2. KAPITEL

Keine zehn Minuten später konnte Frankie die Salate servieren. George waren perfekte, knackige Streifen gelungen, und das nicht nur beim Eisbergsalat, sondern auch noch bei den roten und gelben Paprika. Das Dressing hatte der Fremde aus Olivenöl, Zitronensaft und ein paar Gewürzen gezaubert.

Inzwischen waren die sechs Besucher aus der Stadt allerdings wieder gegangen – schließlich hatten sie es nicht weit zu ihren eigenen Küchen. Die Pensionsgäste dagegen sahen aus, als würden sie Frankie vor Hunger gleich anfallen. Deshalb machte sie sich wegen des Essens auch keine großen Sorgen – egal, wie es schmeckte, Hauptsache, es kam bald auf den Tisch.

Die Littles starrten sie vorwurfsvoll an, als sie den Salat servierte.

“Wie schön, dass Sie es doch noch geschafft haben”, bemerkte Mr. Little bissig. “Mussten Sie erst warten, bis die Blätter groß genug waren, oder wie?”

Angestrengt lächelnd stellte sie die Teller ab und machte sich so schnell wie möglich auf den Rückweg, hörte aber gerade noch, wie Mr. Little sagte: “Mein Gott. Das ist … essbar.”

Fantastisch, der Salat war dem Superman-Küchenchef also schon mal gelungen. Aber ob er bei dem Hähnchen auch solches Talent bewies?

Als Frankie wieder in die Küche kam, fragte sie sich nebenbei, warum sie so überkritisch war – schließlich rettete der Fremde ihr gerade das Leben. Doch entglitt ihr der Gedanke vor Überraschung, als sie George sah: Er war gerade dabei, seine geliebten Rosinen-Vollkornkekse auf einem Tuch auszubreiten.

“Und wenn wir soweit sind, halten wir sie über das kochende Wasser, okay, Georgie?”, sagte der Fremde mit dieser sanften Stimme. “Dadurch werden sie schön weich.”

Völlig hingerissen sah Frankie zu, wie der Mann, ohne ein einziges Mal innezuhalten, aus verbranntem Huhn, Resten und Vollkornkeksen ein Abendessen kreierte. Zwanzig Minuten später richtete er auf den Tellern mit dem White-Caps-Logo Hähnchen in einer cremigen Sauce an, von der ein himmlischer Duft aufstieg.

“Jetzt bist du dran, Engelchen, folge mir.”

Direkt hinter ihm streute Joy Kräuter auf die Tellerreihe, dann fing der Fremde wieder vorne an, packte Reis in Kaffeetassen und stürzte die runden Formen auf die Teller. Schließlich befahl er: “Servieren.”

Frankie reagierte sofort und nahm alle vier Teller auf einmal auf, so wie sie es schon als Teenager gelernt hatte.

“Joy, du räumst ab”, rief sie auf dem Weg nach draußen.

Joy überholte sie auf dem Weg in den Speisesaal und räumte die Salatteller ab, bevor Frankie das Hauptgericht auftrug.

Zwei Stunden später war alles vorbei. Nach dem Dessert, einer traumhaften Schichtspeise, der niemand mehr die Herkunft aus einer Packung Kekse ansehen konnte, verließen die Gäste den Speisesaal satt und zufrieden. Ja, sie schwärmten geradezu vom Essen – sogar die mäkeligen Littles. Die Küche war wieder aufgeräumt, und Joy und George glühten vor Stolz über die gute Arbeit, die sie unter Anweisung des Fremden geleistet hatten.

Nur Frankie war nicht zufrieden.

Sie hätte dem Mann mit den glänzenden Messern und flinken Händen eigentlich auf Knien danken müssen. Aber normalerweise war sie diejenige, die jede Situation rettete, und es gefiel ihr gar nicht, ihren Heldenstatus an einen Wildfremden abzutreten. Schon gar nicht an einen, der mit einem Beutel Tiefkühlmais um den Knöchel ihre Küche als sein Zuhause zu betrachten schien.

