5. KAPITEL
Ich hoffe, er hat Spaß, dachte Frankie, als sie sich unter die Dusche stellte. Während sie den kühlen Wasserstrahl genoss, stellte sie sich vor, wie Nate mit dem alten Rasenmäher kämpfte und sich ärgerte, dass er seine Hilfe angeboten hatte.
Was kommt dieser Mann doch ungelegen, sinnierte sie, während sie sich die Haare einschäumte. Er war einfach zu attraktiv. Zu sexy. Zu verführerisch. Und zu allem Überfluss schien er Interesse an ihr zu haben – also war er offenbar auch zu kurzsichtig.
Als sie aus der Dusche stieg und sich abtrocknete, war der Spiegel beschlagen. Sie wischte ihn mit dem Unterarm sauber und betrachtete sich nachdenklich. Was findet Nate nur an mir?, überlegte sie und strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Na gut, ihr Haar war lang und voll, aber einfach nur langweilig braun. Ihre Augen … ja, mit denen war sie ganz zufrieden, zumal sie die dunklen Wimpern nicht einmal tuschen musste. Und die Zähne … Sie zog die Lippen zurück. Weiß und ebenmäßig, dank der guten Gene ihres Vaters.
Na gut, hässlich war sie also eigentlich nicht, aber einen Schönheitswettbewerb würde sie auch nicht gewinnen.
Am Besten, sie vergaß den Zwischenfall mit Nate einfach – er würde es ja auch tun, spätestens, wenn er in der Stadt eine andere fand. Hoffentlich bald, dann brachte er sie wenigstens nicht länger durcheinander.
Nachdem sie sich wieder angezogen hatte, band sie sich die Haare mit einem Gummi zusammen, setzte die Brille wieder auf und ging ins Büro. Dort versuchte sie, die Buchführung zu erledigen, aber sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.
Nate ging ihr nicht aus dem Kopf.
Alles erinnerte sie an ihn. Der Schreibtisch, weil er ihr geholfen hatte, ihn zu verrücken. Ihre Inventurlisten, weil er sie dafür gelobt hatte. Ihr Bleistift, weil er sich am Vormittag einen ausgeliehen hatte.
Liebe Güte, wie lächerlich! Vor vierundzwanzig Stunden hatte sie den Mann noch nicht mal gekannt, und jetzt konnte sie an nichts anderes mehr denken. Das mussten die Hormone sein. Schließlich lag die Sache mit David fast zehn Jahre zurück, und sie war jung und gesund. Früher oder später musste so was wohl passieren.
Weil sie mit der Arbeit sowieso nicht vorankam, beschloss sie zu überprüfen, ob der Speisesaal für die Abendgäste vorbereitet war. Dort fand sie Mrs. Little vor, die auf einen Tisch gestützt aus dem Fenster schaute, als gäbe es dort etwas besonders Interessantes zu sehen.
“Ist alles in Ordnung?”, erkundigte sich Frankie.
Erschrocken drehte die Frau sich um. “Äh … ja. Alles bestens. Entschuldigen Sie mich.”
Damit hastete sie hinaus, und Frankie ging sofort selbst zum Fenster. Sie erwartete, ein paar Eichhörnchen oder ein Murmeltier zu sehen. Solche “Naturschauspiele” brachten die Gäste aus der Stadt immer ganz aus dem Häuschen.
Doch was sie sah, ließ ihr den Atem stocken. Heiliges Kanonenrohr …
Nate mähte noch immer in ordentlichen Bahnen den Rasen. Doch das T-Shirt hatte er ausgezogen.
Kein Wunder, dass er sie so mühelos hatte hochheben können. Seine breiten Schultern und muskulösen Oberarme glänzten in der Sonne, und über dem Hosenbund zeigte sich ein beeindruckendes Sixpack.
