Viertes Kapitel
Wenn zwei Singles aufeinander prallen, gibt es jene bedeutsamen Sekunden, in denen sich entscheidet, ob man mehr oder weniger wortlos auseinander geht oder aber gemeinsam gut gelaunt überlegt, wo man denn in einer chaotischen Situation ein Frühstück auftreiben kann. Es sind die Sekunden, in denen man aufwacht.
Vera hatte die Sportstätte bereits verlassen und stand als schmaler Schattenriss vor dem Fenster zum Garten. Sie rauchte.
»Guten Morgen. Was überlegst du?«
»Ich dachte über Bastian nach und wie sein Leben wohl weitergehen wird. Ja, und über Jakob Driesch. Wie er in den Fluss gekommen ist, wo er neun Stunden lang steckte. Was er in Monschau suchte. Die ganze Kommission denkt über diese Frage nach, pausenlos seit fast einer Woche.« Dann drehte sie sich herum. »Hast du gut geschlafen?«
Sie wirkte heiter und gelassen. Die Frage, ob sie irgendetwas bereuen würde, stellte ich nicht, aber sie fragte: »War ich zu aufdringlich?«
»Um Gottes willen, nein. Es war schön.«
»Aber du hättest nicht gefragt, oder?«
»Nein, hätte ich nicht. Ich bin ziemlich erschöpft. Mein zerstörtes Haus, diese Wohnung hier, die Fragwürdigkeit der nächsten Wochen, dieser Fall Driesch, Annette, Bastian. Nein, ich hätte dich nicht gefragt, aber ich bin dankbar, dass du es getan hast. Hast du heute Dienst?«
»Ja und nein. Wir haben uns geeinigt, dass wir immer im Dienst sind, bis der Fall geklärt ist. Nimmst du mich nun noch mit zu Anna Driesch?«
»Natürlich. Aber woher bekommen wir ein Frühstück? Wir könnten uns in Daun im Dorint eines kaufen. Sonntag ohne Kaffee geht nicht. Wie oft habt ihr Anna vernommen?«
»Jeden Tag. Und sie ist sehr kooperativ.« Vera zündete sich die nächste Zigarette an und ließ die Kippe aus dem Fenster segeln. »Doch sie hat keinen blassen Schimmer, wo ihr Mann gewesen sein kann. Und dann die Sache mit dem Plastikgeld.«
»Plastikgeld? Was ist damit?«
»Kennst du den Tatort? Wenn du auf der Fußgängerbrücke stehst, also auf der evangelischen Brücke, wie die Monschauer sagen, dann lag Driesch rechts im Fluss. Auf einer gemauerten Fläche eines Abwasserkanals. Zwanzig Meter weiter lag sein Geldbeutel an einem Grasrand. Kannst du dir das vorstellen?«
»Jeden Zentimeter.«
»Da gibt es eine Kleinigkeit, die die Kommission der Öffentlichkeit verschwiegen hat. Geh mal im Geist auf die Fahrbahnbrücke nebenan und betrachte die Rur flussaufwärts ... Gut. Da ist rechter Hand ein weit über den Fluss ragendes Haus, eine Kneipe. Ziemlich beliebt. Der Restaurantbereich befindet sich fast senkrecht über dem Wasser. Die Entfernung zur Brücke beträgt etwa hundert Meter. Und unterhalb dieses Restaurants lagen zwei Plastikgeldkarten mit Jakob Drieschs Namen. Eine von der Volksbank in Imgenbroich, eine weitere von der Kreissparkasse Düren. Sie lagen beide ordentlich nebeneinander auf einem Flecken Kies. Gleich daneben ist ein Wasserloch, in dem Forellen stehen. Kischkewitz will, dass wir diesen Fund verschweigen, er meint, das sei möglicherweise ein Schlüssel zu dem Fall. Wir kriegen es aber nicht auf die Reihe, Baumeister. Es ist wie eine Obsession, ich möchte zuweilen mein Gehirn abschalten. Aber das geht nicht. Kischkewitz hat einen bösen Verdacht: Wenn der Täter den Tatort bis zur Unkenntlichkeit verzerren wollte, dann hat er mit den Plastikkarten das genau Richtige getan. Wir sind vollkommen ratlos. Wenn Driesch die Karten verloren hat, dann muss er dort durch den Fluss gelaufen sein. Aber woher und wohin? Hat der Täter sie dort drapiert, steht die Kommission im Regen.«
Vera begann zu lächeln. »Ich sollte aufhören, nachzudenken. Mich macht die Geschichte vollkommen verrückt. Was ist jetzt mit Frühstück? Ich würde für mein Leben gern Erdbeermarmelade auf Toast essen. Wir machen uns fein und auf den Weg. Es ist Sonntag, Baumeister.«
»Wann werdet ihr seine Leiche freigeben?«
»Bestenfalls in einer Woche. Da stehen noch chemische Untersuchungen an und bestimmte Muskelschnitte.«
»Haben die Geheimdienste eigentlich etwas beisteuern können?«
»Nein. Im Gegenteil. Sie haben uns verrückt gemacht. Driesch war ein Mann, an dem Geheimdienste bisher absolut nicht interessiert waren. Jetzt ist er tot und plötzlich wollen alle mitreden und sezieren sein Leben.« Sie warf die zweite Kippe in den Garten. »Es war schön, Baumeister. Du warst so schön albern.«
»Ich hoffe zu Gott, dass Andrea an mich gedacht und Jeans und Unterhosen und Strümpfe und all das Zeug gerettet hat. Geh schon mal ins Bad.«
Ich begab mich auf die Suche. In einem Raum, der bis zur Decke mit Möbeln, Bücherkisten und Regalen voll gestopft war, lag auf einer Tischplatte ein Zettel: Falls du was zum Anziehen brauchst: In der Küche zwei Kisten. Schönes Wochenende. Andrea. PS: Du kannst zum Frühstück kommen!
Als wir das Haus verließen, war es neun Uhr. Die Sonne schien, es würde wieder heiß werden. Ich fuhr, während Vera mit Kischkewitz telefonierte, mit jemandem, den sie mit Onkel Schu anredete, und dann mit einer Freundin, die sie darüber informierte, dass sie in der Eifel geschlafen habe und jetzt zu einem Frühstück unterwegs sei. Dass sie gute Laune habe und sich dafür entschuldigen wolle, dass sie in den vergangenen Tagen so mies drauf gewesen sei. »Jetzt geht das alles besser«, schloss sie. »Und noch was, meine Liebe. Die Welt besteht nicht nur aus Drieschs. Und die Eifel ist traumhaft, sage ich dir.«
Als ich den Wagen in Brück auf den Hof rollen ließ, wurde sie blass. »Das ist ja furchtbar. Du hättest ja sterben können.«
»Geh lieber nicht rein. Da kommen dauernd Deckenteile runter. Und es ist alles voller Schlamm. Morgen kommen die Container, morgen wird aufgeräumt.«
»Baust du es wieder auf?« Sie griff nach meiner Hand.