Er ließ sich alle Zeit der Welt, seine Messer zu säubern und wieder sorgfältig in dem Futteral zu verstauen, das er in den Rucksack zurücksteckte. Erst jetzt fiel Frankie ein, dass er noch immer nicht in die Nähe des Telefons gekommen war.

“Wollen Sie jetzt telefonieren?”, fragte sie. Es klang barscher als beabsichtigt, denn eigentlich hätte sie ihm danken müssen – aber darin war sie ziemlich ungeübt.

Der Mann sah sie abwartend an, ohne eine Miene zu verziehen. Es störte sie etwas, dass er sich ihr gegenüber so kühl verhielt, wo er doch bei Joy und George so freundlich gewesen war. Wahrscheinlich mochte er sie einfach nicht. Und wenn schon! Sie würde ihn nie wiedersehen und wusste nicht mal, wie er hieß.

Wieder ignorierte er ihre Frage und blickte an ihr vorbei zu Joy, die gerade die Treppe zum Wohntrakt hinaufgehen wollte. “Gute Nacht, Engelchen. Du hast heute wirklich gute Arbeit geleistet.”

Joy schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. “Danke, Nate.”

Auf diese Weise erfuhr Frankie endlich auch seinen Namen.

Nate schloss seinen Rucksack und erwiderte den etwas angriffslustigen Blick der Frau vor ihm gelassen.

Hinter ihrer feindseligen Maske verbarg sich bestimmt pure Erschöpfung. Sie wirkte abgekämpft, und ihre hängenden Mundwinkel verrieten, dass sie schon zu lange versuchte, mit unzureichenden Mitteln und Mitarbeitern einen aussichtslosen Kampf zu gewinnen.

Er hatte in den letzten Jahren in der Branche viele solcher Unternehmer kennengelernt. Das White Caps war früher vielleicht einmal ein glanzvolles Hotel gewesen, doch jetzt sah alles verdächtig nach Niedergang und Verfall aus. Aus der einst prächtigen Villa wurde langsam aber sicher eine Ruine, und diese Frau vor ihm schien entschlossen zu sein, mit dem Haus unterzugehen.

Wie alt mochte sie sein? Er schätzte sie auf Anfang dreißig, obwohl die Müdigkeit sie älter wirken ließ. Auch ihr Aufzug trug dazu bei: die herausgewachsene Ponyfrisur und die schmucklose Brille, die viel zu weite Kellnerinnenuniform – weißes Oberteil und schwarze Hose –, die lustlos an ihr herunterhing.

Wahrscheinlich hatte sie sich große Hoffnungen gemacht, als sie die viktorianische Villa kaufte, aber schon nach kurzer Zeit gemerkt, dass es ein undankbarer Job war, verwöhnte, reiche Wochenendgäste zu beherbergen. Und dann waren die ersten Reparaturrechnungen eingetrudelt, und ihr war klar geworden, wie teuer allein der Erhalt eines so alten Hauses sie zu stehen kam.

Realistisch gesehen würde das White Caps in spätestens einem Jahr entweder neue, finanzkräftige Besitzer haben oder vom Staat wegen baulicher Mängel geschlossen werden.

“Was ist nun mit dem Telefon?”, unterbrach sie seine Gedanken.

Ganz offensichtlich war sie eine Kämpfernatur und würde nicht so einfach aufgeben. Aber was brachte ihr das? Noch mehr Schulden und schlaflose Nächte? Vielleicht gehörte der alte Kasten ja ihrem Mann, und sie versuchte zu retten, was zu retten war. Einen Ehering konnte er allerdings nicht entdecken.

“Hallo? Nate, oder wie Sie heißen, entweder machen Sie jetzt Ihren Anruf oder Sie verschwinden. Wir schließen gleich.”

“Okay. Danke”, sagte er und ging in die Richtung, in die sie vorhin gedeutet hatte. Als er das dunkle Büro betrat, wunderte er sich, dass er auf einmal durch Pfützen watete, und schaltete eilig das Licht an.

