7. KAPITEL
Nate hatte Frankie von seinem Aussichtspunkt auf dem Berggipfel gut im Blick. Sie stand vor ihm auf einem Felsvorsprung und schaute auf den See hinunter. Die Hände hatte sie in die Hüften gestemmt, der Wind zauste ihr Haar und löste Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz.
Ich hätte besser nicht zum Friedhof gehen sollen, dachte Nate.
“Tolle Aussicht”, bemerkte er.
“Ja, nicht wahr?”
Sie schien nicht außer Atem zu sein, obwohl sie beim Aufstieg ein bemerkenswertes Tempo vorgelegt hatte. Selbst auf den schwierigeren Wegstücken war sie nicht langsamer geworden.
“Willst du was essen?”, fragte er und öffnete die Papiertüte.
“Gute Idee. Ich habe wirklich Hunger.” Ihr Pferdeschwanz war nun völlig aufgelöst, sie hatte einen Schmutzstreifen am Hals und war bis zu den Knien schlammbespritzt.
Die schönste Frau der Welt, dachte Nate. Als sie zu ihm kam, hatte er auf einmal das Gefühl, sein Herz setze für ein paar Schläge aus und versuche dann, das Versäumnis in Rekordzeit aufzuholen. Er blinzelte überrascht.
Sie setzte sich neben ihn und streckte die Beine aus. “Ist alles okay? Hast du wieder Höhenangst?”
Nein, an der Höhe lag es diesmal nicht, sondern nur an dem, was er gerade gespürt hatte. Hätte er nicht schon als Teenager einmal Herzklopfen haben müssen beim Anblick eines Mädchens? Aber da war ihm das nie passiert. Und was er jetzt empfand, war viel mehr als sexuelles Verlangen. Seltsam.
“Was ist denn los?”, fragte Frankie.
“Nichts, alles bestens.” Er zwang sich zu einem Lächeln.
Sie schaute ihn prüfend an und hielt dann das Gesicht in die Sonne. “Na, dann lass mal sehen, was du uns Schönes eingepackt hast.”
“Ich habe ein neues Rezept ausprobiert. Hier.” Er reichte ihr ein Stück Apfeltarte. “Äpfel mal herzhaft, mit Ziegenkäse. Die Kombination gefällt mir.”
Frankie wischte sich die Hände an den Shorts ab, nahm einen Bissen und kaute langsam. Es machte ihm Spaß, ihr dabei zuzusehen, wie sie etwas aß, das er gekocht hatte.
“Schmeckt gut”, sagte sie schließlich.
Er grinste. “Ich weiß.”
“Eingebildet bist du gar nicht, was?”
Auch er nahm sich nun ein Stück. “Doch, ein bisschen”, gab er zu. “Aber ich würde dir nie weniger als das Beste anbieten.”
“Aha, du willst also den Boss beeindrucken?”
Nein, die Frau, dachte er, doch laut antwortete er: “Vielleicht.”
“Es schmeckt wirklich toll”, lobte sie und griff nach einem weiteren Stück. “Soll das auch mit auf die neue Speisekarte?”
“Nein, ich glaube nicht. Es soll nur ein paar Gerichte geben, und alle aus der französischen Küche. Zwei mit Huhn, zwei mit Fisch, zwei mit Fleisch. Und bevor wir nicht regelmäßig mehr Gäste haben, gibt’s auch keine Dessertkarte. Da müssen die Leute einfach das nehmen, was es gerade gibt.”
“Ich hoffe wirklich, dass dieser Sommer besser läuft als letztes Jahr”, seufzte sie.
“Aber du denkst dran, zu verkaufen, oder?”
“Was? Nein, niemals. Wie kommst du darauf?”
“Wegen des Engländers. Ich konnte sehen, wie er im Kopf alles durchgerechnet hat, als er sich die Küche angesehen hat.”
“Aber er ist doch nur ein Tourist.”
“Wohl kaum. Das war Karl Graves, der Hotelier. Ihm gehören über ein Dutzend Luxushotels auf der ganzen Welt.”