Tja, als Koch bekam man wohl jede Menge kostenloses Muskeltraining. Ständig war man in Bewegung, hob etwas hoch, trug schwere Töpfe durch die Gegend … Trotzdem nahm sie an, dass er auch regelmäßig im Fitnessstudio trainierte. Kein Wunder, dass Mrs. Little so fasziniert gewesen war.
Frankie duckte sich vom Fenster weg, bevor er sie entdeckte, und stellte dann fest, dass sie völlig vergessen hatte, weshalb sie eigentlich in den Speisesaal gekommen war.
Erst später am Abend, nachdem alle anderen schon nach oben gegangen waren, gelang es ihr endlich, sich auf die Buchhaltung zu konzentrieren. So wenig wie heute hatte sie selten geschafft. Am Nachmittag war sie auch zu nichts gekommen, weil sie auf Mike Roy und seinen Besucher gewartet hatte, die aber nicht aufgetaucht waren. Erst um sechs hatte Mike angerufen und sich entschuldigt, dass etwas dazwischengekommen war und sie den Besuch um eine Woche verschieben mussten.
Gegen Mitternacht rieb sie sich müde die Augen. Besser, sie sah zu, dass sie ins Bett kam, sonst schlief sie noch am Schreibtisch ein. Wenigstens war der Abend im Restaurant gut gelaufen. Nate hatte Coq au Vin gemacht, und sogar Mr. Little war beeindruckt gewesen. Auch ein Ehepaar aus der Stadt hatte sie auf Chucks neue Kochkünste angesprochen, und als sie ihnen erzählte, dass sie jetzt einen Spitzenkoch aus New York beschäftigte, hatten sie sich sehr beeindruckt gezeigt. Mit etwas Glück verbreitete sich die Nachricht in der Kleinstadt wie ein Lauffeuer.
Als Frankie gerade auf ihr Zimmer zusteuerte, kam Nate aus dem Bad. Er trug ein frisches T-Shirt, hatte sich ein Handtuch um den Hals geschlungen und lächelte breit.
“Ich dachte schon, du würdest unten übernachten”, bemerkte er, als hätte er auf sie gewartet.
Frankie fehlten die Worte. Normalerweise war sie selten um eine Antwort verlegen, aber bei Nate wusste sie einfach nie, wie sie reagieren sollte.
“Du arbeitest einfach zu viel, Frances. Gute Nacht.” Damit verschwand er in seinem Zimmer.
Irgendwie kam sie sich danach verlassen vor, ärgerte sich aber gleichzeitig über ihre dummen Gefühle. Schließlich wollte sie ja gar nicht mit ihm zusammen sein, nicht wahr?
Sie beeilte sich im Bad, schaltete das Flurlicht aus und wollte wieder in ihr Zimmer gehen. Doch dazu musste sie an Nates Tür vorbei – und die stand offen. Unwillkürlich blieb sie stehen. Er saß aufrecht im Bett, mit einem Kissen im Rücken, und las. Als er sie bemerkte, schaute er hoch und grinste so breit, dass sie unwillkürlich das Gefühl bekam, in eine klug ausgelegte Falle gelaufen zu sein. Hastig wollte sie ihm eine gute Nacht wünschen und weitergehen, als sie sah, dass er sich am Hals kratzte.
“Hast du die Salbe nicht draufgemacht?”, fragte sie. Die Tüte, die sie ihm aus der Apotheke mitgebracht hatte, lag auf seiner Kommode.
“Nein, hab ich ganz vergessen.”
Frankie betrat das Zimmer und nahm die Salbe aus der Tüte. “Hier, dann mach es jetzt, sonst kannst du die ganze Nacht nicht schlafen.”
Doch als sie ihm die Tube hinhielt, streckte er ihr nur den Hals entgegen. “Würdest du das machen? Du kannst das bestimmt viel besser.”
“Ich bin keine Krankenschwester.”
“Es ist ja auch keine Operation am offenen Herzen.” Sein Grinsen wurde breiter, und sie bemerkte, dass einer seiner Vorderzähne eine sehr gut gemachte Krone trug. “Bitte.”