Ach herrje, der Raum war ein halbes Schwimmbad! Kopfschüttelnd schaute er zur Decke hoch, wo durch ein Loch Rohre zu sehen waren, die fast so alt sein mussten wie das Haus.

Vermutlich hatte er noch Glück, wenn das Telefon überhaupt funktionierte. Er griff nach dem Hörer und wählte die Handy-Nummer seines Freundes Spike, mit dem er ein eigenes Restaurant eröffnen wollte. Sie kannten sich seit ihrer Ausbildung an dem renommierten Culinary Institute of America, und ihre Restaurantpläne waren auch der Grund für Nates Reise nach Montreal: Dort gab es ein vielversprechendes Angebot, ein bereits gut eingeführtes Restaurant zu übernehmen.

Nachdem er Spike von seinem unplanmäßigen Zwischenstopp unterrichtet hatte, legte er auf und blickte zu der Frau, die im Türrahmen stand.

“Was ist mit Ihrem Koch passiert?”, fragte er.

“Er hat heute Nachmittag gekündigt.”

Nate nickte. So war das nun mal im Restaurantgeschäft – man konnte fristlos gefeuert werden, aber auch jederzeit gehen.

Die Frau trommelte ungeduldig mit den Fingern an den Türrahmen, aber Nate hatte es nicht eilig und sah sich in Ruhe um. Ein ganz normales Büro mit Schreibtisch, Computer, Aktenschränken, ein paar Stühlen und einem Bücherregal. Dort stand ein altes, gerahmtes Foto von einer jungen Familie, die glücklich in die Kamera lächelte. Mutter und Vater, drei Kinder, gekleidet im Stil der siebziger Jahre.

Er ging hin und nahm das Bild in die Hand, um es sich genauer anzusehen, aber sie war mit zwei Schritten bei ihm und entriss ihm den Rahmen. “Also hören Sie mal!”

Als sie so dicht vor ihm stand, spürte er plötzlich erstaunliche Schwingungen zwischen ihnen. Trotz der Ponyfrisur und des Kassengestells, trotz der weiten Sachen und der dunklen Ringe unter ihren Augen reagierte sein Körper auf ihre Nähe. Sie machte große Augen und trat hastig einen Schritt zurück, als spürte sie es auch.

“Suchen Sie einen neuen Koch?”, fragte er unvermittelt.

“Weiß ich noch nicht”, erwiderte sie unbestimmt.

“Na, heute Abend haben Sie jedenfalls ganz sicher einen gebraucht. Wenn ich nicht hereingeschneit wäre, hätten Sie ganz schön alt ausgesehen.”

“Dann lassen Sie es mich so sagen: ich weiß nicht, ob ich Sie gebrauchen kann.” Mit einer heftigen Bewegung legte sie den Rahmen mit dem Foto nach unten aufs Regal zurück.

“Denken Sie, ich kann nicht genug?” Als sie störrisch schwieg, dämmerte ihm, wie sehr es ihr widerstrebte, ihm etwas schuldig zu sein. “Dann verraten Sie mir doch, was ich heute Abend wohl falsch gemacht habe.”

“Sie waren ganz okay, aber deswegen muss ich Sie ja nicht gleich einstellen.”

Kopfschüttelnd sah er sie an. “Ganz okay? Meine Güte, Komplimente sind nicht Ihre Stärke, was?”

“Ich habe keine Zeit, jemandem Honig um den Bart zu schmieren, schon gar nicht, wenn er sowieso schon so von sich eingenommen ist wie Sie.”

“Aha. Also fühlen Sie sich unter Depressiven wohler.”

“Was soll das denn bitte heißen?”

Nate zuckte die Achseln. “Ihre Mitarbeiter sind so fertig, dass sie kaum noch geradeaus laufen können. Das arme Mädchen wäre heute Abend für ein gutes Wort durchs Feuer gegangen, und George hat auf jedes Lob so enthusiastisch reagiert, als hätte er seit Monaten nichts Nettes mehr gehört.”