»Ich muss es aufbauen, meine Katzen haben das beschlossen. Genauso wie meine Nachbarn und meine Goldfische.«
»Du bist verrückt.«
»Ja, Gott sei Dank.«
Wir frühstückten auf Andreas Terrasse und es gab Erdbeermarmelade und Toast. Dann rief ich Anna an. »Hast du Zeit für mich?«
»Wenn du mich schonend behandelst.«
»Ich komme nicht wegen eines Interviews.«
»Dann komm her.«
Wir fuhren über Hillesheim in das Ahrtal hinunter und dann Richtung Blankenheim. Auf der Fernstraße war die Hölle los, weil am Nürburgring irgendetwas stattfand und Motorradhorden wie wild gewordene Cowboys durch das Land rasten. Dazu waren eine erstaunliche Menge von Trikes unterwegs, die knatternd und röhrend die Bäume krank machten. Wir kamen nur langsam vorwärts und vor uns fuhren in endloser Kolonne Holländer und Belgier, die die Eifel genießen wollten und sich einfach nicht zur Seite scheuchen ließen.
»Kommt das öfter vor? Ich meine, dass jemand bei dir schläft, einfach so.«
»Nein, das kommt nicht oft vor. Ehrlich gestanden bist du meine Premiere, ich bin kontaktscheu und schüchtern.«
»Baumeister, du lügst wie ein Heiratsschwindler.« Sie lachte.
»Wenn du meinst.«
In Krekel bildete sich ein kurzer Stau, weil ein Motorradfahrer samt Braut in heller Lebensfreude in einen bäuerlichen Mistwagen hineingefahren war und jetzt mit blutiger Nase am Straßenrand saß und darüber nachdachte, wieso er den Mist nicht gesehen hatte.
»Am Sonntag Mist fahren?«, fragte Vera erstaunt.
»Na ja, der Sonntag ist eine menschliche Einrichtung.«
In Schieiden mussten wir an der Hauptkreuzung links abbiegen und nach einem Kilometer ging es rechts den Hang hinauf. Das Haus lag in greller Sonne und schimmerte weiß.
Anna stand im Flur. Sie trug ein bodenlanges schwarzes Kleid, hatte die Haare zu einem Schwanz zusammengebunden und wirkte ganz ruhig.
»Ach, Vera ist dabei. Wollt ihr was essen?«
»Wir haben schon«, sagte ich.
»Dann kommt rein. Ich habe mir den Kamin angemacht, ich friere dauernd.«
In dem großen Wohnzimmer herrschte eine höllische Temperatur.
»Tee? Kaffee? Was anderes?«
»Wasser vielleicht«, sagte Vera. »Ich bin auch still, ich höre nur zu.«
»Wo sind die Kinder?«, fragte ich.
»Bei meinen Eltern in Schöneseiffen. Ich wollte sie von den Füßen haben, sie müssen das hier nicht alles mitkriegen. Aber wahrscheinlich kriegen sie sowieso alles mit. Wie geht es dir?«
»Ich bin abgebrannt.«
»Ich hörte davon.« Sie kramte irgendwo hinter uns herum und kam dann mit einer Wasserflasche und Gläsern an den Tisch. »Zahlen die Versicherungen wenigstens?«
»Es sieht so aus.«
»Und dann? Bleibst du in der Eifel?«
»Aber ja, ich will hier beerdigt werden. Darf ich mir eine Pfeife ins Gesicht stecken?«
»Mach nur.« Sie setzte sich in einen Sessel und starrte in das knisternde Feuer. »Ich weiß nicht, ob ich hier bleibe. Man sagt immer: Hier gehöre ich hin. Aber was ist, wenn du entdeckst, dass du zu ihm gehört hast und gar nicht hierhin? Ich habe mich über ihn definiert. Und nun habe ich nicht die geringste Vorstellung davon, was wir machen sollen.«
»Aber du hast doch die Arbeit mit den Jugendlichen«, warf ich ein. Anna hatte in vier oder fünf Gemeinden Jugendhäuser gegründet, still und zurückhaltend, aber sehr wirkungsvoll.
»Die Arbeit kann ich auch andernorts erledigen. Das ist kein Grund. Es ist auch nicht das Geld, er hat gut für uns gesorgt. Aber wahrscheinlich werde ich eines Morgens im Allgäu oder am Bodensee aufwachen und mich fragen: Was soll ich hier? Und dann werde ich ganz schnell in die Eifel zurückwollen. Außerdem sind meine Eltern hier. Und Jakobs Mutter.« Sie lächelte in das Feuer. Sie hatte das gesagt, um sich selbst darüber klar zu werden, was sie machen wollte.
Anna drehte sich zu Vera. »Würden Sie mir eine Zigarette spendieren?«
»Selbstverständlich.«
»Ich rauche normalerweise nicht, aber in den letzten Tagen habe ich den Eindruck, dass das hilft. Ich weiß nicht wie, aber meine Hände haben etwas zu tun. Sicher ist das dumm.« Sie ließ sich Feuer geben und paffte wie ein Schulmädchen hinter den Stachelbeersträuchern. Dann fragte sie unvermittelt: »Sind Sie hier, um meine Aussagen noch mal zu überprüfen?«
Vera wurde augenblicklich nervös. »Nein. Ich habe nur gestern erlebt, wie Baumeister mit einem Mörder umgegangen ist. Und das hat mich neugierig gemacht. Ich habe ihn gefragt, ob ich hierher mitkommen darf. Die Arbeit von Journalisten sieht so ganz anders aus, ich meine ... Also, wenn es Ihnen nicht recht ist, gehe ich und warte draußen.«
»Wieso ein Mörder? Was hast du getan, Baumeister?«
»Nichts Besonderes. Ich habe mich mit demjenigen unterhalten, der Annette von Hülsdonk erschossen hat. Das hängt übrigens mit ziemlicher Sicherheit überhaupt nicht mit Jakobs Tod zusammen.«
Anna nickte und wandte sich an Vera: »Sie können selbstverständlich hier bleiben. Ich werde nur zunehmend nervös, wenn ich jemanden von der Kripo sehe oder diese Typen von den Geheimdiensten. Tut mir Leid.« Dann drehte sie ihren Kopf. »Was willst du wissen, Baumeister?«
»Wenn ich ehrlich bin, weiß ich das nicht. Ich habe gehört, dass sich Jakob am Sonntagabend gegen 19 Uhr von dir verabschiedet und gesagt hat, er werde bald wieder zurück sein.«
»So war das«, bestätigte sie. »Aber er sagte nicht, wohin er wollte, und nicht, wen er treffen wollte. Und das war schon komisch, normalerweise erzählte er mir das immer. Ich habe in seinem Timer nachgeschaut. Da steht kein Termin verzeichnet. Du kannst den Timer sehen ... Nein halt, kannst du nicht. Den hat die Kripo.«
»Was passierte dann?«
»Nichts. Bis morgens, Montagmorgen, die Polizei kam und mir mitteilte, was passiert war.«
»Du warst hier mit den Kindern im Haus?«
»Nein. Ich bin zu Marlies runter. Du kennst sie. Eine gute Freundin. Wir haben geschwätzt. Bis Mitternacht ungefähr. Dann bin ich heim und habe mich ins Bett gelegt.«
»War dein Mann in den letzten Wochen irgendwie verändert? War etwas an seinem Verhalten nicht wie üblich?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, keine Veränderung. Er war abgearbeitet und erschöpft. Deswegen war er stiller, nicht mehr so hektisch. Aber eine drastische Veränderung gab es nicht.«
»Ich muss das fragen, Anna, weil ich es verstehen will. Wie war eure Ehe in den letzten Monaten?«
»Normal. Oder interessierst du dich für unseren Geschlechtsverkehr?« Da war ein Hauch Verachtung in ihrer Stimme.
