Achtes Kapitel

Unvermittelt sagte Rodenstock dann: »Emma kam übrigens der Gedanke, dass der Mörder von Driesch ein glücklicher Mörder ist, weil alle möglichen Zufälle für ihn arbeiten. Und sie fragt, wieso Driesch, als er nachts um halb vier durch die Stadtstraße stadtauswärts rannte, ausgerechnet diese Straße nahm. Wieso ist Driesch nicht über den Marktplatz gerannt, um zu seinem Auto oben auf dem Plateau zu kommen?«

»Das ist doch eine müßige Frage«, ich ärgerte mich. »Er ist eben die Straße am Fluss entlang gerannt. Genauso könnte man die Frage stellen, warum er kein Taxi genommen hat.«

Er widersprach: »Das ist was völlig anderes. Es ist tatsächlich merkwürdig, dass es Driesch zunächst gelingt zu entkommen, er aber nicht versucht hat, sein Auto zu erreichen. Warum nicht?«

»Was glaubt denn Emma? Wenn sie schon diese Fragen stellt, dann hat sie vielleicht auch eine Antwort.«

»Hat sie auch. Wahrscheinlich wollte Driesch den Mörder nur ablenken. Und zwar von etwas, was hinter ihm war. Also dort, woher er kam. Da war etwas oder ein Mensch, von dem Driesch ablenken wollte.«

»Na ja«, langsam langweilte mich dieses Spiel. »Nehmen wir an, Emma hat Recht. Driesch wollte ablenken. Eine halbe Stunde später rennt er durch den Fluss zurück und wird erschossen. Frage an Emma: Was hat er während dieser dreißig Minuten getan?«

»Antwort von Emma: Der Mörder und sein Opfer haben Katz und Maus gespielt.«

»Frage an Emma: Wer war der dritte Mann?«

»Das könnte jemand gewesen sein, der eine Unterredung mit Driesch hatte. Vielleicht jemand von den großen Stromerzeugern. Dann kommt der Mörder. Driesch flieht. Der Mann, mit dem er reden wollte, überlegt eine Weile, begreift die Gefahr für Driesch und läuft hinterher. Und ...«

»Falsch«, sagte ich schnell. »Wenn Driesch mit jemandem von den Stromerzeugern einen Termin hatte, wird ein Mörder genau zu diesem Zeitpunkt nicht auftauchen. Es sei denn, Emma vermutet das Motiv in einem Feld, das wir noch nicht beackert haben.«

»Oh«, murmelte Rodenstock richtig entzückt. »Wir kommen übrigens gleich, wir wollen uns deine provisorische Behausung mal anschauen. Und wir haben einen Tisch auf der Dauner Burg reserviert. Emma will ein Luxusessen spendieren, um ihre schlechte Laune loszuwerden. Bis gleich also.«

»Bis gleich.«

Eine provisorische Behausung war eine provisorische Behausung. Aber da ich über Ute und Alwin und damit über Freunden wohnte, war mein Provisorium eigentlich kein Provisorium, eher eine ganz normale Ausweiche.

Als habe er gehört, was ich dachte, rief Alwin laut: »Es gibt Spaghetti. Öl und Knoblauch!«

»Phantastisch, aber ich hab schon eine Einladung«, schrie ich zurück. Ich lief hinunter zum Auto und holte das Band mit der Klaviermusik von Jakob Driesch.

Ich legte es ein und drehte den Lautstärkeregler auf. Driesch hatte ein unglaubliches Feeling für die Träume und das reale Leben des Blues gehabt. Und wieder einmal stellte ich fest, dass Blues in die Eifel passte, als sei er für diese Landschaft geschrieben.

Es klingelte und ich kapierte nicht sofort, dass es meine Haustürklingel war. Erst beim dritten Läuten reagierte ich. Vera stürmte die Treppe herauf und war außer Atem, als sei sie die ganze Strecke von Monschau gerannt.

»Schöne Grüße von Kischkewitz. Du sollst mir sagen, was dieser Bergmann, dieser Pfarrer, genau erzählt hat. Wir haben den Eindruck, er hält sich mit seinen Vermutungen uns gegenüber zurück.«

»Ihr seid eine Mordkommission, wie soll er da Vertrauen fassen? Er ist Pfarrer und ein redlicher Mann.«

Sie stand zwei Stufen unter mir und sah mich an. »Darf ich vielleicht die heiligen Hallen betreten?«

»Oh, Verzeihung, natürlich. Komm herein und hock dich dahin, wo das Wohnzimmer sein soll. Willst du etwas zu trinken? Vielleicht einen Schnaps?«

»Keinen Alkohol. Ich bin im Dienst.« Sie ging an mir vorbei.

»Du bist erst einmal hier. Und gleich gehen wir auf die Dauner Burg mit Emma und Rodenstock essen.«

»Da muss ich aber erst den Chef fragen, denn ich habe wieder Nachtdienst.« Sie wirkte fahrig und nervös. Sie setzte sich auf einen Sessel und seufzte: »Ich habe eigentlich jeden Dienst. Tagdienst, Spätdienst, Nachtdienst. Deine Idee, dass Driesch gar nicht panisch war, sondern gezielt flüchtete, finde ich großartig, Baumeister. Jedenfalls sind nun sechs Zwei-Mann-Teams unterwegs, die an jeder Tür klingeln, die jeden Hausbesitzer suchen, die jeden Hausmeister rausschellen. Wir wollen es jetzt wissen.« Sie zog eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche ihres hellblauen Männerhemdes und zündete sich eine an. »Hast du noch eine brauchbare Idee?«

»Habe ich. Die Kommission sollte der Frage nachgehen, was Driesch den Waldbesitzern in Hollerath gesagt hat. Erst hat er den Kauf ihrer Waldparzellen in Aussicht gestellt, dann ließ er das Projekt fallen. Da er unstrittig ein redlicher Mann war, muss er ihnen das erklärt haben.«

Sie starrte mich an und schloss dann die Augen. »Du bist schon erstaunlich.«

»Bin ich nicht. Ich bin nur gründlich.«

»Stört es dich, wenn ich mal telefoniere?« Aus der schmalen Aktentasche, die sie mitgebracht hatte, kramte sie ein Handy hervor.