Frankie schien überrascht, erholte sich aber schnell. “Na, dann wird ihn White Caps eher nicht interessieren. Wir sind doch nur ein kleiner Fisch.”
Nate beschloss, ihr lieber nicht zu erzählen, dass jemand wie Graves das Anwesen kurzerhand zur privaten Ferienvilla für sehr zahlungskräftige Gäste umbauen würde. Stattdessen fragte er: “Wie schlecht steht es wirklich um das White Caps? Du kannst es mir ruhig sagen.”
Trotzig hob sie das Kinn. “Aber ich muss nicht.”
“Stimmt. Du kannst auch alles in dich hineinfressen, bis du eines Tages explodierst.”
“Spielst du jetzt den Therapeuten?”
“Schon möglich, aber eigentlich sehe ich mich mehr als Freund.”
Was sogar stimmte. Zum größten Teil. Denn gleichzeitig sah er sich, wie er mit Frankie nackt im Bett lag, sie am ganzen Körper streichelte und ihr Koseworte ins Ohr flüsterte. Hoffentlich konnte sie nicht Gedanken lesen, sonst wäre sie bestimmt in Panik davongerannt.
Nach ihrer ablehnenden Reaktion auf ihren ersten Kuss hatte er versucht, ihr Zeit zu geben und darauf gewartet, dass sie von selbst zu ihm kam. Doch nach über einer Woche hielt er es langsam nicht mehr aus. Deshalb hatte er den Ausflug auf den Berg vorgeschlagen. Wenn sie alleine waren, konnte er sie vielleicht noch einmal küssen …
Dummerweise war es im Moment viel wichtiger, dass sie in Ruhe miteinander redeten. Der Friedhofsbesuch hatte Frankie offenbar verstört, und er hoffte, dass sie endlich über den Tod ihrer Eltern sprechen würde. Um sie langsam zu dem Thema hinzuführen, war das White Caps noch immer der beste Weg.
“Ich verspreche dir, dass ich es niemandem weitererzähle”, betonte er. “Und sonst kannst du mich ja jederzeit feuern.”
Sie lächelte ganz kurz, dann legte sie die Arme um die Knie und den Kopf darauf. Am liebsten hätte er sie an sich gezogen und im Arm gehalten, aber das hätte sie nie geduldet. Also rührte er sich nicht und hoffte, dass sie doch noch reden würde.
Schließlich räusperte sie sich und sagte rau: “Wir werden es schon schaffen. Bis jetzt hat es immer irgendwie geklappt. Im Moment haben wir eine schwierige Phase, aber das ist am Anfang der Saison nicht ungewöhnlich.”
“Bist du sehr hoch im Minus?”
“Viel zu hoch. Die Grundsteuer ist enorm, ständig haben wir Reparaturkosten, und dann lief es letztes Jahr besonders schlecht. Außerdem muss ich Zinsen und Tilgung für eine hohe Hypothek bezahlen, weil wir die Erbschaftssteuer aufbringen mussten, als mein Vater starb.”
“Ich dachte, White Caps gehört deiner Großmutter.”
Sie schüttelte den Kopf. “Nein, ihr Vater hat sie enterbt, weil sie den Gärtner geheiratet hatte, und das Anwesen direkt meinem Vater übertragen, als er zweiundzwanzig wurde. Ein paar Jahre später hat der es dann zur Pension umgebaut, um die Unterhaltskosten zu bestreiten. Am Anfang lief das Geschäft auch wirklich fantastisch. Reich wurden wir davon zwar auch nicht, aber wir hatten ein gutes Auskommen.”
Seufzend blickte sie auf den See hinunter. “Ich hoffe immer noch, dass es wieder besser wird. Sicher, manchmal denke ich schon dran, zu verkaufen, aber nie für lange. Denn ich sage mir immer, wenn ich noch ein paar Monate durchhalte, kommt endlich der Durchbruch.” Sie lachte freudlos. “Ein Hoch auf den Optimismus.”
“Hast du denn irgendwelche Sicherheiten?”
