Drittes Kapitel
Irgendwann schlief ich auf Andreas Sofa ein und irgendwann wurde ich wieder wach. Es war Nacht, das Haus war unheimlich ruhig. Ich rekonstruierte, dass es die Nacht von Donnerstag auf Freitag sein musste, und verspürte eine enorme Unrast. Ich zog mich an, tastete mich durch den Flur, umrundete das Haus, um auf meinen Hof zu gelangen. Die Haustür stand offen.
Sofort waren meine Katzen bei mir. Ich beruhigte sie, streichelte ihre Rücken und sprach mit ihnen. Der Dreck war unbeschreiblich, das Wasser stand noch immer zehn bis fünfzehn Zentimeter hoch in jedem Raum. Ich versuchte in das Bad hineinzukommen. Das erwies sich als schwierig, denn die Farmacell-Platten an der Decke hatten dem Wasserdruck nicht standhalten können und waren heruntergebrochen. Ich pinkelte und wollte die Spülung betätigen. Das ging natürlich nicht, jemand hatte den Haupthahn abgestellt.
In meinem Arbeitszimmer begann ich die Pfeifen einzusammeln. Das dauerte eine gute halbe Stunde. Und erst jetzt schaute ich auf die Uhr. Es war sechs Uhr und draußen zog Nebel auf. Ich fand Tabakdosen, in denen der Tabak trocken geblieben war. Ich nahm die langstielige Jeantet und putzte sie an der Hose ab. Dann stopfte ich sie und zündete sie an. Es war ein Genuss. Adieu Jakob Driesch, adieu Annette von Hülsdonk. Keine Zeit mehr für eure Leichen und euer Leben. Ich bin abgebrannt und muss mich kümmern.
Ich ging hinunter in die Küche, suchte eine große Schale und packte sie voll mit Katzenfutter.
»Ihr dürft in meinem Zimmer fressen!«, versprach ich. Und sie begleiteten mich und machten sich dann über ihren Fraß her. Sie schnurrten.
»Wir bauen diese Hütte wieder auf!«, erklärte ich ihnen. »Und es wird schöner, als es je war. Ich errichte euch das Katzenparadies.«
Ich hatte nicht viel Zeit, mich von dem Haus zu verabschieden, das einmal meines gewesen war. Die Versicherungen meldeten sich und damit traten Sachverständige in mein Leben, die mich vierundzwanzig Stunden lang misstrauisch beäugten, sich aber durchaus als vernunftbegabte Wesen erwiesen und in Grenzen bereit waren, mit entgegenzukommen. Ganz nebenbei besichtigte ich die Wohnung über der von Ute und Alwin in Deudesfeld, befand sie für gut und bezog sie, soweit ich mit dem Rest meiner Existenz umziehen konnte. Der Inventarversicherer versicherte mir, ich dürfte mir durchaus ein Bett, ein Sofa und Ähnliches kaufen – wenn es denn nicht gerade antike Stückchen aus der Zeit Ludwigs XIV. sein würden, wäre seine Gesellschaft diesbezüglich durchaus menschlich. Rund siebentausend Bücher waren dahin, und als ich sie in den Container beförderte, tränten mir die Augen.
Am Samstag wollte ich dann so richtig loslegen, meine neue Wohnung ausmessen, Regale anbringen, provisorische Lampen aufhängen, über einen neuen Computer nachdenken und dergleichen Kleinigkeiten mehr. Aber Rodenstock hatte entschieden etwas gegen derartige Formen von Egoismus.
Morgens um neun Uhr warf er mich aus meinem frisch gekauften Pfuhl und seine Stimme hatte etwas von den Glocken des Jüngsten Gerichts. »Ich denke, wir haben zumindest einen Mörder – den von Annette von Hülsdonk. Und jetzt schwing dich in deine Karre und komm hierher. Du musst durch Hellenthal durch Richtung Wildpark. Auf der rechten Seite geht von einem Parkplatz aus ein Waldweg hoch. Du erreichst ein Plateau. Da steht ein kleines Haus. Und da sind wir.«
»Wer wir?«
»Na ja, Kischkewitz und ich und ein paar seiner Leute.«
»Und was soll ich da?«
»Hörst du schlecht? Annette von Hülsdonks Mörder hat sich dort verschanzt. Der Junge hat einen Haufen Waffen – weiß der Himmel woher. Also, komm schon.«
»Lass mich raten. Es ist dieser Freund von ihr, Bastian oder Sebastian.«
»Woher weißt du das?«
»Ein Kollege erzählte von ihm. Ich komme.«
Ich sagte also meiner frisch bezogenen Wohnung ade und fand die Aussicht, das Chaos wenigstens vorübergehend zu vergessen, sehr angenehm. Doch ich geriet in Schwierigkeiten, weil Deudesfeld eben nicht Brück ist und weil ich nicht genau wusste, wie ich von dort schnellstmöglich nach Hellenthal kam. Ich entschied mich für Schutz, Niederstadtfeld, Oberstadtfeld, Neroth und Pelm. Dann über die Kasselburg Richtung Junkerath.
Was mich jetzt doch erheblich störte, war die Tatsache, dass ich stank. Man soll nach einem Brand zumindest versuchen, unter eine Dusche zu kommen. Ich trug seit mindestens drei Tagen und Nächten dieselbe Kleidung. Was macht man in Zeiten akuter Jeansnot und geradezu hochpeinlichem Mangel an frischen Unterhosen?