»Du kannst so viel telefonieren, wie du willst. Und dann müssen wir mal über uns reden.«

»Häh?« Das war durchaus kein höflicher Laut, aber sie war verwirrt und hilflos und plötzlich rot geworden. Sie drückte ziemlich heftig auf die Zahlentasten ihres Handys.

Ich ging derweil in die Küche und holte ihr einen Schnaps und kochte mir eine Tasse Tee.

Dann sagte Vera: »Kischkewitz schickt zwei Leute los, um diese Sache abzuklären. Der Pfarrer, dieser Bergmann, ist übrigens ein guter Typ, finde ich. Ich habe ihn gefragt, ob er den Vatikan schon gebeten hat, ihn von seinem Amt als Pfarrer zu entheben. Und er hat geantwortet, das Problem löse man auf eine ganz andere Weise. Wenn er den normalen Weg ginge, dann würde ein unendlich langes Verfahren in Gang gesetzt. Und weil die Kirche massive Nachwuchsprobleme hat, würde das Verfahren immer länger dauern, weil ja die Hoffnung besteht, dass der Kandidat wieder umschwenkt und katholischer Priester bleiben will. Bergmann sagte: Wenn du das vermeiden willst, musst du nichts anderes tun, als zu heiraten. Dann erledigt sich die Sache von ganz allein.«

Wir lachten zusammen und sie trank vorsichtig einen Schluck Schnaps.

»Zu uns«, sagte ich rau. »Wir wollen uns doch ein bisschen erwachsen verhalten, oder?«

»Ich war ziemlich aus der Spur«, murmelte sie. »Ich habe ja hier und da einen netten Kerl kennen gelernt, der es wert war. Aber die Beziehungen scheiterten immer daran, dass ich zu viel Arbeit am Hals hatte und niemals Zeit.«

»Aber du brauchst doch trotzdem nicht das, was war, kaputtzureden.«

»Das war nicht gut, Baumeister. Ich weiß, das war nicht gut. Tut mir Leid. Wir können ja vielleicht so tun, als wäre das nicht geschehen.«

»Das können wir«, nickte ich.

Sie sah mich an, machte: »Puh!«, lachte erleichtert und trank den zweiten Schluck Schnaps. »Dann erzähl mir doch jetzt mal genau, was du mit dem Pfarrer besprochen hast. Du kannst mir das gleich hier aufs Band sprechen, dann werde ich es heute Nacht in den Computer eingeben. Und irgendwann brauche ich dann noch deine Unterschrift unter den ganzen Sermon. Aber das hat ein paar Tage Zeit.«

Wir arbeiteten konzentriert etwa eine Dreiviertelstunde, dann hatte sie ihren Auftrag erfüllt. Sie fragte: »Was stellst du dir vor, was Driesch in Monschau gemacht hat?«

»Ich gehe jetzt davon aus, dass es ein stinknormaler Aufenthalt war. Möglicherweise wollte er jemanden treffen, möglicherweise aber auch nicht. Möglicherweise hat er zufällig jemanden auf der Straße getroffen und ist mit ihm irgendwohin gegangen, wo sie ungestört miteinander reden konnten.«

»Das ist der Punkt, mit dem ich nicht einverstanden bin«, wandte Vera ein. »Es kann kein Treffen in einem Cafe oder einem Lokal gewesen sein, dort wären sie nicht ungestört gewesen. Außerdem hätten wir dann inzwischen davon erfahren müssen. Und noch etwas, was mir wichtig erscheint: Er parkte sein Auto oben über der Stadt und benötigte vermutlich satte zehn Minuten, um zum Marktplatz herunterzukommen. Hier herrscht immer ein Riesenbetrieb, hier sind Tausende von Besuchern unterwegs. Und er war ein Bundestagsabgeordneter, den Hinz und Kunz kannte. Wir haben über die Medien Zeugen gesucht, die ihn gesehen haben. Und niemand, Baumeister, wirklich niemand hat sich gemeldet. Und das lässt mich vermuten, dass er seinen Wagen da oben parkte, aber nicht so einfach in die Stadt spazierte. Vielleicht hat er ja sein Aussehen verändert. Er parkte da oben, damit sein Wagen, den in diesem Landstrich jeder kennt, nicht so der Aufmerksamkeit aller ausgesetzt war und nicht verraten konnte, wo er hinwollte. Dann klebte er sich einen Schnäuzer an, was weiß ich. Vielleicht setzte er sich auch eine Brille mit Fensterglas auf und einen Hut.«

»Ist diese Überlegung nicht ein bisschen weit hergeholt?«, fragte ich vorsichtig. Ich wollte mich nicht über sie lustig machen.

»Wieso?«, fragte sie empört. »Zu einer lächerlichen kleinen Maskerade passt doch durchaus, dass er wenig später tot war, nicht wahr? Was hast du gegen einen Schnäuzer und eine Brille?«

»Man hat weder einen Schnäuzer noch eine Brille bei ihm gefunden«, sagte ich, noch immer vorsichtig, obwohl ich langsam begriff, auf was sie hinauswollte. Vielleicht hatte sie ja doch Recht.

»Man hat außer seinem Portemonnaie und den Plastikkarten nichts bei ihm gefunden. Und im Auto war auch nichts. Die gesamten Papiere fehlen. Wo sind die? Natürlich in einer Brieftasche. Und wo ist die?«

»Die ist da, wo er sich aufhielt, wo er jemanden getroffen hat, möglicherweise auch zwei Personen. Den Mörder und eine dritte Person.«

»Also hältst du meine Theorie nicht mehr für so abwegig?«

»Ja. Aber nur dann, wenn das, was er tat, geheim bleiben sollte«, entgegnete ich. »Und seiner Frau hat er gesagt, er wolle nur eben mal ein paar Bekannte treffen und sei bald wieder daheim.«

»Aber er kam nicht mehr nach Hause, Baumeister«, sagte sie. »Und Anna Driesch hat betont, dass er höchst selten so unklare Angaben machte, wenn er aus dem Haus ging.«

»Mit anderen Worten: Du meinst, dass er geahnt hat, dass er sich in Lebensgefahr begab?«

»Ja«, nickte sie. »Er hat etwas geahnt oder gewusst. Und zwar schon, bevor er nach Monschau fuhr. Deshalb hat er seiner Frau auch nichts Näheres gesagt. Er hat sie immer gut behandelt, er hat sie geliebt. Also sagte er nichts.«

»Das ist eine Möglichkeit«, gab ich zu.