“Und woher wollen Sie das alles wissen?”, fragte sie, die Hände angriffslustig in die Hüften gestemmt.

“Weil es offensichtlich ist. Wenn Sie ab und zu mal Ihre Scheuklappen abnehmen würden, könnten Sie selbst sehen, was Sie den beiden antun.”

“Was ich ihnen antue? Das erklär ich Ihnen gerne.” Sie stach mit dem Finger in die Luft. “Ich sorge dafür, dass Joy ein Dach über dem Kopf hat. Und George würde ohne mich im Heim leben. Also behalten Sie Ihre Pauschalurteile mal lieber für sich.”

Während sie ihn wütend anfunkelte, fragte er sich, warum er sich überhaupt mit ihr stritt. Hatte die arme Frau nicht schon genug durchzustehen? Und ihm konnte es ja sowieso egal sein.

“Wissen Sie was – wir fangen einfach noch mal ganz von vorn an”, schlug er vor. “Waffenstillstand?”

Er streckte ihr die Hand hin, weil ihm gerade klar geworden war, dass er die nächsten Wochen hier verbringen würde – obwohl sie ihm den Job noch gar nicht offiziell angeboten hatte. Aber er hatte sowieso vorgehabt, sich über den Sommer was dazuzuverdienen, und sie brauchte dringend Hilfe. Das White Caps war so gut wie jedes andere Restaurant – vielleicht sogar noch besser, weil er hier weitab vom Schuss ein paar neue Rezepte ausprobieren konnte, ohne dass er gleich wieder von Restaurantkritikern bedrängt wurde.

Doch sie reagierte nicht auf sein Friedensangebot, sondern starrte ihn nur finster an. Er streckte seine Hand noch etwas weiter aus, woraufhin sie die Arme vor der Brust verschränkte. “Sie gehen jetzt wohl besser.”

“Sind Sie immer so unvernünftig?”

“Gute Nacht.”

Er ließ die Hand sinken. “Ist das Ihr Ernst? Sie brauchen dringend einen Koch, und vor Ihnen steht einer, der bereit wäre, für Sie zu arbeiten – und zwar ab sofort. Aber das kümmert Sie gar nicht, denn Sie können mich nicht leiden und lehnen deshalb ab – auch wenn Sie Ihren Gästen dafür morgen Dosenfutter servieren müssen.”

Als sie weiterhin feindselig schwieg, schüttelte er den Kopf. “Meine Güte, Frau, haben Sie schon mal dran gedacht, dass Sie selbst vielleicht das größte Problem hier sind?”

Das hätte er besser nicht sagen sollen. Er erkannte es daran, dass sie zu zittern begann. Er wollte sich schon ducken, doch statt ihn zu ohrfeigen, begann sie zu weinen. Hinter den Brillengläsern sah er Tränen über ihre Wangen rollen.

“Ach, verdammt”, murmelte er und fuhr sich verlegen durchs Haar. “Ich meinte doch nicht …”

“Sie kennen mich nicht”, unterbrach sie ihn. Trotz der Tränen klang ihre Stimme zornig. “Sie haben keine Ahnung, was hier los ist. Sie wissen nicht, was wir alles durchgemacht haben. Also nehmen Sie jetzt endlich Ihre Sachen und verschwinden Sie.”

Etwas verunsichert streckte er die Hand nach ihr aus, wobei er selbst nicht so genau wusste, was daraus werden sollte. Sie in den Arm zu nehmen schied wohl aus. Vielleicht ein aufmunterndes Schulterklopfen? Nein, das würde wohl auch nicht gut ankommen.

Bevor er sich entschieden hatte, schob sie seine Hand zur Seite und ließ ihn in dem überfluteten Büro einfach stehen.

Frankie floh in die Kühlkammer, um sich zu beruhigen. Sie wischte sich mit bloßen Händen die Tränen ab, zog ein paar Mal die Nase hoch und zupfte dann ihre Kleidung zurecht. Unglaublich, dass sie einfach die Fassung verloren hatte – und das vor einem Wildfremden! Wenigstens war es ihr nicht in Joys Anwesenheit passiert, das wäre noch schlimmer gewesen.