»Blödsinn. Ich frage nach möglichen Unruhezuständen. Nach möglicher Entfremdung, nach Gefühlen wie Bitterkeit, Fremdsein, Entfernung, Isolation.«
»Nein. Mein Leben war reich. Ich weiß jetzt erst, wie reich es war. Nichts dergleichen.«
»Aber schlägt nun nicht auch Panik über dir zusammen, wenn die Kripo kommt und erzählt, er habe auf Mallorca mit einer Million Mark in bar eine spanische Finca bezahlt?«
»Panik, Entsetzen, Unverständnis. Genau das.« Verzweifelt wedelte Anna mit den Händen. »Ich kann mir das Ganze nur so erklären, dass er das Haus gekauft hat, um es uns anschließend zu schenken. Schließlich war er ein verrückter Typ. Er hat mir mal einen Volvo geschenkt. Der stand mit einer riesigen lila Schleife eines Morgens vor der Tür. Und frage mich nicht nach dem Geld. Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, woher er es hatte. Die Polizei denkt natürlich an Bestechung und Ähnliches. Aber eine Million? Allein der Gedanke ist hirnrissig. Ich habe versucht, Jakobs Reise nach Mallorca zu rekonstruieren, weil er uns schließlich nichts davon erzählt hat. Er ist von Berlin aus geflogen. Die Fraktion hatte eine stinknormale Arbeitswoche. Und er hat zwei Tage dazu benutzt, auf die Insel zu fliegen. Es waren zwei Tage, an denen er keine Sitzung hatte. Nichts Ungewöhnliches. Und warum soll der Mann nicht nach Mallorca fliegen, wenn er uns ein spanisches Haus schenken will? Aber das Geld? Ich weiß es nicht, ich verstehe es nicht. Ist es denn nicht möglich, dass andere sich an dem Kauf beteiligt haben und ihm das Bargeld gaben?«
Ich nickte. »Natürlich. Nur müssten wir diese anderen erst einmal finden. Und wir müssten die Bank finden, die eine Million ausgezahlt hat. Wie waren seine Verbindungen zu den Herstellern dieser Windkrafträder?«
»Na, gut, selbstverständlich. Die laufen uns doch schon seit Jahren die Bude ein. Er hat Freunde darunter. Doch die sind alle befragt worden, keiner von denen hat Jakob eine Million gegeben. Jedenfalls gibt es keiner zu. Und er hätte das Geld auch gar nicht genommen. Ich kenne ihn, das hätte er nie getan.«
Jetzt begann es um ihren Mund zu zucken. Tränen liefen über ihr Gesicht. »Mein Gott, Baumeister. Ich kann diese Fragen nicht beantworten, ich habe keine Antworten, verstehst du?« Sie schniefte in ein Papiertaschentuch, richtete sich dann auf und sagte angriffslustig: »Nachts liege ich wach im Bett und denke über ihn nach. Na klar, dann frage ich mich, ob er vielleicht in Schwierigkeiten war und ich das nicht mitbekommen habe. Ich rede jetzt von finanziellen Schwierigkeiten. Kann aber nicht sein, denn ich war seine Buchhalterin, ich hätte das wissen müssen. Dann sage ich mir: Kann ja vielleicht doch illegales Geld gewesen sein. Ich habe also in heller Panik alle Leute angerufen, denen er zu Geld verholfen hat. Unternehmer in Sachen Windräder und andere Unternehmer hier aus der Region. Niemand weiß was und jeder von denen sagt: Du flippst aus, das kann ich verstehen, aber so was hat er nicht gemacht! Doch der Gedanke lässt mich nicht los. Ich habe gedacht: Vielleicht hat er Versicherungen zu Geld gemacht, kapitalisiert. Im Laufe eines Lebens ist da eine Menge zusammengekommen. Ich habe stundenlang mit allen möglichen Versicherungen telefoniert. Nichts, keine Spur. Sicherheitshalber habe ich auch alle Banken angerufen. Noch mal nichts, noch mal keine Spur.«
Das Feuer knisterte, die Flammen spiegelten sich auf den schönen antiken Möbelstücken, die Anna ihr Leben lang gesammelt und selbst restauriert hatte.
»Ich sitze hier und lege Bänder auf. Da spielt Jakob Klavier drauf. Ich höre ihm zu und ich weiß, er ist gegangen.«
Vera hockte verloren da und hielt die Hände vor ihr Gesicht.
Anna sagte: »Geben Sie mir noch eine Zigarette?«
Ich gab ihr Feuer. Ich war mit meinem Latein zu Ende. »Tja, dann wollen wir mal wieder.«
Doch Anna redete weiter: »Da ist noch etwas, was ich nicht verstehe. Normalerweise hatte er sein Handy bei sich. Und er rief immer an, wenn es später wurde, als er vorher angenommen hatte. Oder ich habe ihn angerufen und gefragt: Wann kommst du? Aber an dem Sonntag rief er nicht an, und als ich nachts um eins versuchte, ihn über Handy zu erreichen, war es nicht eingeschaltet. Und das ist wirklich so gut wie nie vorgekommen.«
Wir sprachen nicht mehr, Vera und ich gaben Anna die Hand und gingen hinaus in die Sonne.