Ich fuhr schnell, auf den Straßen war es leer. Sicherheitshalber hatte ich sämtliche Scheinwerfer hochgeschaltet und wirkte wahrscheinlich wie ein wahnsinnig gewordener Weihnachtsbaum.
Als ich aus dem Wald hinaus auf die Hochfläche gelangte, sah ich rechts hinter den ersten Bäumen die Autos stehen. Ich schaltete die Scheinwerfer aus und fuhr dorthin.
Kischkewitz und Rodenstock saßen auf zwei alten Baumstümpfen und schienen sich gemütlich zu unterhalten.
»Er hat keine Chance«, erklärte Kischkewitz und wies hinaus auf die Wiesenfläche, die sehr groß war. Inmitten dieser Fläche stand ein kleines Haus. Eigentlich war es kein Haus, es hatte wohl mal als Scheune gedient und jemand hatte Fensteröffnungen hineingebrochen und sich das Gemäuer eingerichtet. Es gab keinerlei Deckung auf dem Weg dorthin, nur die Wiese, und die war gemäht.
»Und was ist hinter dem Haus?«, fragte ich.
»Wiese«, sagte Rodenstock einfach. »Da liegen Leute von uns auf dem Bauch. Rechts und links auch. Ein Beamter hat schon einen satten Streifschuss abbekommen. Der Junge hat teuflisch gute Augen und er schießt sehr präzise.«
»Was hat er für Waffen?«
»Das wissen wir nicht genau. Mit Sicherheit ein Gewehr, wahrscheinlich eine Schrotbüchse und zwei oder drei Revolver und – möglicherweise – sogar eine Maschinenpistole.«
»Woher wisst ihr das alles?«
»Von dem Bauern, dem die Scheune ursprünglich gehörte. Er hat sie dem Vater des Jungen verkauft. Und der hat seinem Sohn erlaubt, sich das Häuschen auszubauen. Der Bauer hat den Jungen mehrere Male dabei beobachtet, wie er mit verschiedenen Waffen Schießübungen veranstaltet hat.«
»Und warum sollte er Annette umgebracht haben?«
Eine Weile herrschte Schweigen.
Dann riskierte Rodenstock eine Überlegung, eine gute Überlegung. »Ich denke, Annette und er waren fast ein Leben lang eng befreundet und sie haben sich oft in diesem Haus getroffen, Kerzen angezündet, Wein getrunken. Das erzählt der Bauer und es gibt daran keinen Zweifel. Ob die Beziehung derart war, dass sie miteinander geschlafen haben, das wissen wir natürlich nicht; der Bauer glaubt es. Ich denke, Bastian hat in der letzten Zeit erleben müssen, dass ihm diese Frau entglitt. Sein Vater hat uns heute Morgen erklärt, dass Bastian nicht damit fertig wurde, dass Annette sich zunehmend mit Dingen beschäftigte, von denen er keine Ahnung hatte und die er nicht verstand. Also Windkraftanlagen, die Gründung eines eigenen Hotels. Und Bastian gönnte Annette keinem. Es gibt Zeugen dafür, dass Annette ihm gesagt hat, sie habe in Zukunft nicht mehr so viel Zeit für ihn. Da ist wohl seine Welt zusammengebrochen. Also hat er sie erschossen. Er hat sie bestraft, verstehst du?«
»Das ist eine Möglichkeit. Aber was ist mit Driesch?«
»Ich habe darüber nachgedacht«, meinte Kischkewitz. »Und ich komme zu dem Schluss, dass Bastian sehr wohl auch hier der Täter gewesen sein kann. Die Begründung geht in die gleiche Richtung wie Rodenstocks Überlegung. Bastian muss erleben, dass Driesch und Annette an diesem Windrad-Projekt arbeiten. Er ist davon ausgeschlossen, er darf nicht mitmachen. Driesch ist also ein Feind. Bastian beginnt Driesch zu hassen. Und er jagt ihn, bis er ihn erschießen kann.«
»Aber wie soll dieser Junge nach Monschau gekommen sein?«, fragte ich und schloss sofort an: »Wie alt ist er überhaupt?«
»Er ist achtundzwanzig«, gab Kischkewitz Auskunft. »Er hat einen Führerschein und besitzt einen kleinen Opel und ein Motorrad.«
»Wie bist du denn mit deinen Leuten hierher gekommen? Hat dich jemand geholt?«
Kischkewitz schüttelte den Kopf. »Ich wollte ihn wegen Annette verhören. Zu Hause war er nicht, sein Vater sagte, er sei wahrscheinlich hier. Hätte er gewartet, bis er uns in Kimme und Korn hatte, wären zwei von uns schon tot gewesen, ehe wir überhaupt geschnallt hätten, was hier läuft. Er hat einen Warnschuss abgegeben. Als wir nicht sofort reagierten, hat er einen meiner Männer am Oberschenkel getroffen.«
»Warum holt ihr nicht den Vater?«, fragte ich.