»Eine gute Möglichkeit«, bekräftigte sie. »Hinzu kommt nämlich, dass Wilma nur deshalb die Identität des Mörders herausfinden konnte, weil der Mörder im gleichen Arbeitsbereich zu suchen ist, in dem auch sie steckte: Windenergie.«

Ich überlegte. »Du bist gut, junge Frau, du bist sehr gut. Und Annette von Hülsdonk sollte ebenfalls dran glauben. Nur war Bastian schneller.«

»Langsam wird ein Paar Schuhe daraus«, gurrte sie zufrieden. »Wo steht dieser Schnaps?«

»Im Eisschrank in der Tür.« Ich griff nach dem Handy und wählte die Nummer von Albert Tenhoven. »Hier Baumeister. Ist dir noch etwas eingefallen?«

»Nein. Seit das mit Wilma passiert ist, habe ich nur noch einen Wunsch: den Kerl zu packen und ihn zu zerquetschen. Gibt es eine Spur? Ich meine, so eine Sonderkommission müsste doch eigentlich mal etwas herausfinden können.«

»Spuren gibt es genug, aber keine ist überzeugend. Wir drehen uns im Kreis. Ein Punkt macht mir besonders zu schaffen. Es gibt keinen einzigen Zeugen, der Driesch in Monschau gesehen hat. Nicht einen. Dabei hatte er oben auf dem Berg geparkt. Er kann ja nicht nach unten in die Stadt geflogen sein.«

»Was ist, wenn er da oben jemanden getroffen hat, der ihn mit seinem Wagen mitgenommen hat?«

»Einverstanden, das kann natürlich sein. Aber noch eine Frage: Wie kommt man hierzulande an eine Winchester, eine 44er?«

»Fast kein Problem. Du brauchst nur nach Belgien zu fahren. Wenn du nicht sofort eine bekommst, kannst du eine bestellen und eine Woche später abholen.«

»Was sind das für Leute, die so etwas kaufen?«

Tenhoven lachte, er wirkte gemütlich. »Na ja, so Irre wie ich. Du kaufst dir so ein Stück und manchmal ballerst du damit auf Blechbüchsen oder so.«

»Und Jäger?«

»Jäger dürfen die Dinger legal erwerben, weil sie unbegrenzt so genannte Langwaffen kaufen dürfen. Sie müssen nur ihren Jagdschein vorlegen. Aber auch die meisten Jäger aus der Eifel besorgen sich ihre Waffen in Belgien. Illegal sind sie einfach billiger, genauso wie die Munition. Jeder Jäger wird dir das bestätigen. Frag beispielsweise den Onkel von Driesch. Der ist Jäger und ich gehe jede Wette ein, dass er Langwaffen besitzt, die nirgendwo registriert sind. Jeder Freak hat solche Dinger und die Behörden halten die Schnauze, weil viele von diesen Leuten viel Einfluss haben. Ein Jäger darf aus Gründen des persönlichen Schutzes auch Faustfeuerwaffen haben, also einen Revolver oder eine Pistole. Ich selbst bin nur ein Freak ohne Waffenschein. Du musst in der Eifel zu denen gehen, die Waffen kaufen dürfen, dann quellen dir die Augen über, was die so alles zu Hause rumliegen haben.«

»Ich danke dir.«

»Schon in Ordnung. Ich habe aber noch eine Frage. Stimmt es, dass Manfred von Hülsdonk sich umbringen wollte?«

»Ja, aber der Strick ist gerissen und er hat sich beide Beine gebrochen.«

Tenhoven war eine Weile still und murmelte dann: »Ist ein armes Schwein. Erst kauft er seiner Tochter die alte Mühle in Berk, dann will die plötzlich nicht mehr und er muss die Mühle wieder verscheuern. Und dann wird die Tochter erschossen.«

»An wen hat er denn wieder verkauft? An den Vorbesitzer?«

»Nein. An irgendjemanden, der genauso wie Annette ein Hotel draus machen will. Jetzt wird es ein Ponyhotel. Na ja, so ist das Leben. Bis demnächst.«

»Bis demnächst.«

Vera hockte mir gegenüber und grinste, weil der Schnaps sie in außerordentlich gute Laune versetzt hatte. »Na, hat er was Neues?«

»Nichts.«

Es war schon neun Uhr und draußen zunehmend dunkel geworden, als Rodenstock und Emma endlich erschienen und einmal quer durch meine neue Bleibe zogen. Aus der Fahrt zur Dauner Burg wurde dann allerdings nichts mehr, weil sich Rodenstocks Handy meldete.

Kischkewitz teilte ihm kurz und knapp mit: »Kommt nach Monschau. Wir haben Drieschs Bleibe entdeckt.«

Es entstand keine Aufregung, ruhig machten wir uns startklar. Cisco bekam den Balkon zugewiesen und ich hoffte, er würde das Dorf in der Nacht in Ruhe lassen. Hausschlüssel, Autoschlüssel, Geld, Jacke, Weste.

Rodenstock meinte: »Wir sollten uns beeilen.«

»Ich habe Blaulicht, ich kann euch mitziehen«, sagte Vera.

»Versicherungsrechtlich wird das ein Fiasko«, bemerkte ich.

Eine Bleibe, hatte Kischkewitz gesagt, eine Bleibe. Das deutete auf entschieden mehr hin, als nur auf einen sporadischen Treffpunkt. Wieso Bleibe?