Im Wagen meinte Vera: »Sie ist eine starke Frau, die wird das packen. Kannst du mich zur Kommission fahren?«
»Selbstverständlich. Vielleicht hat Driesch ja während der fehlenden neun Stunden jemanden getroffen, der mit der Planung der Windradanlage zu tun hat...«
»Das haben wir überprüft, das fällt aus. Wir haben mit Höchstgeschwindigkeit alle möglichen Partner in allen möglichen Projekten und Gremien befragt. Nichts, absolut nichts. Es ist so, als hätten die neun Stunden niemals existiert.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Ich wollte dir noch sagen, Siggi, dass das keine Folgen haben wird.«
»Was, bitte?«
»Na ja, das von heute Nacht.«
»Was denn für mögliche Folgen?«
»Dass ich eine Wiederholung will und dir auf die Nerven gehe.«
»Und wenn ich dir auf die Nerven gehen will?«
Sie schwieg eine Weile. »Dann würde mich das freuen. Ehrlich. Was treibst du heute noch?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich rufe gleich mal Rodenstock an. Wahrscheinlich bleibe ich in Monschau und gehe spazieren.«
»Was heißt das?«
»Wenn Driesch sein Auto oben auf dem Berg geparkt hat, dann ist er in der Altstadt zu Fuß unterwegs gewesen. Ich will in ihn reinkriechen. Das bedeutet, dass ich die Monschauer fragen werde. Und zwar jeden, der mir begegnet.«
Wir zockelten über die B 258 nach Schöneseiffen hoch. Immer noch waren sehr viele Touristen unterwegs. Es ging schon auf 16 Uhr zu. Ich versuchte Rodenstock zu erreichen und erwischte ihn auch.
»Ich bin unterwegs nach Monschau, ich will mir den Tatort und andere Dinge ansehen.«
»Ich bin schon da«, sagte er. »Mit Emma, also sind wir komplett. Komm einfach auf die evangelische Brücke. Hast du dich ausschlafen können?«
»Ja, habe ich. Bis gleich.«
Ich parkte auf dem Parkdeck vor dem Aukloster, der Betrieb war wie immer am Wochenende enorm.
Vera verabschiedete sich: »Also, bis demnächst.«
»Es war schön«, sagte ich.
»Das ist gut.« Sie verschwand hinter der schönen hölzernen Tür. Wahrscheinlich würde sie bis tief in die Nacht hinein Berichte diktieren, Protokolle nachlesen, Hinweise vergleichen, telefonieren und zwischendurch eine kalt gewordene Pizza essen und entschieden zu viel Kaffee trinken.
Ich drängelte mich zwischen den Sonntagsbesuchern über den Markt, dann durch die enge Rurstraße auf die evangelische Brücke zu.
Rodenstock und Emma lehnten an dem gusseisernen Geländer der Brücke und schauten flussabwärts. Sie waren durch nichts von den übrigen Touristen zu unterscheiden – ein älteres Paar eben, das etwas aus dem sonnigen Sonntag machen wollte.
»Sind euch erhellende Ideen gekommen?« Jetzt bemerkte ich es auch. Die Polizei hatte den Tatort abgesperrt, im Grunde nichts als ein Flussbett. Die rotweißen Plastikbänder flatterten im Wind. Auf der gemauerten Fläche um einen der Kanalisationsdeckel war mit weißer Kreide der Umriss eines Körpers aufgemalt. »Warum, um Gottes willen, haben die das nicht schon längst wieder weggemacht?«
»Du weißt doch, wie das ist«, sagte Rodenstock behaglich. »Für das Aufräumen fühlt sich niemand zuständig.« Dann räusperte er sich. »Siehst du diese Grasfläche dort am rechten Ufer, wo der Einfluss des Mühlrades ist? Da lag die Geldbörse.« Er drehte sich herum und deutete flussaufwärts. »Und dreihundert Meter weiter oberhalb auf dem linken Uferstreifen haben wir die beiden Plastikkarten gefunden.«
»Ja, und?«
»Wir wollten überprüfen, ob es tatsächlich nicht möglich ist, an diesem Abschnitt der Rur in das Wasser zu gelangen beziehungsweise den Fluss wieder zu verlassen. Und beides ist praktisch nicht möglich.« Rodenstock seufzte.
»Habt ihr mal ausgerechnet, um wie viel Uhr er in Monschau sein konnte, wenn er um neunzehn Uhr von zu Hause wegfuhr?«
»Ja, klar, das haben wir. Er muss so um 19.40 Uhr hier gewesen sein. Also dort oben über der Stadt, wo er den Wagen geparkt hat. Wenn er es gemütlich angehen ließ, war er um 20 Uhr hier unten, vielleicht ein paar Minuten früher – aber das spielt keine Rolle. Und es war Sonntagabend und todsicher herrschte noch reger Betrieb, denn ein Teil der Touristen stammt aus der unmittelbaren Umgebung. Die Leute essen hier oft noch zu Abend. Dass niemand ihn gesehen haben will, können wir nicht fassen. Hast du eine Idee?« Emma sah mich an und lächelte.
»Nein. Er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. Vielleicht war er irgendwo privat zu Gast?«
»Unwahrscheinlich«, erklärte Rodenstock. »Wir haben eine ganze Polizeieinheit von Tür zu Tür geschickt. Mit Jakob Drieschs Foto. Niemand hat ihn gesehen, niemand.«
»Dann müsst ihr die Befragung wiederholen«, sagte ich. »Er ist um vier Uhr morgens erschossen worden. Was war um vier Uhr in der Nacht von Sonntag auf Montag hier los? Da muss doch jemand auf der Straße gewesen sein. Wer treibt sich denn normalerweise nachts auf Straßen rum?«
»Ein Priester«, sagte Emma nachdenklich. »Jemand, der einem Kranken helfen will. Ein Arzt. Der Priester ist kein Scherz. Er kommt, wenn jemand stirbt. Vielleicht sind Bäcker unterwegs, die fangen doch sehr früh an. Vielleicht schon Leute, die es sehr weit bis zum Arbeitsplatz haben, nach Aachen, Köln oder Düren, Belgien oder Euskirchen. Im Übrigen teile ich Rodenstocks Ansicht nicht so ganz. Sieh dich mal um. Die Straßenbrücke hat einen Stützbogen, rechter Hand, in dem das Wasser steht, weil wir Sommerwasser haben, also Niedrigwasser. Da ist ein Vorsprung, eine grasige Böschung, da ist ein Busch. Und dort hätte Driesch aus dem Fluss rausgekonnt.«
»Verdammt, Liebling, das ist aber sehr theoretisch«, widersprach Rodenstock. »Und Tatsache ist, er lief weiter im Fluss entlang, unter dieser Brücke durch, dann schoss jemand auf ihn und er kam noch dreißig Meter weit bis auf die gemauerte Fläche dort.«
»Du bist ein schrecklicher Rechthaber, und du hast Recht«, maulte sie.