“Du meinst Wertgegenstände? Nicht viel. Zu wenig. Ich habe ein Silbergeschirr und Grand-Ems letzten Schmuck verkauft, um das Studium für Joy zu bezahlen. Sie hat die Universität von Vermont in der Rekordzeit von drei Jahren abgeschlossen”, erklärte sie stolz.
“Und wo hast du studiert?”
“In Middlebury. Ich war nur auf dem College und habe keinen Abschluss gemacht. Ich hatte andere Pläne, aber es kam was dazwischen. Und wer weiß, wie ich mich im richtigen Leben geschlagen hätte.”
“Im richtigen Leben?”, fragte er erstaunt. “Und wofür hältst du das hier?”
Sie lachte leise. “Saranac Lake ist eine verschlafene Kleinstadt und mit New York City wohl kaum zu vergleichen.”
“Und du wolltest nach New York?”
Nach langem Zögern sagte sie: “Ja, ich habe mal geglaubt, dass ich dort leben würde.”
“Und was ist passiert?”
Unvermittelt stand sie auf. “Lass uns zurückgehen, ich muss den Speisesaal noch eindecken.”
“Wieso? Dienstags haben wir doch Ruhetag.”
Nate merkte, wie sie verzweifelt nach einer Ausrede suchte.
“Aber der Klempner. Er arbeitet im Büro. Und er muss bezahlt werden.”
Es nützte nichts, sie zu drängen, das wusste er mittlerweile. Nur mit Geduld kam man bei ihr weiter. Fragte sich nur, wie weit? Irgendwie störte es ihn auf einmal, so zu denken.
“Ich bin froh, dass du so offen mit mir geredet hast”, sagte er.
“Ich weiß gar nicht, wieso.”
Er stand auf und klopfte sich die Jeans ab. “Jeder braucht hin und wieder einen Freund. Irgendwann kannst du dich ja mal revanchieren.”
Damit machte er sich an den Abstieg, blieb aber stehen, als er merkte, dass sie nicht folgte, und schaute sich um.
“Ich habe das ernst gemeint, Nate”, sagte sie kühl. “Wir werden kein Paar.”
“Dann haben wir eben nur Sex. Und ich stelle auch keine neugierigen Fragen mehr.”
“Ich will aber gar nichts von dir!”
Unwillkürlich dachte er daran, wie leidenschaftlich sie seinen Kuss erwidert hatte. “Bist du da ganz sicher?”
“Hundertprozentig.”
Ihre kategorische Ablehnung schmerzte. Was gefiel ihr denn nicht an ihm?
“Ich will dich weder als Liebhaber noch als Freund”, fügte sie hinzu.
“Ja, klar, du hast ja beides auch schon im Überfluss.”
“Lass mich einfach in Ruhe, hörst du?”
Mit zwei Schritten war Nate wieder bei ihr. Eigentlich wollte er ihr nur eindringlich sagen, dass es kein Verbrechen und keine Schande war, wenn man sich mal Unterstützung bei anderen holte, aber sie trat erschrocken einen Schritt zurück, als hätte sie Angst. Es war wie eine Ohrfeige. Dachte sie wirklich so schlecht von ihm?
Ärgerlich hob er die Hände. “Du willst allein sein? Kein Problem. Gib mir einfach fünf Minuten Vorsprung, dann müssen wir nicht mal zusammen zurücklaufen.”
Tatsächlich hielt sie ihn nicht auf, und er fluchte den gesamten Weg nach unten leise vor sich hin. Wieso stritt er sich mit ihr? Sie hatte doch recht. An einer unverbindlichen Affäre war sie nicht interessiert, aber mehr konnte er ihr nun mal nicht bieten.
Trotzdem verletzte ihn ihre Zurückweisung. Was hatte er ihr denn getan, dass sie ihm ständig die kalte Schulter zeigte? So ein übler Typ war er nun wirklich nicht.
Aber wenn sie es unbedingt so wollte, würde er sie eben in Ruhe lassen.