»Unmöglich«, sagte Rodenstock langsam. »Ganz unmöglich. Der Mann würde wahrscheinlich durchdrehen und auf das Haus zulaufen. Und sein Sohn würde möglicherweise schießen. Sicher sogar, denn er glaubt, dass sein Leben jetzt sinnlos ist. Annette, seine Annette ist tot.«
»Und wenn er sich selbst tötet?«
Kischkewitz ließ ein Stöhnen hören. »Genau das macht uns Sorgen. Er wird versuchen, ein paar von uns zu erwischen, um sich dann selbst zu richten.«
»Das befürchte ich auch«, nickte Rodenstock. »Selbst wenn wir gleichzeitig von allen vier Seiten kommen, wird Bastian Unheil anrichten, genug Unheil für zwei oder drei von uns.«
»Ganz allein gegen die Welt«, murmelte ich.
Kischkewitz hielt ein Walkie-Talkie vor den Mund und sagte: »Ganz ruhig, Leute. Und wenn jemand eine Idee hat, dann her damit.«
Niemand antwortete.
»Hat der Vater die Waffen erwähnt?«
»Nein. Wir haben nur wenige Minuten mit ihm gesprochen. Wir wussten da ja noch nicht, dass sich der Junge verbarrikadiert.« Kischkewitz zündete sich einen langen, dünnen Zigarillo an und erzählte weiter: »Bastian war zwei Jahre in psychiatrischer Behandlung, damals nach dem schweren Unfall. Er musste über die Behinderung hinwegkommen, wieder sprechen lernen, mit den Lähmungserscheinungen fertig werden. Er wurde im Laufe der Jahre zum Einzelgänger, manchmal ist er aggressiv, er benimmt sich wie ein Angstbeißer. Nur Annette kam an ihn heran.«
Aus dem Walkie-Talkie tönte plötzlich plärrend die Stimme einer Frau. Sie sagte: »Die einfachste Möglichkeit ist die Bundeswehr.«
»Wie bitte?«, fragte ein Mann – ebenfalls über Funk – verblüfft.
Die Frau lachte trocken. »Wir setzen uns in einen Panzer und walzen die Hütte platt.« Pause. »Nein, nein, so brutal meine ich das nicht. Aber wir könnten dann am Haus in jeden toten Winkel kommen. Und ich denke, wir sollten anfangen, mit ihm zu reden, sonst schaukelt sich sein Erregungszustand immer weiter hoch. Wir sind jetzt fast zweieinhalb Stunden hier.«
»Gar nicht dumm«, sagte Kischkewitz. »Aber meiner Erfahrung nach würde ein solcher Einsatz viel zu lange dauern, weil niemand die Entscheidung treffen will, uns zu helfen. Die Bundeswehr ist schließlich auch ein Opfer der Bürokratie. Das können wir uns abschminken.«
»Wer immer die Frau ist, sie hat Recht. Ihr müsst mit ihm reden«, sagte ich.
Die Frau lachte wieder und Kischkewitz stellte sie vor: »Vera Kaufmann, Mitglied der Sonderkommission, abgestellt vom LKA Mainz, 31 Jahre alt, ledig. Ein wendiges Mädchen.«
»Wir müssen reden«, nickte nun auch Rodenstock. »Wir müssen versuchen, ihn zu retten.«
»Gibt es einen Gleichaltrigen im Dorf, der einen guten Kontakt zu ihm hat?«, fragte ich.
»Wissen wir nicht«, antwortete Kischkewitz. »Selbst wenn es einen gibt, können wir es nicht riskieren, den über diese endlos freie Fläche zum Haus laufen zu lassen.«
»Was ist mit einem Hubschrauber, Chef?«, fragte jemand. »Der kann senkrecht von oben kommen.«
»Ein Wahnsinnsaufwand.« Kischkewitz war nervös. »Dann schiebt Bastian ein paar Dachpfannen beiseite und feuert in den Tank. Nein, Leute, unmöglich.«
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, überlegte Rodenstock. »Wenn das Dorf erfährt, was hier gespielt wird, bekommen wir Zuschauer. Dann schaukelt sich die Situation hoch und kann sehr schnell außer Kontrolle geraten.«
»Ich gehe zu ihm«, sagte ich.
Kischkewitz wurde augenblicklich wütend. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Hier ist alles voller Kriminalisten und du als Außenstehender willst freiwillig in seine Schusslinie laufen. Geht nicht, Baumeister, wirklich nicht.«
»Ich gehe«, murmelte Rodenstock.
»Ist ja witzig«, polterte Kischkewitz. »Ausgerechnet der Rentner! Rodenstock, das geht nicht.«
»Das ist ja irre!«, rief die Frau begeistert. »Und was, wenn ich sage: Ich versuche es?«
Nun musste Kischkewitz lachen. »Dann haben wir eine Inflation. Aber das Problem ist doch: Wie kommen wir über diese verdammten zweihundert Meter Wiese, ohne erschossen zu werden?«
»Wie Siegfried mit der Tarnkappe«, erwiderte die Frau trocken. »Oder war das jemand anders?«
»Wie sind denn die Lichtverhältnisse auf den anderen drei Seiten?«, fragte ich.
»Gleich gut, gleich schlecht«, gab Kischkewitz zur Antwort.
»Und wo befindet sich der längste Anmarschweg?«
»Auf der anderen Seite. Mindestens dreihundert Meter freie Fläche.«
»Dann gehe ich von dort aus«, sagte ich. »Und fluch jetzt nicht rum, ich gehe. Ich bin sowieso abgebrannt.«
»Ich gehe mit«, entschied Rodenstock. »So ein bisschen abgebrannt bin ich schließlich auch.« Er sah Kischkewitz an. »Du kannst ja sagen, wir hätten es ohne deine Einwilligung getan. Und du kannst sagen, wir wären losgegangen, ohne dir vorher Bescheid zu geben.«
»Ihr seid meschugge!«, seufzte Kischkewitz.