Zu dumm, dass dieser Kerl ausgerechnet ihren wunden Punkt getroffen hatte: die ständige Angst, die katastrophale Situation des White Caps könnte tatsächlich ihre Schuld sein. Allein der Gedanke daran brachte sie wieder zum Weinen.

Was sollte sie bloß Joy sagen, wenn sie hier wegziehen mussten? Und wohin konnten sie überhaupt gehen? Wie sollte sie woanders genug Geld verdienen, um für ihre Schwester und Grand-Em zu sorgen? Und was würde Alex sagen?

Erschöpft schloss sie die Augen und lehnte sich an die Wand. Die ständige Sorge um ihren Bruder Alex zehrte noch zusätzlich an ihr. Als professioneller Regattasegler reiste er von einem Cup zum anderen, und die Tatsache, dass Hochseesegeln nicht ganz ungefährlich war, trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Aber man lernte eben, damit umzugehen.

Nach einer Reihe von Schicksalsschlägen war sie für ihre kleine Familie ganz allein verantwortlich, und sie gab ihr Bestes. Sollte sie dabei auch noch fröhlich pfeifen? Bei den Problemen, mit denen sie sich jeden Tag herumschlug, konnte ihr wohl niemand übel nehmen, wenn sie leicht reizbar war. Und jetzt hatte sie nicht mal mehr einen Koch …

Ihr fiel ein, wie schnell und geschickt Nate aus den verunglückten Hähnchen ein erstklassiges Gericht gezaubert hatte. Er hatte ja Recht – sie brauchte dringend einen Koch, und die Bewerber standen nicht gerade Schlange. Er war der einzige, um genau zu sein – und durch einen unglaublichen Glücksfall war er auch noch gut.

Sie straffte sich und stürzte aus der Kühlkammer, bereit, ihm bis zur Straße nachzulaufen – und prallte zurück, als sie ihn gelassen an der Arbeitsplatte lehnen sah.

“Ich wollte nicht einfach gehen, ohne zu wissen, ob Sie okay sind”, erklärte er.

“Wollen Sie den Job noch?”

Offenbar völlig unbeeindruckt von ihrem Sinneswandel hob er eine Augenbraue. “Ja. Ich könnte bis zum Labor Day Anfang September bleiben.”

“Viel zahlen kann ich nicht, aber andererseits werden Sie auch nicht gerade in Arbeit ertrinken.”

Er zuckte die Achseln. “Geld ist mir nicht wichtig.”

Na, das ist doch mal eine gute Eigenschaft, dachte sie, bevor sie ihm das in der Tat sehr geringe Gehalt nannte. “Plus freie Kost und Logis”, fügte sie schnell hinzu. “Aber eins möchte ich gleich klarstellen.”

“Lassen Sie mich raten”, unterbrach er sie trocken. “Sie sind der Boss?”

“Ja, das auch. Aber noch etwas ist viel wichtiger: Finger weg von meiner Schwester.”

“Sie meinen das Engelchen?”

“Sie heißt Joy. Und sie ist nicht interessiert.”

Er lachte kurz und trocken. “Meinen Sie nicht, das sollte sie selbst entscheiden?”

“Nein, meine ich nicht. Haben wir uns verstanden?”

Sein amüsiertes Lächeln verwirrte sie. Was war daran so komisch?

“Nun?”, fragte sie streng.

“Ja, ich verstehe Sie vollkommen.” Wieder streckte er die Hand aus. “Geben Sie mir diesmal die Hand darauf?”

Es war eine Herausforderung, und mit denen kannte Frankie sich aus. Sie ergriff seine Hand fest wie ein Schraubstock, um ihm gleich zu zeigen, dass es hier lediglich ums Geschäft ging. Doch als sie ihn berührte, passierte etwas Seltsames: Ein prickelnder Schauer schoss ihren Arm hinauf und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Sie blinzelte verwirrt.