Frankie seufzte, griff nach einem Kleenex aus der Schachtel auf der Kommode und verteilte etwas Salbe darauf, die sie dann vorsichtig auf die geröteten Stellen tupfte.
Er gab einen Laut zwischen Stöhnen und Seufzen von sich und schloss die Augen. “Das tut gut.”
Irritiert hielt sie inne. Musste er so verführerische Geräusche machen? Das ließ sie daran denken, wie es wohl wäre, wenn er sie an sich zog und ihren Hals mit Küssen bedeckte …
“Schon fertig?”, fragte er enttäuscht.
“Äh, nein.” Hastig nahm Frankie die Arbeit wieder auf.
Als sie schließlich die Tube weglegte, öffnete er die Augen wieder. “Danke.”
“Wenigstens scheint es sich nicht weiter auszubreiten”, bemerkte sie und warf das zerknüllte Kleenex quer durch den Raum in den Abfalleimer neben der Tür.
“Guter Wurf.” Neugierig schaute er sie an. “Darf ich fragen, wie alt du bist?”
“Geht dich eigentlich nichts an, aber ich habe auch nichts zu verbergen. Ich bin einunddreißig.”
“Und wie lange führst du das White Caps schon?”
Frankie zögerte. Seine Fragen nach der Vergangenheit hatten sie schon am Nachmittag ganz durcheinandergebracht. Jetzt, in der Nacht, allein mit ihm in seinem Zimmer, kamen sie ihr noch intimer vor.
“Gute Nacht, Nate”, sagte sie, drehte sich um und ging hinaus.
“Warte …”
Nachdrücklich machte sie ihre Zimmertür hinter sich zu, doch schon Sekunden später klopfte es leise. Sie riss die Tür wieder auf und bedachte ihn mit dem strengen Blick, der normalerweise jeden abschreckte. “Was ist denn noch?”
Doch Nate lächelte nur. “Ich wollte nicht neugierig sein.”
“Doch, wolltest du.”
“Du bist sehr direkt. Das mag ich bei einer Frau.”
“Und es ist sehr nützlich, vor allem, wenn man belästigt wird.”
“Du fühlst dich wirklich von mir belästigt?”
Zögernd senkte Frankie den Blick. Sie mochte es nicht, dass er sie so durcheinanderbrachte, aber anlügen wollte sie ihn auch nicht.
“Ich verstehe nur nicht, warum”, sagte sie leise. “Ich bin nicht …”
Statt weiterzusprechen, strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Sanft legte er eine Hand auf ihre Wange und nahm ihr mit der anderen die Brille ab. “Du bist was nicht?”
Ohne Brille fühlte sie sich nackt und schutzlos, als hätte sie ihr wichtigstes Kleidungsstück nicht an.
“Nicht was?”, wiederholte er.
“Wie Joy.” Noch direkter konnte nicht einmal sie es sagen.
“Ich weiß.”
Ungläubig spürte sie, wie er ihre Wange streichelte. “Wieso tust du dann so, als wärst du an mir interessiert?”, fragte sie leise.
Langsam beugte er sich zu ihr hinunter und fuhr mit den Lippen sanft über ihre Wange, bevor er dicht an ihrem Ohr sagte: “Ich tue nicht nur so.”
Einen Moment lang wollte sie ihm einfach die Arme um den Hals schlingen und ihn ins Zimmer ziehen. Aber dann dachte sie an den Morgen danach – die Verlegenheit, die aufgesetzte Höflichkeit, die Erleichterung, wenn der andere endlich ging. Nur arbeitete Nate für sie, und das hoffentlich den ganzen Sommer lang. Sie wollte nicht jeden Tag daran erinnert werden, dass sie eine falsche Entscheidung getroffen hatte, und auch noch vor ihrer Familie so tun, als wäre nichts geschehen.