Am Freitag darauf überblickte Frankie begeistert den gut gefüllten Speisesaal. Zum ersten Mal seit Langem waren fast alle Tische besetzt. Die Nachricht über den neuen Koch im White Caps hatte die Runde gemacht – und die Gäste wurden nicht enttäuscht. Nates neue Speisekarte, von Frankie am Computer gestaltet und auf edlem cremefarbenen Papier ausgedruckt, enthielt ausschließlich französische Gerichte. Zum Wochenende hatte sie sogar zwei Mädchen aus der Stadt als Aushilfskellnerinnen angeheuert – allerdings nicht nur, weil das Geschäft anzog, sondern auch, weil Joy sich fast rund um die Uhr um Grand-Em kümmern musste und damit fürs Restaurant ausfiel.
Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, setzte sich Frankie ins Büro und rechnete die Belege des Abends zusammen. Fünfunddreißig Menüs, dazu Getränke und Trinkgeld, das machte über zweitausendfünfhundert Dollar an einem Abend. Soviel hatte sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im Monat verdient!
Wenn es so weiterging, könnte sie bis zum Herbst den größten Teil ihrer Rückstände bei der Bank aufholen. Das wurde auch höchste Zeit, denn bei ihrem Termin mit Mike war die Anspannung deutlich spürbar gewesen. Sie rechnete nicht damit, dass er ihr die Hypothek von heute auf morgen kündigte, aber allzu lange konnte er auch nicht mehr stillhalten. Am besten, sie rief ihn gleich Montag an, um ihm die gute Nachricht zu verkünden.
Frankie blickte auf, als Joy an der offenen Tür erschien. Sie wirkte müde und abgespannt. “Grand-Em schläft endlich.”
Im Moment war es wirklich harte Arbeit, ihre Großmutter bei Laune zu halten. Wenn ihre fixen Ideen und falschen Erinnerungen überhandnahmen, half nur noch Ablenkung, aber es war nicht leicht, sie stundenlang zu beschäftigen.
“Wie geht es dir?”, fragte Frankie teilnahmsvoll.
“Ich bin ziemlich erledigt. Sie hat sich immer noch in den Kopf gesetzt, diesen Ring zu finden, und besteht darauf, dass er in der Wand im Lincoln-Zimmer steckt. Außerdem war es heute hier unten lauter als sonst, das hat sie auch aufgeregt. Aber das ist eigentlich gut, oder? War es voll?”
“Und wie.”
“Nate ist wunderbar, was? Wir hatten so ein Glück, dass er hier gestrandet ist. Ich weiß nicht, was ohne ihn geworden wäre.”
Frankie nickte, den Blick auf den Quittungsstapel gerichtet.
“Du magst ihn anscheinend nicht sehr”, bemerkte Joy stirnrunzelnd.
“Er ist ein fantastischer Koch”, erwiderte Frankie lahm.
“Hast du ihm das auch mal gesagt?”
Sie schaffte es gerade noch, ein resigniertes Schnauben zu unterdrücken. Wenn sie ihm dieser Tage etwas mitteilen wollte, musste sie es schon schriftlich tun, denn er ging ihr konsequent aus dem Weg. Seit ihrem Ausflug auf den Berg hatte er kaum drei Worte mit ihr gewechselt. Er legte ihr die Lieferlisten auf den Schreibtisch, wenn sie nicht da war, und blickte nicht vom Herd auf, wenn sie durch die Küche ging. Als sie ihm seinen Gehaltsscheck geben und ihm für seine Arbeit danken wollte, hatte er nur kurz genickt und sie stehen lassen.
So hatte sie sich das auch nicht vorgestellt. Immerhin mussten sie für den Restaurantbetrieb eng zusammenarbeiten – wie sollte das gehen, wenn sie nicht miteinander sprachen?
Außerdem verstand sie nicht, warum er ihr nach seinen zahlreichen Annäherungsversuchen so auffallend die kalte Schulter zeigte. Hatte sie auf dem Berg seine Gefühle verletzt?
“Hast du oder hast du nicht?”, wiederholte Joy.
Verwirrt blickte Frankie auf. “Was?”
“Es ihm gesagt. Wie sehr wir seine Arbeit zu schätzen wissen. Er wirkt nicht sehr glücklich, weißt du.”
“Ich hab’s versucht, aber ich werde ihn noch mal drauf ansprechen”, versprach Frankie.