Cisco begann mörderisch zu jaulen. Ich ging zurück nach oben und befreite ihn. Ich nahm ihn mit. Der Hund, der treueste Begleiter des Menschen.

Vera war sehr schnell verschwunden, Rodenstock unterhielt sich in dem Wagen vor mir lebhaft mit Emma. Flüchtig musste ich an meine Katzen und mein zerstörtes Haus denken. Andrea würde die Katzen und die Fische im Teich füttern.

Die Fahrt in den späten Abend verlief zügig und ohne Störung, wir brauchten nur wenig mehr als eine Stunde und parkten oberhalb des Auklosters. Cisco, der inzwischen fest schlief, ließ ich auf der Rückbank weiter träumen. Aus den Zimmern der Sonderkommission kam ein junger Mann, sah uns und rief: »Rechts von der evangelischen Brücke.«

Die Nacht war hereingefallen, die kleine Stadt wirkte sehr friedlich. Der Marktplatz war fast leer, nur zwei, drei kleine Gruppen von Jugendlichen standen zusammen und unterhielten sich. Wir erreichten die Windung der schmalen Rurstraße, etwa hundert Meter vor den Brücken.

Emma, die neben mir ging, wirkte seltsam verkrampft. »Wir werden umdenken müssen«, sagte sie verbissen.

»Ich hoffe, der Fall ist nun zu Ende«, maulte Rodenstock einen Schritt vor uns. »Ich fange schon an, Windräder zu verabscheuen.«

Wir liefen über die Fußgängerbrücke und wurden von einem uniformierten Polizisten aufgehalten, der uns aber weitergehen ließ, als er Rodenstock erkannte.

»Sieh einer an!«, sagte Emma hell.

Zwischen der evangelischen Kirche und dem nächsten Gebäude war eine ganz schmale, uralte kleine Gasse. Dort befand sich ein dreieckiges Gebäude, an dessen einer Seite der Laufenbach in die Rur mündete. Dann kam der Bach, dann das Rote Haus. Offensichtlich war unser Ziel das dreieckige Gebäude, dessen Spitze wie ein Messer auf den Lauf der Rur deutete. Das Gelände drum herum war abgesperrt und die wenigen Passanten wurden gebeten, einen anderen Weg zu benutzen, der oberhalb am Hang verlief.

Kischkewitz bemerkte uns und sagte: »Hier drin hat er sich aufgehalten. Eindeutig. Doch ich muss sagen, ich bin eher verwirrt als erleichtert.«

»Können wir rein?«, fragte Rodenstock.

»Geht noch nicht. Die Spurenleute sind drin. Keine Hetze jetzt. Ich gebe euch gleich einen Überblick.« Dann war er schon wieder fort.

Ein paar Frauen und Männer aus meiner Branche fotografierten wie verrückt und versuchten jeden uniformierten und nicht uniformierten Beamten zu befragen, was folgenlos blieb, weil die Männer nichts wussten.

»Driesch kam also aus diesem Haus, rannte weg, kehrte zurück«, sagte Emma ganz versunken. »Und wer blieb in dem Haus zurück?«

»Es wird Spuren geben«, meinte Rodenstock. »Bald werden wir es wissen.«

»Oder auch nicht«, sagte Emma. Es klang beinahe wütend.

Das Haus war dreistöckig und das Erdgeschoss erschien von außen so, als wohne niemand darin. Aber oben an den Fenstern hingen Gardinen. Ich schlenderte zu der offen stehenden Haustür. Es gab eine Klingel, aber keine Namensschilder. Das Gebäude wirkte baufällig und die Grundfläche sehr klein. Möglicherweise befanden sich auf jeder Ebene zwei Räume, vielleicht zusätzlich eine Küchenecke, eine Toilette. Viel mehr konnte nicht hineinpassen. Der Gedanke, dass es einen Zusammenhang zwischen Jakob Driesch und diesem Haus gab, schien grotesk. Eher konnte man sich vorstellen, dass hier Jugendliche, die sich ein paar Joints beim örtlichen Dealer besorgt hatten, in einem der Räume bei Kerzenlicht hockten und sich ihren Träumen überließen. Aber Driesch? Driesch passte nicht hierher!

»Ob er ein geheimes Leben hatte?«, murmelte Emma.

»Glaube ich nicht«, antwortete Rodenstock sofort. »Er hatte doch gar keine Zeit dafür. Wann soll er ein geheimes Leben gelebt haben?«

Kischkewitz rannte unruhig herum, sprach mit seinen Leuten, redete kurz und abgehackt, verschwand im Haus, tauchte nach Sekunden wieder auf, kam zu uns und bestätigte meinen Eindruck: »Da drin würde nicht mal ein Penner freiwillig den Winter verbringen.« Er rief einem Spurenmann zu: »Wir müssen die verdammten Wasserbetten sichern«, verschwand erneut kurz im Haus, stand dann wieder vor uns und murmelte: »Da sind sogar Pilze an den Wänden; richtig dicker, schwarzer Schimmelpilz.«

Rodenstock sagte: »Beruhige dich, es wird weitergehen und du wirst den Mörder fassen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, schnauzte Kischkewitz. Dann grinste er über sich selbst und murmelte: »Zieh mir einen Täter aus dem Hut, oder noch besser: Behaupte doch einfach, dass du es warst.«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Emma lachend. »Ich brauche den Mann noch.« Dann setzte sie unvermittelt hinzu: »Haben die Räume Gardinen?«

»Nein«, sagte Vera, die dazugekommen war. »Keine Gardinen, aber dafür Vorhänge. Teure Vorhänge. Aber ansonsten habe ich mir die Zweitwohnung eines Bundestagsabgeordneten anders vorgestellt.« Sie starrte mich an und seufzte: »Es ist so deprimierend.«

»Das ist es wirklich«, nickte Emma. »Das erinnert mich an meine Tante Ruth, die ihre Bleibe nach dem Zweiten Weltkrieg genauso beschrieben hat. Was ist, mein Lieber, marschieren wir ins Hotel und gehen schlafen?«

»Das tun wir«, nickte Rodenstock. »Du solltest nach Hause fahren, Baumeister, ich rufe dich an, wenn irgendetwas Neues passiert, was wirklich wichtig ist.«

»Ich bleibe noch eine Weile«, sagte ich. »Ich will noch mal versuchen, Jakob Driesch zu verstehen.«

»Viel Glück«, sagte Emma und nahm ihren Rodenstock an die Hand. Sie gingen langsam die Straße entlang, berührten einander, sprachen leise, neigten ihre Köpfe zueinander. Ich dachte: Sie sind glücklich. Und ich war froh, das erleben zu dürfen.