»Ein anderes Problem«, wandte ich ein. »Gibt es eigentlich eine 44er-Winchester mit einem Schalldämpfer?«
»Vielleicht von einer Spezialfirma«, sagte Rodenstock, »nicht direkt vom Hersteller. Das haben wir geprüft. Du denkst an den Lärmpegel, nicht wahr?«
»Genau. Sechs Schüsse in dieser Häuserschlucht. Das muss einen höllischen Lärm gemacht haben. Da sind Leute aufgeweckt worden. Warum melden die sich nicht?«
»Gute Frage«, nickte Emma. »Ich vermute, sie melden sich nicht, weil sie nicht in diese hochpolitische Sache verwickelt werden wollen. Sie halten sich raus. Bei so Sachen hält sich jeder gern raus.«
»Von zehn Leuten sicherlich acht«, überlegte Rodenstock. »Aber wo sind die restlichen zwei? Warum sollte eine alte Dame, die sowieso nicht schlafen kann, Angst davor haben, sich in dieser Sache zu melden? Nein, nein, ich glaube nicht an die unbedingte Ängstlichkeit aller Zeugen. Entweder haben wir bisher etwas übersehen, oder aber da kommt noch etwas auf uns zu, von dem wir heute noch keine Ahnung haben.«
»Ich spendiere euch ein Eis«, schlug ich vor. »Vielleicht kommt uns dann eine rettende Idee.«
Wir marschierten ins Cafe Kaulard, stiegen die enge Stiege hinauf und fanden einen freien Tisch am Fenster. Eine rettende Idee kam uns allerdings nicht, im Gegenteil, unsere Hirne kamen uns wie vernagelt vor, und Rodenstock bemerkte süffisant: »Vielleicht ist dies der Fall des Jahres, der niemals aufgeklärt wird.«
»Nicht aufgeklärte Fälle dieser Art sind nicht vorstellbar«, widersprach seine Gefährtin.
»Wenn dem Täter alle möglichen Zufälle in die Hand spielen, klären wir es zu unseren Lebzeiten nicht mehr«, sagte Rodenstock weise. »Unter Menschen kommt das häufiger vor, als wir uns zugestehen.«
Natürlich konnte Emma sich nicht zurückhalten und fragte scheinheilig: »Wie schläft es sich in deiner neuen Wohnung?«
»Da musst du die Dame fragen, die heute Nacht bei mir war. Allerdings habe ich ihren Namen vergessen«, grinste ich.
Rodenstock lachte und legte seine Hand auf Emmas Schulter. »Lass ihn. Er wird dich unterrichten, wenn er das will.«
»Da sorgt man sich und wird mit Schweigen bestraft«, seufzte sie. »Wir fahren übrigens noch nach s'Hertogenbosch. Heute Abend ist da ein Konzert, zu dem wir eingeladen sind.«
»Der internationale Jetset«, murmelte ich. »Ich werde Regale aufstellen, Bretter eindübeln und derartige Dinge treiben. Vielleicht installiere ich noch diese oder jene Lampe und packe diese oder jene Bücherkiste aus. Ich bin ein Teil der arbeitenden Bevölkerung.«
Als sie gefahren waren, rannte ich fast zum Parkdeck am Aukloster, denn mir war eine Idee gekommen, wie ich möglicherweise zur weiteren Aufklärung beitragen konnte. Mein Ziel hieß Albert Tenhoven, Ökobauer am Weißen Stein, der aus bisher unerfindlichen Gründen seit Montag, dem Tag des Mordes an Jakob Driesch, verschwunden war.
Deshalb fuhr ich zurück auf die B 258 bis Schöneseiffen, dann nach rechts auf Hellenthal zu, am Wildpark vorbei. Ab Hollerath über eine der schönsten Straßen der Eifel, immer eng an der Grenze zu Belgien entlang, bis zum 690 Meter hohen Weißen Stein, oberhalb Udenbreth, Neuhaus und Schmidtheim. Eine Traumgegend, von der ich oft gedacht hatte, sie würde mir als Standort eines Holzhauses gut gefallen. In den letzten Jahren war sie als Wintersportplatz ein wenig verkommen, da die Eifel zu wenige echte Winter verzeichnete, zu sehr unter der Klimaerwärmung zu leiden hatte.
Es gab genügend Wanderer, die Parkplätze waren gut besucht, und ich hatte keine Mühe, einen Eingeborenen aufzutreiben, der mit einem Obststand einen der Parkplätze beherrschte und auf meine Frage, wo Tenhoven zu finden sei, antwortete: »Da nimmst du die Straße nach Neuhaus runter. Und gleich nach der ersten Linkskurve siehst du rechts den Hof am Hang liegen. Aber vorsichtig, der Sauhund hat höllisch scharfe Köter.«
»Menschenfresser?«
»Na ja, reicht ja, wenn sie dich anknabbern«, erwiderte er grinsend. Er hatte ein Gesicht so rot wie eine japanische Sonne, und hinter einem Berg rotbäckiger Äpfel stand eine Flasche ohne Etikett mit kristallklarer Flüssigkeit.
»Selbst gebrannt?«, fragte ich.
»Aber sicher!«, strahlte er. »Satte achtundvierzig Prozent. Und so seidig sanft, dass dir die Tränen kommen.«
»Verkaufst du mir eine Pulle?«
»Mach ich, aber nur, wenn du die Schnauze hältst!«
Das versprach ich, dachte an Rodenstock, der gerne die Edelbrände der Eifel genoss, und packte die Flasche in den Kofferraum.
Nach wenigen Minuten schon sah ich rechter Hand den Hof am Hang liegen. Ich nahm die schmale asphaltierte Piste hinauf und rollte vor das Wohnhaus. Es war der Hof eines Freaks, man sah es an jeder Kleinigkeit. Alles in allem ein mordsmäßig unordentlicher Eindruck, wild wucherndes Unkraut, mindestens vier Traktoren, bei denen unklar war, ob sie zur Reparatur standen oder fahrfähig waren. Eine Menge rostender Eggen und Pflüge, eine Heerschar neugieriger Katzen, vier tobende Hunde in einem Zwinger und mittendrin ein riesiger Küchentisch, mindestens vier Meter lang, an dem ein bunt gekleidetes Volk saß, sich prächtig zu amüsieren schien und den Eindruck erweckte, als sei es gerade als fahrender Haufen aus dem Mittelalter in die Neuzeit gefallen. Die Haustür war offen, auf der Schwelle dröhnte aus einem Ghettoblaster ein John-Lennon-Song in die Eifel.
Ich stieg aus und schrie: »Hallo!«
Niemand reagierte, niemand konnte reagieren, sie waren fröhlich trunken. Ich überlegte, wer wohl die Hausherrin sein könnte. Am Tisch saßen einige sehr hübsche Frauen, die offensichtlich eine Menge Kleidung mit dem Ziel angelegt hatten, möglichst zerlumpt und unordentlich zu erscheinen. Ich nahm die mit langen, rötlichen Haaren, stämmiger Figur und Händen wie Schaufeln. Sie erschien mir angesichts des fleischeslustigen Albert Tenhoven eine geeignete Kandidatin.
Ich tippte sie vorsichtig an die Schulter. »Sind Sie die Frau von Tenhoven?«
Sie drehte sich herum und lachte mich an. »Das habe ich schon mal gehört.«
»Kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen?«
»Aber ja doch. Wenn Sie einen Schnaps mittrinken.«
»Keine Erpressung, bitte«, grinste ich. »Wohin können wir denn mal gehen?«
»In die Küche«, entschied sie. Sie kletterte von der langen Bank und sagte: »Ich bin gleich wieder da, Kinners.«
Dann ging sie vor mir her in das Haus und stieg dabei über den brüllenden Ghettoblaster hinweg. Die Küche sah aus wie der ganze Hof, ausgesprochen unordentlich und ausgesprochen liebevoll eingerichtet.
