musste, aber Weinen gehört bestimmt nicht dazu – also hatte sie nie eine Träne vergossen. Jedenfalls nicht vor Joy.

“Jemand war hier.”

Frankie zuckte zusammen, atmete tief durch und schaute zu den beiden neuesten Gräbern hinüber, die fast schon so verwittert aussahen wie die ältesten. In zehn Jahren waren Moos und Flechten auf den Steinen gewachsen, vor denen Nate jetzt stand.

Der Baum, der damals gepflanzt worden war, eine Hemlocktanne, überragte Nate um zwei Köpfe, und an seinem Stamm lag ein kleiner Strauß mit Blumen aus dem Garten des White Caps. Joy musste vor Kurzem hier gewesen sein.

Blicklos starrte Frankie auf die Blüten. Wie gern hätte auch sie ihre Trauer in so zivilisierter Weise gezeigt. Aber selbst nach zehn Jahren war sie dazu nicht fähig. Sie hatte ihre Gefühle verdrängt, aber sie waren dadurch nur noch stärker geworden, und wann immer sie an ihre Eltern dachte, schmerzte es so heftig und unbarmherzig wie damals. Vor allem konnte sie ihrem Vater nicht verzeihen, dass er so unvorsichtig gewesen war. Noch heute träumte sie manchmal davon, dass sie mit den Fäusten auf seinen Sarg einhämmerte und ihn mit Vorwürfen überschüttete.

Leise trat Nate neben sie. “Willst du lieber gehen?”

“Ich will wie meine Schwester sein”, platzte sie heraus. “Blumen hinlegen und mit den Grabsteinen sprechen.”

Sanft nahm er ihre Hand. “Du vermisst sie noch immer schrecklich.”

Sie lachte bitter. “Sie zu vermissen wäre eine Erlösung.” Sie wandte sich ab und ging mit großen Schritten los. “Komm jetzt, wir wollten doch auf den Berg.”