Ich schlenderte auf die evangelische Brücke und starrte auf das Haus, dessen Spitze auf das Wasser zeigte. Gut, Driesch, du hattest also eine Bleibe. Sogar eine mit einem Ausgang auf die Straße und einem zweiten auf den Laufenbach. Was hast du in dieser Bleibe getrieben? Leute getroffen? Welche Leute? Welche Leute kanntest du, denen du eine so provisorische Bude mit Pilzbefall an den Wänden anbieten konntest? Und wieso überhaupt eine solche heimliche Bude? Wieso konntest du nicht ein Hotelzimmer mieten? Weil das zu öffentlich war? Aber du kanntest Hoteliers genug, die dich abgeschirmt hätten, die dich niemals verraten hätten. Wieso also diese verkommene Bleibe? Und dann auch noch mitten in Monschau, wo auf jedem Hin- und Rückweg die Gefahr einer Entdeckung lauerte! Was macht das alles für einen Sinn? Hat Vera Recht mit ihrer Vermutung, dass du irgendwo geparkt, dir einen Schnurrbart angeklebt und eine Sonnenbrille aufgesetzt hast, nur um dieses verkommene, pilzbefallene Haus zu erreichen? Du machst mich verrückt, Jakob Driesch, und du könntest nach deinem Tode wenigstens einmal höflich sein und mir eine oder zwei Antworten geben.

Ich stopfte mir die Zebrano von Stanwell, zündete sie an und ging langsam wieder zu dem Haus zurück.

Kischkewitz stand mit sechs oder sieben seiner Leute auf der Straße und resümierte: »Es ist also klar, dass er hier war, es ist klar, dass er sogar den Lokus benutzt hat. Und zwar nicht einmal, sondern häufig. Und nicht nur am Tag der Tat, sondern auch vorher. Und zwar oft vorher. Wir müssen außer den Wolldecken noch die Wasserbetten labortechnisch untersuchen. Schorsch, du wirst dich darauf konzentrieren, herauszufinden, wo sie gekauft wurden. Das kann nicht schwer sein. Dann die Schlösser in den Türen. Es ist klar, dass sie neu sind und von welchem Hersteller sie stammen, DOM in Köln. Es ist auch klar, dass sie alle geölt sind, die Türen laufen vollkommen lautlos. Bernard, du nimmst eine der Ölproben und lässt sie bestimmen. Wir müssen herausfinden, wo dieses Öl gekauft worden ist. Die Lokusbürste muss untersucht werden. Wir brauchen unbedingt eine genaue Beschreibung der Darmflora von Driesch und dann den Vergleich mit den Rückständen an der Bürste. Doc, das machst du. Dann Folgendes: Benny, du nimmst Mikroproben vom Fußboden und lässt sie analysieren. Ich will wissen, wer außer Driesch diese Bude noch betreten hat...«

Ich hörte nicht mehr zu. Es war das Abspulen eines großen Programms, das im Alltag einer Mordkommission Routine ist, das unerhört viele Menschen über viele Tage beschäftigt und das einfach nur harte unermüdliche Arbeit ist, ohne die kein Gericht der Welt solide arbeiten kann.

Ich betrat das Haus. Die Haustür war aus Eiche, offensichtlich sehr alt, und wies im oberen Teil einige kunstvolle Schnitzereien auf. Der Flur, der dann folgte, war schmal und lag links neben der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte. Links die Tür, die in die Parterrewohnung führte, war ebenfalls aus Eiche und alt. Das neue Schloss von DOM fiel auf, weil es direkt neben das alte Schlüsselloch des alten Schlosses gesetzt worden war, das man nicht verkleidet oder wenigstens mit Holzkitt verschmiert hatte. Das Schloss glänzte noch, war also bestenfalls ein paar Monate alt. Der Raum dahinter war etwa vier mal fünf Meter groß und wurde beherrscht von zwei blauen Wasserbetten. Es war ein hässliches Himmelblau. Die Betten standen nebeneinander an der Außenwand zum Laufenbach hin. Das Fenster über den Betten war sehr hoch. Und über dem Fenster war eine Holzstange an zwei verdübelten Halterungen befestigt. Die Holzstange und die zwei Halterungen waren neu. Daran hing ein weinroter zweiteiliger Vorhang aus einem plüschähnlichen Stoff. Das Fenster nach rechts zur Rur hin war genauso ausgestattet. Links neben den Wasserbetten war eine schmale Tür, die offen stand. Das Türblatt schien handgemacht und war wesentlich schmaler als die Normtüren, vielleicht achtzig Zentimeter breit. Ich hörte das Rauschen des Baches und trat in die Tür.

Das Wasser schäumte grellweiß über die Steine, es lagen einige alte Bierdosen und Colaflaschen herum, dazu die obligaten Reste von Papiertaschentüchern, Plastikumhüllungen von Erfrischungstüchern, Bonbonpapiere. Touristen sind in der Regel arglos, sie schmeißen weg, was sie nicht mehr brauchen, und sie schmeißen es dort weg, wo es ihnen in den Kram passt.

Von meinem Standpunkt bis hinunter auf die Ebene des Laufenbachs waren es gut anderthalb Meter. Aber direkt unterhalb der Tür waren drei Stufen aus schiefrigem Basalt gebaut, die einen bequemen Abstieg ermöglichten. Jakob Driesch konnte hier herausgesprungen sein. Und wahrscheinlich war dieser Zugang sein Ziel gewesen, als er durch den Fluss rannte, um dem Killer zu entkommen. Viel hatte nicht gefehlt, dreißig Meter noch und er wäre in Sicherheit gewesen.