Auch er schien es zu spüren, denn er senkte den Blick. Sie genoss seinen warmen, festen Griff und hatte auf einmal die verrückte Idee, dass er sie zu sich heranziehen und küssen würde.

Als Nächstes sah sie sich mit ihm in einem Bett, verführerisch nackt unter dünnen Laken …

Hastig machte sie sich los und trat einen Schritt zurück. Besser, sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch – denn sie schien schon wieder eine kalte Dusche nötig zu haben.

“Vergessen Sie es nicht”, wiederholte sie scharf. “Finger weg von meiner Schwester.”

Beiläufig kratzte er sich am Hals und steckte dann die Hände in die Taschen. Offenbar gefiel es ihm nicht sehr, herumkommandiert zu werden, aber das war zum Glück nicht ihr Problem. Er war jetzt ihr Angestellter, also hatte sie das Sagen. Basta.

Und das Letzte, was Frankie gebrauchen konnte, war eine Schwester mit gebrochenem Herzen. Oder, noch schlimmer, eine schwangere Schwester, die von einem attraktiven Nichtsnutz pünktlich zum Herbstanfang sitzen gelassen wurde.

“Alles klar?”, fragte sie. “Dann zeige ich Ihnen jetzt Ihr Quartier.”

Sie schaltete das Licht in der Küche aus und ging zur Treppe.

Ganz früher waren die Moorehouses reich gewesen und hatten natürlich im vorderen Teil des Hauses gewohnt – in den großen, eleganten Räumen, die zum See hinausgingen und jetzt den Gästen vorbehalten waren. Doch Weltwirtschaftskrisen und schlechte Investitionen hatten über die Generationen das Vermögen zusammenschmelzen lassen, und mittlerweile waren auch die letzten Kunstgegenstände und Schmuckstücke versetzt. Heute lebte die Familie Moorehouse im Dienstbotenflügel auf der Rückseite des Hauses. Dort gab es niedrige, schmucklose Räume, Dielenböden und wenig Komfort. Im Winter war es zugig, im Sommer stickig, und die Wasserleitungen ächzten. Das taten sie allerdings mittlerweile im ganzen Haus.

Am Ende der Treppe erstreckte sich zu beiden Seiten ein Flur, und Frankie entschied sofort, dass der neue Koch auf ihrer Seite schlafen würde. So konnte sie ihn im Auge behalten, auch wenn sie sich dafür das Bad mit ihm teilen musste. Wenigstens war er damit so weit wie möglich von Joys Zimmer entfernt.

Sie stieß die Tür auf. “Ich hole Bettzeug”, verkündete sie. “Wir teilen uns ein Bad, die Tür ist gleich hier links.”

Der Schrank mit der Bettwäsche befand sich am anderen Ende des Flurs, und als sie zurückkam, hörte sie den Fremden reden.

“Nein, Ma’am, ich bin der neue Koch.”

Ach herrje, er sprach mit Grand-Em!

Frankie beschleunigte ihre Schritte, um ihre Großmutter so schnell wie möglich von dem Fremden loszueisen. Sie wollte nicht, dass er zu viel mit ihrer Familie zu tun hatte.

“Der neue Koch?” Grand-Em musste zu ihm aufschauen, wirkte aber dennoch königlich. “Wir haben doch schon drei. Wieso hat Papa Sie bloß eingestellt?”

Grand-Em war noch zierlicher als Joy und wirkte mit ihren knapp eins sechzig neben dem riesigen Fremden wie eine Elfe – zumal sie wie immer ein altmodisches Abendkleid trug. Das lange weiße Haar fiel ihr in weichen Wellen über die Schultern, und trotz ihrer fast achtzig Jahre zeigte ihr Gesicht kaum Falten, denn sie war nie ohne einen Sonnenschirm an die frische Luft gegangen.

“Grand-Em …”, begann Frankie, doch Nate unterbrach sie mit einer ungeduldigen Handbewegung. Ohne den Blick von ihrer Großmutter zu wenden, machte er eine tiefe Verbeugung.