»Was willste denn?«, fragte sie und setzte sich auf einen Stuhl. »Wir können uns duzen.«
»Ich suche deinen Mann, den Albert Tenhoven. Ich bin Journalist und möchte mit ihm sprechen.«
»Kommt dir wahrscheinlich komisch vor, aber mein Mann ist weg. Eine Woche schon. Ist was besorgen, kommt aber bald wieder.« Sie war eine schöne Frau und sie war klug, wie ihre Augen besagten.
»Kann man ihn nicht telefonisch erreichen? Per Handy vielleicht?«
»Kann man nicht, er ist nicht für diese modernen Sachen. Da musst du schon wiederkommen, wenn er wieder da ist. Willst du wirklich keinen Schnaps?« Sie war gar nicht betrunken, sie war einfach gut gelaunt.
»Ich trinke keinen Alkohol. Hast du denn eine Ahnung, wie lange er noch wegbleibt?«
»Nicht die geringste. Tenhoven kommt, Tenhoven geht, so ist der Kerl nun mal. Aber sei mal ehrlich, du bist Journalist, du willst was zu Jakob Drieschs Tod hören, nicht wahr?«
»Richtig. Die beiden kannten sich und mochten sich nicht. Deshalb will ich mit deinem Mann reden.«
»Er würde dir sicher was sagen, aber er ist eben nicht hier. Vielleicht weiß ich ja was.« Sie lächelte.
»Na schön. Dein Mann hat Waffen hier. Unter anderem eine 44er-Winchester. Das weiß ich. Braucht man hier denn Waffen?«
Sie kicherte. »Nein, normalerweise nicht, aber Albert ist eben ein verrückter Kerl. Er benutzt die Dinger ja nie, aber er meint: Falls mal jemand was von uns will, habe ich was für ihn. So einfach ist das. Und nebenan in Belgien kommst du ja ziemlich einfach an die Dinger, wenn du weißt, wen du fragen musst.«
»Und Albert weiß, wen er fragen muss, nehme ich mal an. Glaubst du, er kann derjenige gewesen sein, der auf Driesch schoss?«
Sie wirkte erstaunt. »Das kann nicht dein Ernst sein. Albert ist ein wilder Lümmel, aber er kann der Fliege an der Wand nichts tun, er ist ein Sensibelchen. Wie kommst du denn auf diese Idee?«
»Das frage ich jeden, der mir über den Weg läuft«, lachte ich. »Keine Beleidigung, nur eine solide Frage. Und schließlich hat er Driesch nicht gemocht, oder?«
»Ja, das stimmt schon. Aber nur wegen der Scheißwindkraftanlagen. Gerade jetzt wegen der Planung in Hollerath. Hundert von diesen Dingern, das musst du dir mal reintun. Da bin ich ganz auf Alberts Seite, da hat er Recht. Was zu viel ist, ist zu viel. Dabei geht so viel Wald den Bach runter und so viele seltene Tier- und Pflanzenarten. Und dann auch noch das Quellgebiet von drei viel Wasser führenden Bächen. Da wird Natur zerstört, das kann doch kein Mensch verantworten.« Sie war jetzt sehr erregt. »Stell dir mal vor, irgendjemand würde so ein Ding in deinen Garten setzen, dann kannst du dir auch vorstellen, wie das ist, wenn du Hunderte von Morgen Wald kaputtmachst. Dagegen ist Albert und dagegen ist jeder, der da draußen am Tisch sitzt. Du kannst sie fragen.« Sie machte eine Pause, zog ein Päckchen Tabak aus einer Tasche und drehte sich eine Zigarette nur mit der rechten Hand. Es sah aus wie Zauberei. Sie bemerkte meinen Blick und lachte wieder. »Das habe ich in Afrika gelernt. Da war ich für den Deutschen Entwicklungshilfe-Dienst tätig. Die Leute sind immer baff, wenn sie das sehen.«
»Ist es möglich, dass dein Albert Sachen weiß, die andere nicht wissen?«
»Was meinst du damit?« Sie war auf der Hut.
»Albert steckt mitten in der Szene, er geht in die Kneipen, hört hier was und da was. Und vielleicht hat er was gehört, was hilfreich sein könnte. Das meine ich.«
Bedächtig nickte sie. »Da könnte was dran sein. Aber da müsstest du mit Albert persönlich reden. Ich selbst weiß jedenfalls nix, das musst du mir glauben. Für welches Käseblatt bist du denn unterwegs?«
»Unter anderem für eins aus Hamburg. Ich möchte es etwas gründlicher machen als andere. Schließlich war Driesch Bundestagsabgeordneter und ein Mann mit viel Einfluss. Ich sprach heute übrigens mit seiner Frau. Die ist total am Boden.«
»Anna, ja Anna.« Die Frau von Albert wurde still und nachdenklich. »Die kenne ich gut.« Sie trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf die Tischplatte. »Ich hol mir mal einen Schnaps, den brauche ich jetzt dringend.« Sie stand auf und murmelte: »Arme Anna.« Sie verschwand im Vorraum.
Nach einer Weile kam sie zurück, sie trug ein Wasserglas halb voll mit Schnaps und stellte es mit einem satten Knall auf die Platte.
»Woher kennst du Anna?«
»Wir kennen uns schon fast so lange, wie ich mit den Kindern hier bin. Erst kam sie her, um Eier, Milch und Honig zu kaufen. Wir sind ins Schwätzen geraten, wie Frauen das so tun. Ein Wort gibt das andere. Wir sind ja nicht so blöd wie ihr Mannsleute, die ihr euch anschweigt bis zum Umfallen. Na ja, dann bekamen wir Schwierigkeiten mit Eileen. Eileen ist die Älteste, jetzt ist sie siebzehn, damals war sie fünfzehn. Sie zog rum, schlief mal hier, mal da. Albert hat sich aufgeregt und hat vermutet... na ja, er vermutete, sie schläft mit Jungens. Was ja auch stimmte. Aber nicht mit Jungen, Plural, sondern mit einem Jungen. Und mit dem zusammen ist sie durch die Gegend gezogen. Du lieber Gott, hat die uns Kummerfalten gemacht. Sie ist so eine Hübsche, musst du wissen, so wild und romantisch. Richtig neidisch war ich manchmal, obwohl Albert das nicht merken durfte. Und sie ist frech. Da geht sie doch hin und klaut aus dem Tante-Emma-Laden nicht weit von hier Fressalien und Rauchzeug und Wein und Bier und solche Sachen. Das konnte so nicht weitergehen und ich hab mich auf den Trecker gesetzt und bin nach Schieiden zu Anna gefahren. Anna, habe ich gesagt, ich brauche deine Hilfe. Das muss man sagen: Anna hilft, wenn sie kann. Und sie konnte. Irgendwie hat sie meine Tochter an der richtigen Stelle zu fassen bekommen. Die bewohnt jetzt ein kleines Apartment, der Junge darf sie da besuchen. Anna sagte: Du kannst Liebe nicht verbieten. Wenn du Liebe verbietest, bist du grausam.«
Ich stopfte mir die Rubino von Da Vinci.