Wortlos starrte sie ihn an und versuchte, in seinen goldgrün gesprenkelten Augen die Antwort auf ihre Fragen zu finden. Doch dann trat sie entschlossen einen Schritt zurück, griff nach ihrer Brille und sagte entschieden: “Ich denke, das ist keine gute Idee.”
“Du hast sicher recht.”
“Da bin ich ja froh, dass wir einer Meinung sind.”
“Sind wir ja gar nicht.” Er lächelte breit. “Was wäre das Leben ohne ein bisschen Abenteuer? Risiko?”
Er hatte gut reden. Kühl zeigte sie auf seine Zimmertür. “Du willst einen Kick? In deinem Zimmer ist eine Steckdose. Ich bin sicher, wir finden einen nicht isolierten Schraubenzieher, den du reinstecken kannst.”
Lachend griff er nach ihrer Hand und drückte sie auf sein Herz. “Wirst du mich denn wiederbeleben, wenn mir das Herz stehen bleibt?”
“Ich werde den Notarzt rufen. Und hoffen, dass die Sanitäter gerade Knoblauchbrot gegessen haben, bevor sie eine Mund-zu-Mund-Beatmung machen.”
Damit wollte sie sich von ihm lösen, doch er hielt sie fest. “Ich will nur noch eins wissen.”
“Da bin ich ja gespannt.” Sie entzog ihm mit Nachdruck ihre Hand und verschränkte die Arme vor der Brust.
“Wann bist du das letzte Mal mit einem Mann ausgegangen?”
“Gibst du denn nie auf?” Sie wollte ihm die Tür vor der Nase zumachen, doch er stellte sich ihr in den Weg.
“Du hast meine Frage nicht beantwortet”, erinnerte er sie.
“Muss ich das denn?”
“Wenn du nicht unhöflich sein willst …”
“Obwohl du so neugierig bist?”
“Ich bin nicht neugierig, schließlich ist das eine begründete Frage. Neugierig ist man nur, wenn man ohne Grund fragt.”
“Hör zu, ich bezahl dich hier fürs Kochen. Alles, was nicht die Vorräte oder die Küche betrifft, geht dich überhaupt nichts an.”
Er hob eine Augenbraue. “Bist du nicht etwas zu hart?”
Wider Willen musste Frankie lachen. “Im Moment bin ich einfach nur müde. Mir tun die Füße weh und ich will endlich schlafen. Wenn du das hart nennst, solltest du vielleicht noch mal im Wörterbuch nachschlagen, denn normalerweise bedeutet das Wort was anderes.”
Sie versuchte, ihn wegzuschieben, doch er rührte sich nicht vom Fleck.
“Bekomme ich denn noch eine Antwort?”
“Aber bitte. Gerne doch.” Sie hob trotzig das Kinn. “Mein Leben besteht nur aus Partys. Mein Kalender ist mit Verabredungen so voll, dass ich den Männern Namensschilder gebe, weil ich sie sonst verwechsle. Toll, was?”
“Na ja, vielleicht kannst du mich ja irgendwann mal dazwischenschieben, und wir beide könnten ausgehen?”
Er lächelte unschuldig, aber darauf fiel sie mittlerweile nicht mehr rein. Wenn er sich erstmal was in den Kopf gesetzt hatte …
“Hölle und Verdammnis”, murmelte sie.
“Das war nicht gerade die Antwort, die ich mir erhofft hatte. Und heißt das jetzt Ja oder Nein?”
“Das beschreibt nur, was mich meiner Meinung nach erwartet, wenn ich mich mit dir einlasse”, sagte sie.
“Aber warum denn?”
“Gute Nacht, Nate.”
“Glaub nicht, dass ich so leicht aufgebe.”
“Bist du immer so hartnäckig?”
Sein Blick wanderte zu ihrem Mund. “Nur, wenn ich etwas unbedingt will.”