»Das ist unser Vorteil«, grinste ich. »Ihr habt Glück, dass Emma nicht hier ist. Die würde glatt mit dem Fahrrad da rüberfahren. Ich habe noch einen Vorschlag. Wir sollten uns sehen lassen. Auf allen vier Seiten. Ganz offen auf der Wiese stehen und warten. Und keine Waffen zeigen. Er muss wissen, dass wir nicht feindselig sind.«
»Das ist gut«, sagte die Frau mit hoher Stimme. »Chef, das könnte gehen.«
»Diese Sonderkommission steht im Licht der Öffentlichkeit«, sagte Kischkewitz müde. »Wenn die BILD berichtet, dass ein Journalist und ein Polizeirentner das Ding für uns übernommen haben, bin ich fällig. Ich werde nach Labrador versetzt und darf Parksündern am Polarkreis Verwarnungen an die Scheibe kleben. Rodenstock, du bist unfair.«
Rodenstock lächelte matt. »Dann wollen wir mal.« Er nickte mir zu, stand von seinem Baumstamm auf und ging parallel zum Wiesenrand in den Wald hinein. Ich folgte ihm.
»Habt ihr euch schon über die eine Million Mark in bar erkundigt?«, fragte ich, als ich ihn eingeholt hatte.
»Haben wir. Drieschs Banken wissen nichts davon. Und seine Frau Anna weiß nichts davon. Keiner scheint den Hauch einer Ahnung zu haben, woher er das Geld hatte.«
»Aber der Vorgang an sich ist verifiziert? Ich meine, es ist nicht nur ein Gerücht, oder?«
»Nein, ist es nicht. Driesch ist tatsächlich nach Mallorca geflogen und hat dort eine Million Bares für den Kauf eines Hauses hingeblättert. Was glaubst du, wird er schießen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht sollten wir vorsichtshalber ein Heftpflaster mitnehmen.«
Der Tannenwald endete an einem alten Weg und ging dann in Mischwald über. Die Sonnenflecken auf dem Boden waren grell und ließen die Farne leuchten. Ein Eichelhäherpaar stob schimpfend davon. Das kleine Haus mit dem jungen Mann darin lag jetzt links von uns.
»Es kommt darauf an, was er aus unserer Körperhaltung liest«, murmelte der kluge Rodenstock. »Ich finde es gut, dass Emma nicht hier ist. Sie wollte ausschlafen. Sie hätte uns in Grund und Boden geredet und wäre allein losgegangen.«
»Richtig«, nickte ich. »Ich wollte dir noch sagen, dass ich dich jetzt verstehe.«
Er sah mich von der Seite an. »Das ist gut. Ich gebe zu, ich war vernagelt und ein bisschen dämlich. Es tut mir Leid.«
»Erledigt«, sagte ich.
Links von uns hockte ein Mann hinter einer Buschbirke. Er hatte einen Revolver in der rechten Hand und hob die linke, um uns zu grüßen.
»Wir haben immer noch keine Ahnung, was Jakob Driesch neun Stunden lang getrieben hat.« Rodenstock wandte sich jetzt nach links, kam aus dem Wald heraus und ging in die Wiese hinein.
Von diesem Punkt aus war das kleine Haus sicher mehr als dreihundert Meter entfernt. Wir konnten nur das Dach sehen, weil wir uns in einer Geländefalte befanden.
»Des Rätsels Lösung wird einfach sein«, sagte ich. »Rätsel sind meistens einfach, wenn sie gelöst sind.« Es war eine dieser dümmlichen Bemerkungen, die man nur macht, wenn man in heller Aufregung irgendetwas plappert, ohne über den Inhalt nachzudenken.
»Was sagen deine Versicherungen?«, fragte Rodenstock, als ob es im Moment nichts Wichtigeres gäbe.
»Die Kripo hat den Bau freigegeben, die Versicherungen haben signalisiert, dass sie zahlen werden. Aha, die Dame namens Vera.«
Die Frau saß im Gras hinter einem krüppeligen Weißdorn, der die Höhe von einem Meter noch nicht erreicht hatte. Sie hatte die Waffe neben sich liegen und daneben eine Schachtel Marlboro mit einem Feuerzeug und ein Päckchen Kaugummi.
»Hallo«, sagte sie. »Nehmen Sie Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee? Kaffee? Ein paar belegte Brote vielleicht?«
»Kaviar mit gehackten harten Eiern«, sagte ich. »Und bitte einen Chablis dazu und altbackenes Weißbrot.«
»Kommt sofort«, lächelte sie.
Sie war schlank, vielleicht 170 Zentimeter groß, hatte die dunkelbraunen Haare zu einem Dutt geformt. Ihr Gesicht war schmal mit hohen Jochbögen. Sie trug eine Brille mit großen Gläsern und wirkte sachlich. Ihre Kleidung bestand aus einem T-Shirt in Weiß mit irgendeinem nicht erkennbaren Aufdruck, einer leichten Jeansjacke, hellblauen Jeans über weißen Turnschuhen – sehr zweckmäßig das Ganze, sehr angepasst. Ihre Stimme war angenehm dunkel, kein Hauch von Makeup, ein großes, sympathisches Mädchen.