Ich wandte mich in den Raum zurück. Der Fußboden war aus Brettern gefertigt, keine Kiefernbretter, eher vom Alter abgedunkelte Buche oder Ulme. Die Wände des Raumes hatten auf jeden Fall schon bessere Zeiten gesehen. Sie waren irgendwann mal mit Tapeten beklebt gewesen, die dann wieder jemand aufgeweicht und abgezogen hatte. An einigen Stellen waren noch Reste zu sehen. Der schwarze Pilzbefall war vor allem in den unteren Partien der Wände erkennbar. Eindeutig: Der Raum war feucht, was bei der unmittelbaren Nähe des Wassers nicht weiter verwunderlich war. Im hinteren rechten Bereich des Raums war eine Nische mit einer Tür zur Toilette. Auch diese Tür hatte ein frisch geöltes Schloss.

Es ist ein erheiterndes Gefühl, sich selbst dabei zu erwischen, dass man intensiv einen Lokus betrachtet, als könne dieser Anblick des Rätsels Lösung bescheren.

Das Toilettenbecken war sauber, peinlich sauber. Der Sitz bestand aus hellbraunem Holz, ebenfalls sauber. Ich Hess mich auf die Knie nieder, um die Schraubenhaken der Befestigung abzutasten und anzuschauen. Sie waren verzinkt und neu, vor allem, sie waren sauber. Im Gegensatz zum Hauptraum war die Toilette gekalkt, es gab keinerlei Spuren an den Wänden. An der Tür war innen ein Garderobenhaken, neu.

Hinter mir hörte ich ein Geräusch.

Ein Mann stand sinnend vor den Wasserbetten. Er betrachtete mich eingehend und grinste dann. »Sind Sie Spezialist?«

»Ich bin einer der bekanntesten Lokusspezialisten der Eifel«, grinste ich zurück und stand wieder auf.

»Sie schreiben über die Geschichte?« Er war vielleicht vierzig Jahre alt, hatte ein offenes, schmales Gesicht unter aschblonden Haaren.

»Ich werde schreiben, aber erst dann, wenn wir wissen, wer es war. Wie sieht der Keller aus?«

»Vollkommen nass und leer. Nicht einmal Gerumpel.«

»Wie sind denn eigentlich diese scheußlichen Wasserbetten gefüllt worden?«

»Mit einem Schlauch aus einem Wasserhahn im ersten Stock. Und nun muss ich das Problem lösen, wie man das Wasser wieder rauskriegt. Haben Sie schon gehört, dass der Schwede in Monschau war, als Driesch starb?«

»Nein. Wer ist der Schwede?«

»Ein Lohnkiller. Man nennt ihn den Schweden, den wirklichen Namen weiß kein Mensch. Er soll schon im Kosovo gewirkt haben. Interpol sucht ihn seit drei Jahren. Er war hier.«

»Woher weiß man das?«

»Er hatte Zielfahnder auf den Hacken und kam von Stuttgart her. Die Fahnder haben ihn in Trier verloren und hier wieder gefunden. Das war an dem Montag nach der Tat. Wir hätten nie etwas davon erfahren, wenn nicht durch Zufall der Chef einen Fragebogen in der Post gefunden hätte. Der Schwede arbeitet mit Babysittern und dreifacher Motorisierung.«

»Können Sie das mal übersetzen?«

Er lächelte. »Man kann ihn über eine Agentur in Lausanne buchen, aber man muss einen Code kennen. Man bezahlt das volle Honorar im Voraus. Angeblich beträgt es hunderttausend Dollar und ist nicht verhandelbar. Aber das ist keine gesicherte Erkenntnis. Der Schwede geht mit drei Autos auf die Reise, die vollkommen gleich sind. Er selbst, drei Leute, drei Autos. Er fährt niemals selbst. Er geht das Ziel an und schiesst in der Regel aus einem der Autos. Er benutzt handgefertigte Langwaffen, kein Mensch weiß, wer ihm die baut. Wenn es erledigt ist, ziehen drei Autos los, in verschiedene Richtungen. Und damit es nicht so einfach ist, haben alle das gleiche Autokennzeichen. Wie gesagt, das sind aber alles keine gesicherten Erkenntnisse.«

»Wie haben ihn die Fahnder denn wieder finden können?«

»Der Campingplatz in der Perlenau. Da hat eines seiner Autos einen Wohnwagen geschrammt und der Fahrer hat sich entschuldigt und dem Wohnwagenbesitzer rund fünftausend Franken hingehalten, damit der sich nicht aufregt. Aber der Wohnwagenidiot hat sich trotzdem aufgeregt und die Bullen gerufen. Und als die kamen, war der Kerl weg. Daher wissen wir das.«

»Und diese Zielfahnder haben ihn wieder verloren?«

»So ist es. Aber es könnte passen, wenn man davon ausgeht, dass Driesch durch die Windenergie enorm gefährlich war.«

»Aber dann doch nicht mit einer Winchester und gleich zweimal innerhalb von dreißig Minuten.«

Er starrte sinnend zu Boden. »Ja, Sie sagen es.« Dann setzte er hinzu: »Einige Kolleginnen und Kollegen geben zu bedenken, dass die Tarnung so beinahe perfekt ist. Scheinbar sinnlose Schießerei auf der Straße, Jagd durch den Fluss, erneute Schießerei, dann Tod. Perfekt getimt, perfekt durchgeführt, perfekte Verbergung des Motivs. Wenn es der Schwede war, dann ist er der absolute Meister.«

»Und wer hat dann die hunderttausend Dollar gezahlt?«

»Der, der Drieschs Tod wollte.«

»Mich erinnern solche Überlegungen immer an abenteuerlustige Männer in einem Thriller. Alles ist perfekt geplant, alles ist perfekt durchgeführt. Und trotzdem gibt es dann ein gutes Ende, der Schwede wird von einem erzkatholischen, sehr sozial fühlenden Helden mit Hilfe eines dreißigschüssigen Feuerstoßes ins Jenseits befördert.«