“Ma’am, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen zu Diensten zu stehen. Ich heiße Nathaniel, rufen Sie mich, wenn Sie irgendetwas brauchen.”

Grand-Em betrachtete ihn nachdenklich und wandte sich dann zur Tür. “Ich mag ihn”, bemerkte sie im Hinausgehen.

Seufzend blickte Frankie ihr nach. Früher war ihre Großmutter eine Frau mit hellwachem Verstand gewesen, den ihr die Altersdemenz nun immer schneller raubte. Es war schrecklich, jemanden zu vermissen, obwohl man ihn jeden Tag sah.

“Wer ist sie?”, fragte Nate leise.

Erschrocken drehte Frankie sich um. Wie lange hatte sie gedankenverloren hier herumgestanden?

“Meine Großmutter”, erwiderte sie. “Hier ist Ihre Bettwäsche. Im Bad finden Sie Gästepackungen mit Toilettenartikeln. Waschmaschine und Trockner stehen in der Abstellkammer dort drüben, und mein Zimmer liegt gegenüber, falls Sie noch Fragen haben.”

Beinahe hätte sie hinzugefügt, dass er sich auch von Grand-Em fernzuhalten hatte, aber das wäre dann wohl doch etwas lächerlich gewesen.

“Eine Frage hätte ich”, sagte er, als sie sich zum Gehen wandte.

“Was?” Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

“Wie soll ich Sie eigentlich anreden? Außer mit ‘Boss’ natürlich.” Wobei er das Wort nicht spöttisch, sondern eher wie einen Kosenamen aussprach.

Ihr wäre es allerdings lieber gewesen, er hätte sich über sie lustig gemacht.

“Ich bin Frankie.”

“Eine Abkürzung von Frances?”

“Genau. Gute Nacht.”

Sie ging zu ihrem Zimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss, sah sie gerade noch, dass Nate auf seiner Seite des Flurs lässig am Türrahmen lehnte und ihr nachschaute. Er sah unglaublich sexy aus, und ihre Blicke trafen sich.

“Gute Nacht, Frances.” Diesmal sprach er mit ihr so sanft wie mit Joy vorher, und sie spürte die Worte wie ein Streicheln. Ungläubig schaute sie an sich hinunter. Der Mann musste verrückt sein. Auf ihrer Bluse prangte ein großer Fleck, ihre Haare waren strähnig, und die Hose hing wie ein Kartoffelsack an ihr herunter.

Hastig schloss sie die Tür und lehnte sich von innen dagegen. Ihr Herz klopfte schnell und heftig. Es war so lange her, dass ein Mann in ihr die Frau gesehen hatte und nicht nur eine Anlaufstelle für Beschwerden. Und wann hatte sie sich das letzte Mal wie eine richtige Frau gefühlt und nicht nur wie ein mehr oder weniger gut funktionierender Automat?

David, dachte sie entsetzt. Mit ihm war sie das letzte Mal unbeschwert und glücklich gewesen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Zehn Jahre. Im täglichen Kampf um das White Caps hatte sie fast ein ganzes Jahrzehnt ihres Lebens verloren und es bis heute nicht einmal gemerkt.

Wenn sie noch länger hier stehen blieb, würde sie wieder zu weinen anfangen, also riss sie sich zusammen, ging zum Bett und zog sich aus. Sie war todmüde, aber duschen musste sie trotzdem. In einen dicken Bademantel gewickelt spähte sie aus der Tür, um zu sehen, ob die Luft rein war.

Hastig durchquerte sie den Flur, schloss sich im Badezimmer ein und schaffte es in unter sechs Minuten, zu duschen, die Haare zu waschen und sich abzutrocknen. Auf den zusätzlichen Stress, ihr Badezimmer mit dem neuen Koch zu teilen, hätte sie gut verzichten könnten. Andererseits war es immer noch besser, als das Risiko einzugehen, dass der Fremde und ihre Schwester über kurz oder lang zusammen unter der Dusche standen.