“Gut. Ich geh jetzt ins Bett.”
Unschlüssig blieb Frankie am Schreibtisch sitzen, doch nach ein paar Minuten entschied sie, dass sie die Sache genauso gut gleich jetzt hinter sich bringen konnte. In der Küche war Nate allerdings nicht, und als sie oben nachschaute, stand seine Tür offen, aber das Licht war aus und das Bett leer. Wo steckte er?
Vielleicht draußen? Es war eine klare Vollmondnacht, windstill und angenehm warm. Doch auch im Garten regte sich nichts, und sie wollte gerade umkehren, als sie ihn doch noch entdeckte. Er stand auf dem Bootssteg und schaute über den See.
Frankie ging auf ihn zu, blieb aber stehen, als sie sah, dass er sein T-Shirt auszog. Und dann seine Jeans. Darunter trug er – nichts.
Was für ein Anblick! Hingerissen legte sie die Fingerspitzen an den Mund und hoffte heimlich, dass er sich umdrehen würde. Allein schon bei der Vorstellung wurde ihr heiß.
Als Nate den Kopf wandte und sie dabei ertappte, wie sie ihn ungeniert mit Blicken verschlang, wurde ihr schlagartig noch heißer. Was jetzt? Ich war nur ein bisschen spazieren und habe mich gewundert, dass auf unserem Bootssteg auf einmal eine griechische Statue steht? Wohl keine gute Ausrede.
Doch er tat so, als bemerke er sie gar nicht, wandte sich wieder ab und sprang mit einem eleganten Kopfsprung in den See.
Ihr erster Impuls war, ins Haus zurückzurennen, aber sie waren schließlich beide erwachsen. Also schlenderte sie gelassen zum Steg und setzte sich, als liefen ihr ständig nackte Männer über den Weg.
Er schwamm ein paar Züge und drehte sich dann auf den Rücken. Falls er überrascht war, verbarg er es gut.
“Stimmt was nicht?”, fragte er.
Als ob das der einzige Grund sein könnte, warum sie mit ihm sprechen wollte!
Alles bestens, dachte sie trocken. Abgesehen davon, dass sie das Bild von seinem knackigen Po nun nicht mehr aus dem Kopf bekam und wieder eine Nacht lang keinen Schlaf finden würde.
“Wie man’s nimmt”, erwiderte sie.
“Dann raus damit.” Er schwamm zum Steg zurück und stemmte sich halb aus dem Wasser, sodass es ihm bis zum Bauchnabel reichte.
Jetzt musste sie nur noch vergessen, dass er keine Badehose trug. Das sollte doch zu machen sein, oder? Dumm nur, dass schon allein sein Oberkörper, von dem das Wasser glitzernd abperlte, ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Und das war noch die harmloseste Reaktion.
Sie räusperte sich und versuchte, sich von seinem herausfordernden Blick nicht ablenken zu lassen. “Ich wollte dir für deine wunderbare Arbeit danken. Es ist unglaublich, wie gut das Restaurant wieder läuft.”
“Gern geschehen.”
Schweigen. Frankie schaute auf ihre Hände. “Und ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich auf dem Berg so eklig zu dir war. Mir ist eine reine Geschäftsbeziehung lieber, aber du wolltest nett sein, und ich habe dir dafür fast den Kopf abgerissen.”
“Schon gut.” Es klang gelangweilt.
“Das war wirklich nicht richtig von mir.”
“Vergiss es einfach. Ich hab’s auch vergessen.”
Er ließ sich wieder ins Wasser gleiten, stieß sich vom Steg ab und drehte sich auf den Rücken.
Warum versetzte ihr seine Gleichgültigkeit einen Stich?
“Tja, also. Na dann.” Sie löste ihren Haargummi und spielte damit.
“Gibt’s sonst noch was?”
“Äh, nein.”
“Dann solltest du besser wieder ins Haus gehen. Ich komme jetzt gleich aus dem Wasser, und ich glaube nicht, dass du dann dort sitzen willst.”
Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie er aus dem See stieg und das Wasser in kleinen glitzernden Bächen über seinen Körper rann. Er würde zu ihr kommen und sie umarmen, sie würde sich auf den Steg zurücksinken lassen, während er sie leidenschaftlich küsste und …
“Gute Nacht, Frankie”, sagte er nachdrücklich.
Sie nickte, stand auf und ging ins Haus zurück. Auf einmal fühlte sich die Nacht nicht mehr so warm an, und sie rieb sich fröstelnd die Arme.
Als Nate am nächsten Morgen um fünf in die Küche hinunterkam, wollte er eigentlich Rinderfond machen. Er brauchte Ablenkung, und die gab es in letzter Zeit nur noch beim Kochen. Verdammt, er bekam diese Frau einfach nicht aus dem Kopf. Er wusste nicht mehr, ob er sie anschreien oder anbetteln sollte. Vielleicht musste er dankbar sein, dass sie nichts von ihm wissen wollte.
Aber ihr kleiner Besuch am Bootssteg letzte Nacht hatte ihm den Rest gegeben. Das Wasser auf seiner Haut hatte sich angefühlt wie ihre Hände, nach denen er sich so sehnte – und sie hatte unerreichbar direkt vor seiner Nase gesessen.
Leider gab es kein Entkommen. Schließlich sah er sie jeden Tag. Auch wenn er so tat, als bemerke er sie gar nicht, hatte er sie doch immer im Blick. Was vor allem in der Küche richtig gefährlich war. Wenn sich nicht bald etwas tat, würde er sich noch beim Gemüseputzen verstümmeln.
Nun ja, wenigstens war es kein Dauerzustand. Irgendwie musste er es einfach bis zum Labor Day schaffen.
Als er in die Kühlkammer trat, um Suppengemüse zu holen, entdeckte er in einer Ecke eine Tomate, die schon ziemlich vergammelt aussah. Er hob sie auf und warf sie angeekelt in den Abfall. So was durfte einfach nicht vorkommen, und erst recht nicht in seiner Küche. Er hätte die Kühlkammer und die Küche eigentlich erstmal gründlich putzen müssen, bevor er seinen Dienst hier antrat, aber er war mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
Nach einer halben Stunde hatte er die Kühlkammer komplett ausgeräumt, dafür sah die Küche aus wie ein Wochenmarkt. Er hatte einzelne Gemüse wie Gurken und Zucchini in leere Töpfe gepackt, Blumenkohl und Brokkoli auf die Stühle gelegt und Mais und Tomaten auf dem Tisch ausgebreitet. Die Plastikkisten und Stahlwannen, in denen das Gemüse gelagert wurde, spülte er mit der Geschirrdusche ab, die an die Spülmaschine angeschlossen war. Die Kühlkammer selbst und alle Regale desinfizierte er mit einer Mischung aus Chlorbleiche und Zitronensaft.
Danach nahm er sich den Küchenboden vor. Er rutschte gerade auf Händen und Knien vor dem Herd herum, um die Sockelleiste abzuwischen, als er Joys Stimme hörte: “Liebe Güte, was ist denn hier los?”
Ich brauche nur ein wenig Ablenkung von deiner Schwester, dachte er grimmig, richtete sich dann auf und zeigte Joy den fast schwarzen Putzlappen. “Es ist ein Wunder, dass das Gesundheitsamt den Laden noch nicht geschlossen hat. Hier ist ein Großputz fällig.”
Joy lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. “Kann ich helfen?”
“Du könntest hier ein wenig Platz schaffen für die neue Lieferung”, erwiderte Nate mit einer Kopfbewegung zum Fenster. “Stu ist hier – und viel zu früh.”
Gemeinsam brachten sie auch die neue Lieferung noch in der Küche unter, dann holte Joy einen Scheck aus dem Büro, während Nate die Waren für die nächste Lieferung bestellte. Stu war gerade wieder weg, als sie über sich eilige Schritte hörten.
“Das muss Frankie sein”, bemerkte Joy mit einem Blick zur Decke. “Bestimmt ist sie in Panik geraten, weil sie Stu verpasst hat.”