»Da ist was dran«, gab der Mann zu. »Ich finde es tröstlich, dass die meisten Menschen das als Abenteuer empfinden, was sich irgendein verrückter Drehbuchautor für einen Fernsehsender ausgedacht hat. Die meisten haben keine Ahnung, dass es solche Fälle real gibt. Normalerweise nicht in der Eifel, da stimme ich Ihnen zu, aber eben in den Stadtmolochen dieser Zeit, im Ruhrgebiet, in Frankfurt, in Berlin. Und immer werden die Zeitungsleser denken: Das hat sich der Schreiber aber klasse ausgedacht. Wenn es der Schwede war, werden wir den Fall in diesem Leben nicht mehr lösen. Das steht fest.«

»Wie ist denn Ihre Überlegung: Wie ist Driesch gestorben?«

»Elend gejagt. Und er hat es mindestens vierzig Minuten lang gewusst. Er hat sich elend zu Tode gehechelt.«

»Und warum hat er nicht geschrien?«

»Wahrscheinlich konnte er vor Entsetzen nicht schreien. Wahrscheinlich hatte er dazu gar keine Luft.«

»Lässt das einen Rückschluss auf den Täter zu?«

»Nein, wieso?« Er sah mich ein wenig verwirrt an.

»Wenn er vor Entsetzen nicht hat schreien können, dann möglicherweise auch deshalb, weil der Täter so gänzlich unglaublich war. Das meine ich.«

Er überlegte und nickte. Dann sagte er unvermittelt: »Und wie kriege ich jetzt diese Scheißwasserbetten geleert?«

»An die Tür damit und in den Bach ausleeren.«

»Das könnte gehen«, sagte er.

»Noch eine Frage. Hier waren Wolldecken, hat Kischkewitz gesagt. Ist denn die Untersuchung schon abgeschlossen?«

»Die erste Grobuntersuchung ja. Danach zu urteilen hat hier heftiger Geschlechtsverkehr stattgefunden. Sehr oft.«

Ich musste grinsen. »Also nix mit dem Schweden, nix mit dem perfekten Thriller. Eher eine miese geschlechtliche Unterkunft.«

»Moment, Moment, junger Mann«, sagte er. »Das muss nicht von Driesch kommen. Es ist wahrscheinlich, dass er hier war, aber nicht oft. Vielleicht war er nur ein- oder zweimal hier. Das Sperma muss nicht sein Sperma sein. Das werden wir feststellen. Das ist die geringste Übung.«

»Wie kommen Sie auf die Idee, dass Driesch nicht öfter hier war?«

»Weil es nicht passt«, antwortete er. »Es passt nicht, die Wolldecken mit dem Sperma passen nicht zu Driesch.«

»Das klingt so, als wollten Sie ihn verteidigen.«

Er seufzte. »Ja, das klingt so und es ist auch ein bisschen so. Wir suchen ja nicht nur den Mörder, wir versuchen uns erst einmal ein Bild von dem Opfer zu machen. Zu Driesch passt das alles hier nicht.«

»Was sagt denn Anna Driesch zu dieser Bleibe?«

»Nichts. Sie weiß noch nichts davon. Erst einmal müssen wir abklären, was diese Bleibe mit Driesch zu tun hatte.«

Draußen war tiefe Nacht. Die Kommission hatte ein paar Fluter in die Behausung gestellt, deren Licht grellweiß war und störend.

»Wo sind denn die Putzmittel für den Lokus?«, fragte ich.

»Putzmittel? Ach so, WC-Reiniger und so was. Das meinen Sie? Diese Haushaltssachen? Da war nichts.«

»Da war nichts?«, fragte ich verblüfft.

»Gar nichts«, wiederholte er. »Vielleicht sollte ich mir einen Schlauch besorgen, um das Wasser aus diesen elenden Wasserbetten herauszukriegen.«

»Aber wieso war da nichts? Der Lokus ist blitzsauber, alles im Lokus ist blitzsauber.«

»Ich weiß es wirklich nicht«, murmelte der Mann, von dem ich nicht wusste, wie er hieß, uninteressiert. Er dachte offensichtlich verstärkt über sein Wasserbetten-Problem nach.

Vor der Lokustür war eine glatte Wand. Also nachsehen, die Wanddicke vergleichen. Zurück in den Flur vor das stumpfe Ende des Flurs neben der Treppe.

Dann zurück in den Raum mit den Wasserbetten, schrittweises Ausmessen. Etwa vier große Schritte bis zur Öffnung der Nische. Im Flur waren es weniger als drei Schritte. Die Wand musste also mehr als einen Meter zwanzig dick sein. Das war unmöglich, vollkommen unsinnig.

»Hi«, sagte Emma gut gelaunt. Sie lächelte mich an. »Ich konnte nicht schlafen und Rodenstock schnarcht. Da dachte ich: Baumeister kraucht hier herum und fühlt sich wahrscheinlich ekelhaft, weil er das Rätsel nicht lösen kann.« Sie trug einen dunkelblauen Trainingsanzug, der nach Luxus aussah und wahrscheinlich noch niemals eine sportliche Bewegung seiner Trägerin erlebt hatte.

»Komm her«, rief ich hocherfreut. »Ich zeige dir ein hausfrauliches Rätsel.« Ich nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zu der Toilette. »Da, frisch geputzt, nicht sauber, sondern rein. Es gibt aber keine Putzmittel, keine Scheuerlappen, keine Schwämme. Gar nichts. Sieh dir mal den Boden an. Du kannst Spiegeleier drauf essen.«

»Was vermutest du?«

»Noch nichts. Aber es gibt noch ein Rätsel. Der Flur hinter der Haustür ist weniger als drei Meter lang. Die Wand hier im Zimmer ist aber mehr als vier Meter lang. Und die Wand neben dem Lokus hier zeigt nichts. Keine Tür, keinen Wandschrank. Nichts.«

»Und im Hausflur?« Sie lief dorthin und stellte sich vor die Wand. Das Licht eines Fluters schien grell und ich drehte ihn herum. Sofort wurde das Licht weicher und die Wandfläche klarer, die scharfen Lichtreflexe verschwanden.