»Ich denke, ich gehe mit«, erklärte sie. »Einer von uns muss mit. Das wäre Punkt Nummer eins. Punkt Nummer zwei ist, dass wir vielleicht in einem seitlichen Abstand von etwa zwei Metern gehen. Wenn er schießt, muss er die Waffe bewegen, um zu einem zweiten Schuss zu kommen. Einverstanden?«
Rodenstock nickte und kauerte sich hin. »Es ist besser, wenn wir gleich Abstand voneinander halten. Das macht die Sache für Bastian schwieriger, wenn er schießen will.«
Sie zog ein Walkie-Talkie aus der Brusttasche ihrer Jeansjacke. Sie sagte: »Chef, wir haben beschlossen, ich gehe mit.«
»Das ist ja sehr demokratisch«, schimpfte Kischkewitz. »Sind wir schon so weit gekommen, dass Untergebene einfach selbst entscheiden, ob sie Selbstmord begehen wollen?« Er lachte unterdrückt. »Okay, geh mit ihnen, Mädchen. Und Nerven behalten.«
»Danke«, meinte sie. »Soll ich die Waffe mitnehmen?«
»Nein«, sagte Rodenstock. »Keine Waffen. Er muss sehen, dass wir keine haben. Jacken ausziehen.«
Wir standen auf. Vera ging in der Mitte, Rodenstock links, ich rechts von ihr. Wir hatten etwa dreihundert Meter vor uns und kamen von Westen. Die Sonne schien unangenehm grell von rechts, aber als vertrauensbildende Maßnahme war das sicher gut. Falls Bastian ein Fernglas hatte – und er besaß todsicher eines –, konnte er uns blinzeln sehen und jeden Knopf an unseren Hemden erkennen.
»Wenn er schießt, wird er es ab etwa einhundert Meter Distanz tun«, sagte Rodenstock seltsam heiter. »Wenigstens würde ich es so machen. Er wird nicht das Risiko eines Fehlschusses eingehen. Also, gute Nacht allerseits.«
Ich wurde etwas langsamer, nahm meinen Tabaksbeutel aus der Tasche und aus der anderen eine Pfeife von Vauen, die Barontini entworfen hatte. Ich stopfte sie und zündete sie gründlich an.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Vera links von mir. Ich konnte den Schweiß auf ihrem Gesicht sehen und ihre Handbewegungen waren fahrig, als sie eine Zigarettenschachtel aus der Tasche zog und sich eine anzündete.
»Ich habe leider keine Zigarre bei mir«, brummte Rodenstock. »Ausgerechnet heute wollte ich mal gesund leben.«
»Es ist nie zu spät«, murmelte ich. »Wer fängt denn an?«
»Lass mich das machen«, antwortete Rodenstock. »Ich bin der Typ gütiger Großvater. Wenn ich stehen bleibe, bleibt ihr auch stehen. Und nicht verkrampfen, bloß nicht verkrampfen. Wir sind jetzt etwa auf zweihundert Meter, wir gehen weiter bis auf die Hälfte der Distanz. Wir brauchen eine Distanz, aus der er einen sicheren Schuss landen kann. Das macht ihn selbstsicher, das gibt ihm mehr Macht.«
»Gute Idee«, wiederholte Vera. »Nur hoffe ich sehr, dass Bastian das auch honoriert. Ich habe eine Scheißangst um mein junges, blühendes Leben. Und meinen Eltern konnte ich auch nicht auf Wiedersehen im Jenseits zujubeln. Was zum Teufel suche ich bloß in dieser blöden Kommission?«
»Das wahre Leben, die menschliche Würde und eine nahezu phantastische Kameradschaft«, schlug ich vor.
Rodenstock lachte und gleichzeitig verringerte er die Geschwindigkeit. Wir passten uns an, wir schlenderten nur noch und schwätzten miteinander, als würden wir uns auf einem gemütlichen Spaziergang befinden.
»Daran denken«, murmelte Vera, »zur Seite fallen lassen, nicht nach vorn.«
»Da spricht die Fachfrau«, bemerkte ich. »Rodenstock, lass dich zur Seite fallen, wenn ich erschossen werde. Und richte Emma liebe Grüße aus und sag ihr, ich sei relativ mutig in meinen Untergang geschritten. Oder heißt das gewandelt?«
»Ich besaufe mich, wenn ich das hier überlebe«, murmelte Vera.
»Ich schließe mich an«, nickte Rodenstock. »Ich bemerke gerade, dass er von hier aus gesehen am linken Fenster steht. Er hat ein Fernglas vor den Augen, manchmal blitzt das auf. Seht ihr es?«
»Ja«, bestätigte Vera.
»Aufpassen jetzt, wir sollten stehen bleiben.« Rodenstock hielt inne. Vera sog nervös an ihrer Zigarette und sah zu mir herüber.
»Bastian!«, sagte Rodenstock laut. »Mein Name ist Rodenstock und ich könnte dein Großvater sein. Wir wollen dich bitten, mit uns zu reden. Kannst du mich verstehen?«
Keine Antwort, Totenstille.
»Wir sind nicht bewaffnet, Bastian. Die junge Frau rechts von mir ist Vera, eine Kriminalbeamtin. Der Mann neben ihr heißt Baumeister und ist ein Journalist. Tust du uns den Gefallen und redest du mit uns?«
Keine Antwort.