Nate wollte gerade etwas erwidern, als ein Mann im Bademantel durch die Tür zum Speisesaal stürmte. “In unserem Zimmer steht eine alte Frau! Und sie bedroht meine Freundin!”
“Oh, nein, Grand-Em!” Joy eilte zu ihm. “Es tut mir so leid. Sie ist völlig harmlos.”
“Aber sie hat einen Hammer!”
Nate wollte den beiden folgen, aber Joy hielt ihn zurück. “Das mache ich besser alleine, sonst regt sich Grand-Em zu sehr auf.”
Es klang so selbstsicher, dass Nate sich überzeugen ließ und stattdessen seine Putzarbeit wieder aufnahm. Er versuchte gerade, hinter dem Herd zu wischen, als er einen entsetzten Aufschrei hörte.
Frankie stand in der Tür und starrte ungläubig auf das Chaos in der Küche.
“Sag jetzt nicht, dass der Kompressor hinüber ist!”
“Nein, die Kühlkammer funktioniert.”
“War Stu schon hier?”
“Ist gerade wieder weg.”
“Mein Gott, was hast du nur getan!”
Stirnrunzelnd sah er zu, wie sie zur freistehenden Arbeitsfläche ging, die unter den verschiedenen Gemüsesorten fast verschwand. Statt panisch sah sie jetzt wütend aus.
“Ist Stu bezahlt worden?”
“Natürlich.”
“Womit?”
Langsam stand er auf, den schmutzigen Lappen in der Hand. “Mit Diamanten.”
“Hältst du das für komisch?”
“Kein bisschen.”
Sie stach mit dem Zeigefinger in die Luft. “Ich dachte wir wären uns einig, dass du mir alle Bestellungen vorlegst.”
“Und das habe ich auch.” So langsam ging ihm ihr Tonfall auf die Nerven, und er musste sich beherrschen, um nicht selbst laut zu werden.
“Und was ist dann das hier alles? Du bist nicht befugt, Bestellungen aufzugeben oder Lieferungen anzunehmen. Du überschreitest deine Kompetenzen.”
“Wie bitte?” Schwer atmend stützte sich Nate auf die Arbeitsplatte.
“Was zum Teufel sollen wir mit all diesem Zeug machen? Die Kühlkammer ist doch schon bis obenhin voll.”
Nate presste die Lippen aufeinander und starrte auf den Boden, den er eigentlich hatte schrubben wollen.
“Jetzt reicht’s mir”, murmelte er, ließ den Lappen fallen und ging zur Tür. Er musste raus hier, weg von Frankie, sonst würde er noch Dinge sagen, die ihm nachher leidtaten. Vielleicht leidtaten.
“Wo willst du hin?”, fragte sie.
“Ich kann mich jetzt gerade nicht mit dir abgeben.”
“Und was ist mit dem Chaos hier?”
Er riss die Hintertür auf und trat hinaus. “Räum es selbst auf oder lass es bleiben. Mir ist es egal.”
Nachdem Nate hinausgestürmt war, sah sich Frankie wie betäubt in der Küche um. Hier lag ein Vermögen an Gemüse, das bereits langsam welk wurde. Sie hätte heulen mögen. Das alles musste Unsummen gekostet haben.
Genau das hatte sie vermeiden wollen, als sie darauf bestand, die Bestellungen selbst vorzunehmen. Aber Nate wusste doch eigentlich, wie es um das White Caps stand. Wollte er sich an ihr rächen? Nein, so schätzte sie ihn nicht ein.
Um irgendwo anzufangen, hievte sie einen Kartoffelsack hoch und schleppte ihn zur Kühlkammer. Sie schob den Hebel mit der Hüfte zur Seite, stieß die Tür mit dem Fuß auf – und gab dann einen überraschten Laut von sich.
Die Kühlkammer war leer – und blitzsauber.
Stirnrunzelnd schaute sie sich in der Küche um – und entdeckte erst jetzt die Plastikkisten und Stahlwannen, die neben dem Geschirrspüler zum Trocknen gestapelt waren. Und Putzeimer und Lappen neben dem Herd.
“Oh verdammt”, murmelte sie und schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
Zwanzig Minuten später hatte sie das gesamte Gemüse wieder in die Kühlkammer geräumt und sich zurechtgelegt, was sie Nate sagen würde.