»Da ist eine Falte«, erklärte Emma. »Und hier ist ein Schlüsselloch.« Sie tastete auf der Wand herum. »Das ist zwar verputzt wie die Wand, aber das ist Holz. Kischkewitz wird verrückt, wenn er das sieht. Seine Leute haben das nicht gefunden, sie haben es übersehen, weil das hier nicht zu erwarten war. O Gott, das gibt Krach. Hast du ein Messer oder so was?«

Ich gab ihr mein Taschenmesser.

»Siehst du hier die Ritze? Da stösst das Holz an die Steine. Das ganze Ding ist nichts anderes als ein Schrank.« Sie versenkte die Messerklinge in dem Schlitz und murmelte: »Hol mal Kischkewitz. Er wird toben, aber er kann von Glück sagen, dass dir der unanständig saubere Lokus aufgefallen ist. Hol ihn her.«

Ich ging vor das Haus und fand Kischkewitz an der niedrigen Basaltmauer über dem Laufenbach. Er rauchte eine Zigarre, und nach der Bauchbinde zu urteilen, war sie ein Geschenk Rodenstocks.

»Ich habe etwas für dich«, begann ich vorsichtig. »Die Fluter sind so grell, dass es niemandem auffiel.«

»Was denn?«

»Ein Wandschrank«, sagte ich. »Im Flur.«

Er fuhr herum, als habe ihm jemand eine Nadel in den Hintern gestoßen. »Wandschrank? Was für ein Wandschrank?«

»Reg dich nicht auf, komm einfach mit.«

Er kam hinter mir her und starrte dann verwirrt auf Emma, die freundlich lächelte: »Reiß niemandem den Kopf ab, Kischkewitz. Baumeister hat es entdeckt, weil er der Ansicht war, dass der Flur hier entschieden zu kurz ist.«

»Aber meine Leute haben mit Maßband gearbeitet, genaue Zeichnungen angefertigt. Es muss ihnen aufgefallen sein.« Er drehte sich abrupt um und brüllte: »Stavros und Angela. Zu mir. Aber dalli!« Er war außer sich.

Angela tauchte als Erste auf. Sie war vielleicht fünfundzwanzig und auf eine eigenwillige Weise hübsch.

»Bleib stehen«, schnauzte Kischkewitz. »Bleib stehen und rühr dich nicht. Und Stavros? Ah, da kommt er ja, der Traum aller Disco-Tänzerinnen. Stell dich da neben Angela, junger Mann.«

Stavros war etwa zwanzig Jahre alt und wirkte wie ein griechischer Gott, ohne Fehl und Makel. Und er grinste, als läge ihm die Welt pausenlos zu Füßen.

»Ich erkläre es nur einmal«, begann Kischkewitz. »Wir sind hier reingezogen mit der Prämisse, das hier ist ein Tatort. Ihr hattet die Aufgabe, die genauen Maße der Wohnung zu nehmen und dann eine entsprechende Zeichnung anzufertigen. Das habt ihr gemacht, nicht wahr?«

»Sicher, Chef«, nickte Stavros freundlich, als wollte er sagen: Alter Mann, sag mir, was du für einen Kummer hast.

Angela ahnte die Gefahr und schwieg, wobei sie ihre Fußspitzen betrachtete.

»Nun gut«, sagte Kischkewitz. »Wir sind hier schließlich keine Klasse für angehende Architekten, wir haben eine andere Aufgabe. Und die Aufgabe besteht darin, eventuelle Unstimmigkeiten festzustellen, um Lösungen für ein Problem zu finden. Stimmt ihr mir zu?«

»Ja, Chef«, bestätigte Stavros, immer noch im Stande der Unschuld.

Angela nickte nur.

»Gut. Baumeister hier, der bekanntlich Journalist ist und eigentlich keine Ahnung von Tatorten hat, hat etwas sehr Bedeutendes herausgefunden, nachdem er eine runde halbe Stunde hier drin war. Er fand nämlich heraus, dass hier in dieser Wand ein Wandschrank sein muss. Da, genau da. Seht ihr das, liebe Kinderchen? Ist euch klar, was das heißt?«

Stavros war wahrscheinlich übermüdet und konnte infolgedessen auf gewisse Teile seines Hirns nicht zurückgreifen. Er strahlte: »Ja, Chef, da wird was drin sein.«

»O Gott, du Arsch«, hauchte Angela. Sie hatte ein totenblasses Gesicht.

»Weshalb darfst du in dieser Kommission hospitieren?«, fragte Kischkewitz.

»Weil ich etwas lernen möchte. Ich will in die Mordkommission.« Stavros' Strahlen hatte etwas von seinem Glanz eingebüßt.

»Richtig«, sagte Kischkewitz plötzlich ganz kühl. »Ihr packt beide eure Sachen und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ihr fahrt zurück und meldet euch bei eurem Behördenleiter.«

Angela fing an zu weinen, Stavros war verblüfft. »Aber wieso denn, Chef? Gut, wir hätten das finden müssen, aber nun ist es doch gefunden, oder?«

Angela platzte. »Du bist wirklich ein hirnloses Arschloch«, sagte sie heftig. »Wenn wir es gefunden hätten, dann wären jetzt vielleicht viele Fragen beantwortet. Seit Stunden beantwortet, du taube Nuss.«

»Ach so«, murmelte Stavros.

»Haut ab«, sagte Kischkewitz unerbittlich. »Und kommt mir nicht mehr unter die Augen, bis ihr in Pension geht.«

Sie drehten sich um und gingen.

»Das ist der Nachwuchs«, seufzte Kischkewitz. »Jung, strahlend und dämlich. Jonny? Jonny, komm mal her. Mach mir den Schrank auf.«