»Wir haben keine Tricks drauf, wir wollen wirklich nur reden und dann wieder gehen. Niemand wird dir deine Entscheidung abnehmen, niemand wird dich zu irgendetwas zwingen. Kannst du mich verstehen, Bastian?«
Hoffentlich erwähnt er Annette nicht, dachte ich. Der Pfeifenkopf war unerträglich heiß geworden, weil ich wie ein Baby zu heftig daran nuckelte. Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, dass sich Vera neben mir erneut eine Zigarette anzündete. Und ich registrierte, dass sie sich zu ganz langsamen Bewegungen zwang. Es wirkte absurd und komisch.
»Du kannst mit uns dreien reden. Oder mit einem von uns.«
Um Gottes willen, Rodenstock, erwähne die Tote nicht!
»Willst du mit Vera reden, Bastian?«
Keine Antwort.
Es war so still, dass wir den sanften Wind in den weit entfernten Bäumen hören konnten.
Rodenstock spielte dem Mann nichts vor, Rodenstock wurde sauer. »Ich habe angenommen, dass du wenigstens höflich genug bist, zu antworten. Du machst hier einen Narren aus mir und das habe ich nicht verdient. Ich warte, Bastian. Aber ich warte nicht mehr lange.«
»Und was passiert, wenn du lange genug gewartet hast?« Die Stimme klang voll und nicht im Geringsten unsicher.
»Dann drehen wir uns um und gehen wieder.«
»Und dann?«
»Dann ... na ja, dann wird ein Panzer der Bundeswehr kommen. Ein Räumpanzer, du weißt sicher, was das ist. Er räumt dich und dein Haus weg und es wird so sein, als hätte es das nie gegeben.«
»Nicht schlecht, die Idee. Ich kann das Haus aber auch selbst abfackeln, ich brauche es sowieso nicht mehr.«
»Warum denn das?«, fragte Rodenstock verwundert.
»Ich dachte, der hat einen Sprachfehler«, murmelte ich.
»Nur noch, wenn er erregt ist«, flüsterte Vera. »Und im Augenblick ist er die Ruhe selbst.«
»Warum willst du das Haus abfackeln? Und warum brauchst du es nicht mehr?«
Wieder herrschte eine Weile Schweigen.
»Das ist eine andere Geschichte«, antwortete er endlich. »Ihr könnt euch das Maul fusselig reden, ich komme hier nicht raus. Und jeder, der reinkommt, ist tot.« Das kam sehr sachlich daher und niemand zweifelte an seinen Worten.
»Das ist doch Scheiße!«, brüllte ich wütend. »Du bist ein Affenarsch und hast keine Ahnung, wie sehr deine Eltern zittern. Sie sorgen sich um dich, sie haben sich um dich gesorgt, seit du lebst. Und du Arschloch glaubst, du bist der Mittelpunkt der Welt.«
»Glaube ich nicht«, sagte er ruhig. »Ich bin ziemlich unwichtig, ich bin sogar vollkommen unwichtig, nach mir kräht kein Hahn.«
»Er will sich umbringen«, hauchte Vera. »O Gott, das können wir nicht zulassen.«
Rodenstock sah zu mir herüber. »Heiz ihm ein, mach ihn fertig, verschweige nichts. Es hat ohnehin kaum noch Sinn.« Er sprach so lässig, als sei diese Krise gar nicht vorhanden.
»Also, hör zu«, begann ich. »Da ist eine Menge zu klären. Und ich will, verdammt noch mal, dass du uns wenigstens nicht am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Ja, ich kann mir vorstellen, dass du dich als den absoluten Helden siehst, den keiner versteht, mit dem keiner richtig redet und der mutterseelenallein gegen die Welt vorgehen muss. Du bist wirklich ein mieses Arschloch. Wahrscheinlich hast du sogar vor, dich selbst umzubringen. Und wahrscheinlich kommst du dir dabei auch wie ein Held vor. Du machst mich wütend.«
Er sagte nichts.
Ich sah durch die Fensterscheibe, dass er sich bewegte. Es machte den Eindruck, als schwanke sein Oberkörper hin und her. Aber das konnte eine Täuschung sein, eine Spiegelung.
»Und jetzt Annette!«, flüsterte Vera scharf.
Ich überlegte einen Augenblick. Annette war nicht mehr aus dem Spiel zu halten. Die Frage war nur: Sollte ich die Wahrheit sagen oder brachte ich besser einen Bluff?
Ich hatte keine Zeit, ich entschloss mich zu dem Bluff. Es gibt eine Form von Unterstellung, auf die nahezu jeder hereinfällt. Man tut ihm damit einen Gefallen, man liefert ihm Verständnis und gleichzeitig eine Entschuldigung für jeden Fehltritt.
»Reden wir von Annette, reden wir von deiner Heiligen. Ich will dich verstehen lernen, kapierst du das? Ich weiß, dass du in einem Blackout gehandelt hast. Ich weiß, dass es ein übermächtiger Zwang war. Aber spiel doch jetzt nicht den Coolen. Und mach uns vor allem nicht vor, dass das alles geplant war. Nichts war geplant, gar nichts.«
Ich machte eine Pause, dehnte sie bis zur Unerträglichkeit.