»Sag mal, willst du einen Kaffee? Da ist noch einer.«
»Ja«, sagte ich dankbar.
Sie kramte irgendwo hinter mir herum.
»Kannst du dir jemanden vorstellen, der hingegangen ist und Jakob Driesch in den Rücken geschossen hat?«
»Nein!«, sagte sie hart. »Er kann ja andere Ansichten über Natur und Naturbewahrung haben, er kann meinetwegen Windkraft verteidigen und einrichten und planen, aber ihn totschießen? Nein. Sogar mein Albert sagt, Driesch war immer ein ehrlicher Mann. Ich dachte, vielleicht hat den ja jemand in die Rur gekippt? Ich meine, erst erschossen und dann reingeschmissen? Aber das geht nicht, sagt Albert, das Wasser ist zu seicht und hat viel zu wenig Strömung. Ist ja schon eine geheimnisvolle Geschichte, nicht wahr?«
Ich nickte. »Und deshalb dachte ich, dass Albert vielleicht etwas mehr weiß oder gehört hat oder ahnt. Ist er mit dem Auto unterwegs?«
»Ja, mit unserm Rover Freelander. Stimmt, du hast Recht, wird Zeit, dass er mal wieder reinschaut. Außerdem muss er das Gatter für die Ziegen höher machen. Die Saubande springt einfach drüber und ist schneller als unsereins. Vielleicht kannst du deine Telefonnummer hier lassen? Dann kann er dich ja anrufen, wenn er wieder hier ist.«
Ich schrieb meine Handynummer auf einen Zettel und legte ihn vor sie hin. Der Abend kam, man konnte die ersten Dunstschleier im Tal sehen, die laute Gesellschaft am Tisch im Hof war leiser geworden.
»Gut, er soll sich melden, wenn er mal Zeit hat. Mach's gut und danke für den Kaffee.« Ich ging hinaus, setzte mich in meinen Wagen und verließ den Hof. Ich fuhr talwärts bis Neuhaus, dann weiter nach Schmidtheim. Ich fand eine Kneipe, in der es ein gutes Wiener Schnitzel gab und wo ich draußen sitzen konnte.
Driesch, gib mir eine Antwort auf die Frage, wo du dich neun Stunden herumgetrieben hast. In diesem Land ist dein Gesicht bekannt. Wieso hat dich niemand gesehen? Jeder hier kennt dein Auto – wieso hat niemand das gesehen? Und – zum fünfhundertsten Mal – aus welchem Grund bist du in die Rur gestiegen?
Mein Handy regte sich, jemand hatte vor, mir den Abend zu verderben.
Ich meldete mich mit: »Ich bin verplant. Hier ist das städtische Krematorium, Ofen sechs. Heizer Baumeister.«
»Du bist total verrückt.« Vera lachte. »Wo steckst du?«
»In der Nordeifel«, sagte ich vorsichtig. »Nördlich von Prüm und südlich von Schieiden. Such dir was aus.«
»Du hast Angst vor dem Chaos in deiner neuen Bleibe, wetten?«
»Nein, habe ich eigentlich nicht. Ich trage das Chaos in mir, also liebe ich das Chaos. Und wie geht es dir?«
»Ich bin im Hotel und müde. Aber ich schiebe Nachtdienst, ich habe es Kischkewitz versprochen. Ich bin nur hier, um neue Klamotten anzuziehen. Es war für ihn die einzige Chance, mal seine Familie in Wittlich zu besuchen. Was Neues?«
»Nicht das Geringste. Und bei euch?«
»Ja, da ist etwas. Versprichst du, das vorläufig nicht zu benutzen?«
»Natürlich. Ich schreibe erst, wenn Land in Sicht ist. Daran ändert sich nichts. Also, was ist?«
»Wir haben einen Zeugen beziehungsweise eine Zeugin. Aber ihre Angaben sind vollkommen verrückt. Wahrscheinlich ist sie etwas altersverwirrt und schmeißt Sachen durcheinander.«
»Kannst du das für den zweiten Bildungsweg näher erläutern?«
»Kann ich.« Sie grinste offensichtlich, denn sie atmete schneller. »Denk mal an die Brücke für Fahrzeuge neben der Fußgängerbrücke. Linker Hand das Eckhaus ist eine Bank. Geradeaus liegt ein Uhren- und Schmuckgeschäft. Die Straße nach links läuft parallel zur Rur und heißt Stadtstraße. Dieser Bereich entspricht in der Rur dem Abschnitt, wo die Plastik-Geldkarten gefunden wurden, Driesch selbst und seine Geldbörse. Da gibt es viele Kneipen und es war unglaublich, dass sich niemand meldete, der in der Nacht was Ungewöhnliches bemerkt hatte. Daher bin ich losgezogen und habe die Häuser abgeklappert. Klingel für Klingel. Und im dritten Haus stehe ich dann unterm Dach juchhe vor einer alten Dame, die ganz freundlich und schüchtern erklärt: Natürlich, junge Frau, habe ich den Krach gehört, also das Knallen. Aber das ist doch nicht wichtig! Ich kann dir sagen, ich hätte die alte Dame fast umgebracht.«
»Was ist denn nun dabei herausgekommen?«
»Eine komische Sache. Als Driesch im Fluss starb, war es vier Uhr. Nun behauptet die alte Frau aber, es sei erst halb vier gewesen, als sie die ersten Schüsse hörte. Und zwar habe es nicht auf der Flussseite geknallt, sondern auf der Straßenseite. Ich habe natürlich nachgehakt, aber sie beharrt drauf: Straßenseite, halb vier in der Früh. Sie sagt, sie wird immer um diese Zeit wach. Und: Sie hat ihr Schlafzimmer nicht nach hinten raus, sondern zur Straße hin. Und noch etwas: Sie hat sich einen großen Spiegel an der Dachraufe anbringen lassen. So kann sie sehen, wer unten bei ihr schellt. Nun behauptet sie: Um halb vier rannte erst eine Person durch den Spiegel und dann eine zweite. Und es knallte, es knallte unüberhörbar. Ich habe mir den Spiegel angesehen. Neben dem Blickfeld steht eine Straßenlaterne. Die Frau könnte die Wahrheit erzählen, wenngleich das unsere ganzen bisherigen Überlegungen über den Haufen wirft. Die Frau besteht darauf, dass beide Personen von rechts nach links liefen, also stromaufwärts und damit stadtauswärts. Ob es Männer oder Frauen waren, konnte die Dame allerdings nicht erkennen. Aber es waren zwei. Und dann, sagte sie, folgte noch eine dritte Person, ebenfalls von rechts nach links. Ungefähr zwei, drei Minuten später. Ich habe wieder gefragt: Sind Sie ganz sicher? Sie war regelrecht empört. Ich habe doch drauf geachtet!, sagte sie. Ich habe ihr eigentlich kein Wort geglaubt. Doch dann bin ich runter und habe die Straße abgesucht. Uraltes Kopfsteinpflaster, anno Tobak. Und was fand ich dort? Eine Patronenhülse. Und die stammt zweifelsfrei aus einer 44er-Winchester, zweifelsfrei aus der Tatwaffe. Und ich habe noch drei weitere gefunden, also insgesamt vier. Alle stammen sie aus der Tatwaffe.