“Dann wird das wohl ein langer, einsamer Sommer für dich.”
Diesmal ließ er endlich zu, dass sie die Tür schloss. Aufatmend lehnte sich Frankie dagegen und erlaubte sich eine verrückte Fantasie. Was, wenn sie ihn tatsächlich reingelassen hätte? Dann würde er sie jetzt ausziehen und danach aufs Bett legen …
Sein hungriger Blick verfolgte sie, und sie konnte einfach nicht einschlafen. Bei der Vorstellung, was alles hätte geschehen können, wenn sie ihn nicht weggeschickt hätte, wurde ihr immer wärmer, und sie zog zuerst ihre Socken aus, schob dann die Decke weg und öffnete das Fenster. Doch es nützte alles nichts, und schließlich stand sie auf und holte den kleinen Tischventilator aus dem Schrank, den sie sonst nur im Hochsommer brauchte.
Mittlerweile wünschte sie, sie wäre einfach am Schreibtisch eingeschlafen. Dann hätte sie am Morgen zwar einen steifen Hals gehabt, aber wenigstens ein paar Stunden Schlaf bekommen …
Nate stand bei Sonnenaufgang auf, schlüpfte in ein Paar abgeschnittene Jeans und machte sich auf die Suche nach einer Leiter. Es musste eine richtig lange sein, so wie Dachdecker sie benutzten, und er war sicher, dass es irgendwo auf dem Grundstück eine gab.
Nach zwanzig Minuten wurde er fündig. Er schnappte sich einen Schraubenzieher und trug die Leiter zu der Stelle, wo die Dachrinne durchhing. So leise wie möglich lehnte er sie an das Dach an. Als er den Eindruck hatte, dass sie sicher stand, kletterte er hinauf. Seine Höhenangst meldete sich, als er etwa die Hälfte geschafft hatte, doch er wollte sich von so einem kleinen Schwindelgefühl nicht ausbremsen lassen und biss die Zähne zusammen.
Als er bei der Dachrinne ankam, sah er zufrieden, dass er das Problem tatsächlich mit seinem Schraubenzieher lösen konnte. Schon die ganze Zeit hatte ihn allerdings das Geräusch eines Ventilators gewundert, und nun kletterte er neugierig ein paar Sprossen hinunter und beugte sich etwas zur Seite, um durch einen Spalt im Vorhang in das Zimmer zu spähen, wo er das Gerät vermutete.
Stattdessen sah er Frankie, und der Anblick war überwältigend.
Sie lag auf dem Rücken im Bett und hatte die Decke weggestrampelt. Dabei war auch ihr T-Shirt hochgerutscht, sodass er eine perfekt geformte Brust und ihren flachen Bauch sah. Hingerissen starrte er auf ihren schlichten, weißen Baumwollslip, der ihm in diesem Augenblick verführerischer vorkam als die raffinierteste Spitzenwäsche, die er bei anderen Frauen je gesehen hatte.
Plötzlich wurde ihm klar, was er da gerade tat, und er hoffte, dass sie nicht ausgerechnet jetzt aufwachte. Aber natürlich regte sie sich genau in diesem Moment – und er vergaß völlig, wo er sich befand und trat hastig einen Schritt zurück …
Frankie wachte auf, weil vor ihrem Fenster jemand schrie, und sprang panisch aus dem Bett. Im selben Moment hörte sie, wie von außen etwas gegen die Hauswand schlug.
Sie rannte zum Fenster, riss den Vorhang zur Seite – und starrte in Nates entsetztes Gesicht.
“Was zum Teufel …”, stammelte sie.
“… mache ich hier?”, beendete er den Satz für sie. “Ich repariere die Regenrinne.” Er löste vorsichtig eine Hand von der Leitersprosse und griff in seine Hosentasche, um ihr den Schraubenzieher zu zeigen. “Siehst du?”
“Aber wieso?”
“Weil ich nicht wollte, dass du aufs Dach kletterst.”