Sie fand ihn im Schuppen unter seinem Auto, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte keine Ahnung, was er da machte, aber das laute Scheppern und Klappern zeigte, wie eilig er es hatte, von hier wegzukommen. Was wurde dann aus dem White Caps?
“Nate?”
Das Scheppern hörte auf, doch er antwortete nicht. Frankie atmete tief durch und schluckte ihren Stolz hinunter. “Es tut mir wirklich sehr leid.”
Es klapperte wieder, doch diesmal etwas leiser.
“Ich habe voreilig falsche Schlüsse gezogen”, fuhr sie fort. “Ich hätte wissen müssen, dass du niemals etwas so Unvernünftiges tun würdest.”
Als wieder keine Antwort kam, fügte sie hinzu: “Also, ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Es tut mir wirklich leid.”
Meine Güte, das war jetzt schon die zweite Entschuldigung in vierundzwanzig Stunden. Leider schien das auch nichts zu helfen, denn Nate sagte noch immer nichts.
Achselzuckend wandte sie sich ab.
“Weißt du, was mich am meisten aufregt?”, rief er ihr hinterher.
Sie wirbelte herum und sah, wie er sich unter dem Wagen vorschob. Seine Hände waren schwarz, und als er sich an der Stirn kratzte, hinterließen sie einen öligen Streifen.
“Du hast mir nicht mal Gelegenheit gegeben, irgendwas zu erklären.”
Sie schloss die Augen. “Ich weiß. Es war mein Fehler. Ich habe verschlafen, kam in Hektik runtergerannt und habe das ganze Gemüse gesehen … Da bin ich einfach in Panik geraten. Ich dachte, du hättest vergessen, dass du nicht im La Nuit bist.”
“Keine Sorge. Ich weiß genau, wo ich bin.” Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er lieber in New York gewesen wäre.
Und wer wollte es ihm verdenken? Seit über zwei Wochen saß er jetzt in dieser Einöde fest, und statt in seiner Freizeit in die Stadt zu fahren, half er ihr im Haus und im Garten.
“Warum nimmst du dir nächsten Dienstag nicht frei?”, schlug sie vor. “Du kannst meinen Wagen nehmen und in die Stadt fahren.”
“Soll das ein Friedensangebot sein?”
“Ja.” Sie lächelte ein wenig unsicher. “Und ich weiß deine Arbeit wirklich zu schätzen. Die Kühlkammer glänzt wie neu, und du kochst wie ein Gott.”
Er stand langsam auf, doch ihre Worte schienen ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.
“Und, äh … ich hoffe, dass du uns nicht verlässt.”
“Weil das Restaurant gut läuft, oder?”
Sie nickte und wunderte sich, warum er so missmutig aussah.
“Na gut, pass auf.” Er verschränkte die Arme vor der Brust. “Ich werde Dienstagabend freinehmen, wenn du es auch tust. Wir werden ausgehen. Miteinander.”
“Oh, ich denke nicht, dass …”
Er grinste ein wenig boshaft, als sie nicht gleich eine Ausrede fand.
“Denk dran, du tust es fürs Geschäft.”
“Ach ja?”
“Sechs Wochen sind lang. Wir werden einen Weg finden müssen, miteinander auszukommen, sonst schlagen wir uns am Ende noch die Köpfe ein.”
“Und warum reden wir nicht jetzt darüber?”, fragte sie zaghaft.
“Weil ich immer noch sauer auf dich bin.”
Darauf wusste sie nichts zu sagen, und er kramte einen Schraubenschlüssel aus dem Werkzeugkasten. “Du hast die Wahl. Entweder wir gehen miteinander aus, oder ich bin morgen nicht mehr hier.”
“Das ist ein ganz schön heftiges Ultimatum.”
“Und ich spiele keine Spielchen. Also, wofür entscheidest du dich?”
Frankie sah ihm in die Augen. “Ist sieben Uhr okay?”
“Sieben passt mir gut”, murmelte er, legte sich wieder hin und schob sich unter den Wagen.