»Ich weiß auch, dass sie dich in der letzten Zeit schäbig behandelt hat. Würdest du bitte so höflich sein und mir wenigstens über Annette Auskunft geben? Dann verschwinde ich wieder, ich will nur die Wahrheit. Und du kannst tun und lassen, was du willst. Ich werde dich nicht einmal daran zu hindern versuchen, dich selbst umzulegen.«
Keine Reaktion.
Ich wollte gerade mit der Beschimpfung fortfahren und suchte nach Formulierungen, da sagte er: »Du kannst reinkommen. Aber allein und nur fünf Minuten. Und dann gehst du wieder.«
»Dann gehe ich wieder«, nickte ich.
»Viel Glück«, sagte Vera leise. »Das ist schon mal die halbe Miete.«
»Geh liebevoll mit ihm um«, gab mir Rodenstock mit auf den Weg.
Ich ging los und je näher ich dem Haus kam, umso mehr Furcht erfüllte mich. Bastian hatte nicht den geringsten Grund, mich zu schonen. Wahrscheinlich würde er mir all das sagen, was er sich seit vielen einsamen Stunden vorbetete. Dann würde er schießen.
Er machte die Tür einen Spalt weit auf. »Komm rein.«
Es roch nach irgendetwas, das ich kannte. Nach Vanille. Räucherstäbchen, das war es. Hinter mir wurde die Tür geschlossen.
»Du kannst dich da an den Tisch setzen«, befahl er.
Es gab zwei Stühle, einer stand unmittelbar rechts neben mir. Ich setzte mich. Der Tisch war alt, braunes Holz, eng gemasert, Eiche. Darauf eine Vase mit wilden Wiesenblumen, frisch gepflückt. Rechts neben der Vase ein Aschenbecher, bis zum Rand voll mit Zigarettenkippen. Nahe der Tischmitte ein Holz, das ein brennendes Räucherstäbchen hielt. Der Rauch kräuselte sich gegen die Decke. Rechts, etwa zwei Meter entfernt, ein Bett, französische Maße, ein Anderthalbbett, wie man in der Eifel sagt. Daneben ein kleines Tischchen mit vielen angebrannten Kerzen. Vor den Fenstern jeweils ein breites Brett. Bücher standen darauf, Dosen für irgendwelchen Krimskrams. Unter dem Fenster gegenüber lag eine doppelläufige Schrotflinte. Rechts vor dem Fenster stand eine Winchester – ob es eine 44er war, konnte ich nicht entscheiden, ich verstehe nicht genug davon. Links vor dem Fenster lag eine schwere automatische Waffe. Es musste eine Maschinenpistole sein. Das Fenster hinter mir konnte ich nicht sehen, ich wollte mich nicht herumdrehen.
»Warum hast du so viele Waffen? Wirst du bedroht?«
»Ich habe sie mal gesammelt. Da war ich jünger. Du weißt ja, wie das ist, wenn man jünger ist.« Seine Stimme klang angenehm.
»Ja, das weiß ich. War Annette oft hier? Es ist hübsch. Darf ich rauchen?«
»Ja klar, kein Problem. Was wollen die Bullen eigentlich?«
»Na ja, zuerst mal wollen sie mit dir sprechen. Rein informativ. Du kennst das ja. Das ist wie im Krimi. Du bist wichtig für sie, du hast Annette gut gekannt.«
»Ich bin der Einzige, der sie gut kannte.« Das klang stolz. »Ich bin überhaupt der Einzige, mit dem sie gelebt hat. Das war hier.« Er stand noch immer irgendwo hinter mir und rührte sich nicht.
»Wie lange ging das zwischen ihr und dir?«
»Jahre, viele Jahre. Seit ich denken kann. Kurz nach dem Unfall fing es an. Als ich aus der Reha kam und wieder zu Hause war.«
»Was war sie denn so für ein Mensch?«
»Sie war mein Mädchen.« Das kam schnell. »Sie hat immer gesagt, das Haus hier wäre der einzige Platz auf der Welt, an dem sie träumen kann. Dein Tabak riecht gut. Wie heißt der?«
»Der hat keinen Namen, ich mische ihn selbst.«
»Ich habe auch mal versucht, Pfeife zu rauchen. Das brannte so auf der Zunge, da habe ich es wieder gelassen.«
»Die meisten machen den Fehler, die Pfeife heißzurauchen. Dann brennt es auf der Zunge. Was habt ihr denn für Träume geträumt?«
»Bist du wirklich ein Journalist? Oder verarschst du mich?«
»Ich bin wirklich Journalist.«
»Warum hilfst du der Polizei?«
»Ich helfe ihr kaum, ich darf sie nur begleiten und dann drüber schreiben. Was waren das für Träume?«
»Was man so träumt. Piratenleben.«
»Piratenleben?«
»Na ja, was man als Junge so träumt. Später waren es andere Träume, d... d... d... da waren wir älter.« Irgendetwas regte ihn auf, er begann zu stottern. »S... s... sie hat mir gezeigt... wie eine Frau aussieht und so.«
»Du meinst, du hast sie nackt sehen dürfen?«
»Das meine ich.«
»War es eine Liebesgeschichte?«
»Ja, das war es.«
»Hat sie dich geküsst?«
»Ja, geküsst und alles.«
»Was heißt alles?«
»Alles eben. Streicheln und so.«
»Miteinander schlafen?«
»O nein, nein. Das wollten wir erst tun, wenn wir verheiratet sind. Später. Nur streicheln war.«
»Sag mal, Bastian, ich meine, du bist ein netter Kerl. Kannst du dich nicht hier an den Tisch setzen?«
»Und wenn sie kommen?«
»Sie kommen nicht. Ich verspreche es dir. Keine Tricks.« War er zurückgeblieben? Irgendwie debil? Ich fühlte mich hilflos.