Ganz offensichtlich war er noch dabei, sich von einem Riesenschrecken zu erholen, bemühte sich aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Obwohl er kalkweiß im Gesicht war, lächelte er charmant wie immer.
“Und deshalb hast du dich beinahe runtergestürzt?”, schalt sie ihn sanft.
“Ich muss nur noch die Halterung wieder anschrauben. Da oben.” Er ließ die Sprosse für zwei Sekunden los, um nach oben zu zeigen, und umklammert sie dann wieder so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Höhenangst, dachte sie. Er hat schreckliche Höhenangst und will es nicht zugeben.
“Warum steigst du nicht einfach wieder runter?”
“Nein, keine Sorge. Mir geht’s gut, und ich mache das eben noch fertig.” Doch dann schaute er aus Versehen hinab und kniff fest die Augen zusammen. “Auweia.”
“Nate?”
Zögernd öffnete er ein Auge.
“Du solltest wirklich wieder runtersteigen.”
“Ja, wahrscheinlich hast du recht.”
Er rührte sich nicht von der Stelle.
“Versuch es erst mal mit der Sprosse direkt unter dir. Ich bleibe hier und rede dir gut zu, okay?”
“Das ist nicht nötig, mir geht’s gut.”
“Du hast Höhenangst und hängst zehn Meter über dem Boden auf einer Leiter fest. Das nennst du gut?”
“Ich habe vor gar nichts Angst.”
Haha, dachte Frankie und zerbrach sich den Kopf, wie sie ihn sicher wieder nach unten lotsen konnte. Ablenkung, er brauchte Ablenkung. Und ein wenig Motivation.
Die Lösung lag auf der Hand, war ziemlich verführerisch und ein klein bisschen gefährlich.
“Also geh wieder rein”, sagte er gerade. “Ich verschnaufe nur einen Moment und …”
“Nate?”
“Was denn?” Noch immer hatte er die Augen fest zugekniffen.
“Ich habe das Gefühl, dass du heute Mittag noch auf der Leiter stehst, wenn ich dich jetzt allein lasse.”
“Gar nicht wahr.”
Soll ich oder soll ich nicht?, fragte sie sich.
Kurz entschlossen lehnte sie sich aus dem Fenster und legte eine Hand auf seine Wange. Sie war kühl und feucht, doch die Berührung brachte die gewünschte Reaktion, denn er machte die Augen auf.
Jetzt nicht nachdenken, sagte sie sich, beugte sich weiter aus dem Fenster und drückte ihm fest die Lippen auf den Mund.
Als sie ihn wieder freigab, schnappte er geschockt nach Luft. “Du bist aber gemein”, sagte er vorwurfsvoll. “Wieso wartest du, bis ich völlig wehrlos bin und auf einer Leiter festsitze, bevor du mich endlich küsst?”
“Schsch.” Wieder beugte sie sich vor, und diesmal reagierte er sofort. Sie spürte seine Zungenspitze an ihren Lippen und ließ zu, dass der Kuss tiefer wurde.
Liebe Güte, er fühlte sich so gut an.
Frankie vergrub die Hände in seinem Haar. Nate küsst wie ein richtiger Mann, dachte sie. Leidenschaftlich und fordernd.
Dann gab es ein kratzendes Geräusch und die Leiter bewegte sich ein Stück, sodass sie getrennt wurden.
Hoppla. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn heil wieder nach unten zu bringen, nicht ihn mit einem Kuss in den Tod zu stürzen.
“Davon kannst du noch mehr haben, Nate”, lockte sie. “Aber nur, wenn du mich dabei richtig in die Arme nimmst.” Ihre Stimme zitterte – vor Angst um ihn, aber auch wegen der ungezügelten Leidenschaft, die zwischen ihnen zu brennen schien. Und weil sie log, denn sie hatte natürlich nicht vor, ihn noch einmal zu küssen, sie wollte ihn nur von der Leiter lotsen.