« »Und welche Rückschlüsse zieht ihr daraus?« »Wir müssen total umdenken. Kischkewitz hat mich gelobt und gemeint: Das bedeutet, dass der Täter zwei Magazine verschoss. Und das ist ein Haufen Zeug. Jetzt sind die Kollegen gerade dabei, sich jeden Anwohner in der Straße noch mal vorzuknöpfen. Das alles ist jetzt noch unverständlicher. Wieso landete Driesch plötzlich in der Rur, wenn er noch eine halbe Stunde vorher die Straße entlang rannte? Das verlangsamte doch seine Flucht. Selbst wenn er in Panik gewesen ist, das hätte er erkennen müssen. Wieso also die Rur? Es ist zum Verrücktwerden, Siggi. Aber sag nicht, dass du das von mir hast.«
»Was sagen denn eure Analytiker? Passt das in irgendeine von euch erdachte Szene?«
»Nein. Wenn wir für den Vorgang einen weiteren Zeugen finden, was sehr wahrscheinlich ist, müssen wir umdenken. Bisher gingen wir davon aus, dass nur zwei Personen an dem Vorgang beteiligt waren, der Mörder und das Opfer. Jetzt haben wir plötzlich drei. Wer war die dritte Person? Wenn du uns das Rätsel löst, Siggi, kriegst du das Bundesverdienstkreuz.«
»Weiß Rodenstock schon davon?«
»Natürlich. Was wirst du jetzt tun?«
»Nach Hause fahren und schlafen«, log ich fröhlich. »Dem Junggesellen bleibt immer nur das einsame Bett.«
»Ha, ha«, raunzte sie und beendete das Gespräch.
Ich bestellte noch ein Eis. Wenn man auf rutschige Pfade gehen will, sollte man das gut genährt tun. Dann machte ich mich auf den Weg. Ich fuhr wieder zurück über Neuhaus den Berg hinauf. Den Wagen parkte ich oberhalb des Hofes von Albert Tenhoven, nahm die Maglite und schlich am Waldrand entlang. Der Hof hatte drei große Bogenlampen, die ihn gut sichtbar hielten. Im Abstand von etwa vier- bis fünfhundert Metern umfasste hufeisenförmig Wald das Gebäude, dann folgten Wiesen bis unmittelbar an das Haus heran. Die Frage war: Wann kam Albert Tenhoven ins Haus? Jeden Abend? Jeden Abend ganz spät? Oder einfach dann, wenn die Luft rein schien? Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was ihn trieb, den Hof zu meiden, aber vielleicht würde er es mir sagen.
Ich folgte dem Waldrand, benutzte nur selten die Stablampe und blieb für Leute auf dem Hof unsichtbar. Zunächst war es leicht begehbarer Tannenwald, der dann einem jungen Mischwald wich. Das Laufen wurde erheblich schwieriger, weil dort hohe Ginsterbüsche zwischen Birken und Krüppeleichen standen und zudem Himbeer- und Brombeerranken in den Weg wucherten. Aber das hielt mich nicht davon ab weiterzugehen. Zweimal fiel ich empfindlich auf die Nase, weil meine Füße sich in rankenden Zweigen verfingen.
Dann entdeckte ich das erste Häuschen. Es kam in der Dunkelheit wie ein großes Viereck auf mich zu und ich fragte mich, was das sein könnte. Plötzlich wusste ich es: Albert Tenhoven war unter anderem Imker, hier standen Bienenstöcke. Das Häuschen war stockdunkel, die Ein- und Ausfluglöcher der jeweiligen Stöcke waren aber gut erkennbar. Ich wusste aus Erfahrung, dass sich im Gebäudeinnern ein breiter Gang befinden musste, von dem aus der Imker arbeiten konnte.
Der Gang war nicht verschlossen. Ich drückte die Tür vorsichtig auf, es roch süßlich. Links an der Wand hing ein großer Hut mit einem Gazenetz, daneben waren Gerätschaften, von denen ich annahm, dass ein Imker sie braucht.
Der Hof lag jetzt links von mir hangabwärts, er wirkte im gelben Schein der Bogenlampen wie eine friedliche Insel, wie ein Haus, das man gerne ansteuert, um sich in Sicherheit zu begeben.
Ich erreichte das zweite Bienenhaus. Auf den ersten Blick wirkte es genauso klobig und viereckig schwarz wie das erste. Aber dann stellte ich Unterschiede fest. Das hier war größer, war doppelt so groß. Und ein weiterer Unterschied bestand darin, dass in diesem hier Licht brannte. Ich konnte nicht erkennen, ob es elektrisches Licht war oder eine Petroleumfunzel. Aber eindeutig war es Licht. Es fiel in einem schmalen Streifen am Fußboden auf die Nadeln der Kiefern, die hier standen. Dann roch ich Tabak, unzweideutig ein starkes, scharfes Kraut.
Ich umrundete das Haus, um zu gucken, wo sich die Eingangstür befand. Auch sie schloss nicht dicht, auch hier gab es gelbe Streifen Licht.
Ich war unschlüssig, ich wusste nicht, wie ich vorgehen sollte. Nach Wilma Bruns zu urteilen, war Albert Tenhoven nicht ganz unkompliziert. Es konnte also geschehen, dass er die falschen Schlüsse zog und irgendeine Waffe zückte. Das Risiko musste ich allerdings eingehen.
Ich klopfte an die Tür. »Tenhoven? Kann ich Sie sprechen?«
Keine Antwort.
Ich wiederholte: »Herr Tenhoven, mein Name ist Siggi Baumeister. Ich bin Journalist. Ich weiß genau, dass Sie da drin sind. Kann ich Sie ...«
Etwas traf mich an der linken Kopfseite, dann registrierte ich einen heftigen Schlag in meine Kniekehlen. Jemand grunzte wie ein Schwein. Als ich nach vorn an die Holzwand des Bienenhauses geschmettert wurde, wollte ich so etwas wie ›nein‹ sagen. Aber das schaffte ich nicht mehr. Ich spürte, dass ich fiel, doch ich brachte die Arme nicht mehr vor mein Gesicht.