Nate dagegen nahm sie voll beim Wort, denn er kletterte so flink hinunter, als wäre er Mitglied der freiwilligen Feuerwehr.
Erst da wurde ihr klar, dass sie sich mit nichts als T-Shirt und Slip am Leib aus dem Fenster beugte und gerade zum ersten Mal seit unzähligen Jahren einen Mann geküsst hatte.
Hastig zog sie sich eine Jeans über und rannte nach unten. Hoffentlich war er nicht noch einmal stecken geblieben. Als sie um die Ecke bog, sah sie erleichtert, dass er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Und mit unmissverständlichem Gesichtsausdruck auf sie zukam.
Abwehrend hob sie die Hände. “Ich bin froh, dass du es nach unten geschafft hast …”
“Komm sofort her.”
“Nein, hör zu, es war die einzige Möglichkeit, dich heil …”
“Du hast es versprochen.”
Nate kam zielstrebig auf sie zu, legte die Hände um ihr Gesicht und küsste sie lange und zärtlich. Sie spürte seinen warmen Körper an ihrem, und als er sie gegen die Hauswand drängte, konnte sie sich auf einmal nicht mehr erinnern, warum das hier keine gute Idee war.
Es hatte was mit dem Herbst zu tun, mit einem gebrochenen Herzen … ach, wen interessierte das schon.
Sie schlang die Hände um Nates Hals und zog ihn enger an sich. Er roch nach Seife und frischer Luft, doch es hätte sie auch nicht gestört, wenn er direkt vom Rasenmähen gekommen wäre.
“Hier unten ist es wirklich viel besser”, murmelte er.
Langsam öffnete Frankie die Augen. “Ich bin mir gar nicht so sicher, dass ich auf festem Boden stehe”, gestand sie.
Er lächelte zufrieden. “Wollen wir nach oben gehen?”
“Ja – nein. Nein, ich …” Sie wollte ihn eigentlich wegschieben, aber ihr Körper gehorchte ihr einfach nicht. Weil es sich viel zu gut anfühlte, so eng an Nate geschmiegt zu sein.
Er küsste sie auf die Nasenspitze und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. “Ich nehme das zurück. Wir haben alle Zeit der Welt. Warum gehen wir heute Abend nicht aus? Nur wir beide. Was meinst du?”
Es war verrückt, aber die verlockende Einladung brachte Frankie ins Hier und Jetzt zurück. Sie dachte daran, dass die Leute sie dann zusammen sehen würden. In einer Kleinstadt waren Klatsch und Tratsch an der Tagesordnung, und wenn sich das Gerücht verbreitete, dass sie mit ihrem neuen Koch schlief, war das schlecht fürs Geschäft.
Und das war nicht der einzige Grund, warum es so nicht weitergehen konnte.
Jetzt löste sie sich tatsächlich von ihm. “Ich denke, wir sollten das lieber nicht tun.”
Er seufzte. “Und warum nicht?”
“Weil ich dich mag”, murmelte sie leise. Bevor er sie um eine Erklärung bitten konnte, hob sie die Hand. “Du bist nur für den Sommer hier und reist im Herbst wieder ab. Ich habe zu viel Selbstachtung, um für einen Mann eine nette Abwechslung zu sein – und ich respektiere dich zu sehr, um dich so zu … benutzen.”
Er starrte sie einen Moment lang an, dann sagte er: “Na schön, aber vielleicht ist das nicht so einfach.”
Damit ließ er sie stehen und ging zur Leiter zurück.
“Und was soll das jetzt heißen?”, fragte sie.
Achselzuckend stellte er einen Fuß auf die unterste Sprosse. “Du scheinst zu glauben, dass wir eine Wahl haben.”
Ungläubig sah sie zu, wie er tief durchatmete und die Leiter wieder hinaufstieg, den Blick fest auf die durchhängende Regenrinne gerichtet.