Er kam langsam um den Tisch herum. Er hatte eine schwere Waffe in der Hand, blauschimmernd, langläubig »Was ist denn das für ein Ding?«
»Ein Neun-Millimeter-Colt. Ziemlich selten. Magst du Waffen?«
»Nein«, antwortete ich. »Waffen töten, ich mag sie nicht.«
Er setzte sich, legte den Colt auf den Tisch. Er nahm eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seines Hemdes. Es waren Lucky Strike. Er zündete sich eine an. Er hatte ein strenges, längliches Gesicht mit einer schweren Narbe auf der linken Stirnseite. Seine Augen waren erstaunlich hell und wirkten unter den dunkelbraunen Haaren wie Leuchtpunkte. Buch hatte von einem Engelsgesicht gesprochen. Das stimmte.
»Ich mag Waffen eigentlich auch nicht. Aber ich muss mich verteidigen.«
»Wieso denn das?«
»Das weißt du doch. Du weißt doch, weshalb.«
»Kannst du mir erzählen, wie das ablief? Oder warte, lass mich erst was anderes wissen: Warum hast du Driesch erschossen?« Friss es und erstick daran! Nein! Antworte!
»W... w... w... wieso? Was ... Ich meine, was fragst du? Ich? Den Driesch?« Er war erschrocken, verwirrt, er begriff meine Frage nicht.
Ich fühlte so etwas wie Erleichterung. »Siehst du, ich wusste doch, dass du nichts damit zu tun hast. Was hast du denn gedacht, als du gehört hast, dass Driesch erschossen worden ist?«
»Gedacht? Na ja, ich hab die Zeitung mit hierher genommen und immer wieder gelesen. In der Rur erschossen, in Monschau. Das kenne ich, da bin ich oft zum Eisessen. Im Sommer. Da war ich auch mit Annette. Mit ihrem VW-Cabrio. Schöne alte Stadt.«
»Das stimmt, Bastian. Aber was hast du gedacht, als du das von Driesch gelesen hast?«
»Na ja, ich hab gedacht: Endlich hat ihn Gottvater bestraft.«
Religiöser Wahn? Wie sieht das aus? Lieber alter Mann, steh mir bei, ich kenne meine nächste Frage nicht. »Weshalb soll Gottvater denn den Driesch bestraft haben?«
»Driesch machte doch diese Windrad-Dinge. Und er nahm Annette einfach mit. Hat mich nicht gefragt.«
»Was hat Annette denn darüber gesagt?«
»Sie hat gesagt, Driesch will, dass sie das tut. Deshalb tat sie es. Driesch ist der Hexer gewesen, Gottvater hat ihn bestraft.«
»So ist das«, sagte ich lahm. Ich war mit meinem Latein am Ende. Er war liebenswert, aber er war verrückt. Er war ein Mörder und hatte wahrscheinlich keine Ahnung von dem, was er getan hatte. Einfach irre, nicht von dieser Welt. »Hat Gottvater dir gesagt, du sollst es tun?«
»O nein. Hat er nicht. Aber ich ... ich. Ich weiß es nicht.«
»Was weißt du nicht?« Ich musste die Spannung herausnehmen. Wie nimmt man die Spannung heraus? »Pumpst du mir eine Zigarette?«
»Klar doch. Nimm dir eine.«
Ich nahm mir eine und zündete sie an. »An was kannst du dich erinnern?« Ich versuchte, mich zu entkrampfen, locker zu sitzen, ihn ganz freundlich und lange anzuschauen.
»Ich weiß nichts mehr.« Er hielt plötzlich die Hände vor sein Gesicht und betrachtete, wie sie zitterten. »Schreibst du über mich?«
»Das weiß ich nicht. Soll ich?«
Er lächelte. »Würde ich ganz witzig finden. Jetzt, wo ich bald auch in der Zeitung stehe.«
»Warum wirst du in der Zeitung stehen?« Diesmal lasse ich dich nicht entkommen.
»Na ja, weil das mit Annette passiert ist.«
»Was ist denn da passiert?«, fragte ich freundlich. »Ich weiß wirklich nicht genau, was du jetzt meinst. Willst du nicht endlich alles erzählen?«
»Ja, ja«, sagte er eifrig. »Also, Driesch war tot. In Monschau. Und ich habe gesehen, dass Annette deswegen geweint hat. Und ich habe ihr gesagt, Driesch ist bestraft worden dafür, dass er dich weggerissen hat von mir. Sie hat mich angeschrien, ich hätte keine Ahnung. Sie hat geschrien, ich sei doch verrückt. Nur verrückt. Warst du das vielleicht?, hat sie geschrien. Lauter solche Sachen. Wir hatten hier doch alles, ein Haus und so.« Er neigte den Kopf über den Tisch.
Ablenken, lenk ihn ab, Baumeister. »Du hast so schön vom Streicheln erzählt. Hat sie dich gestreichelt und du sie? War das so?«
War das eine Ablenkung? Es war eine, er strahlte mich plötzlich an. »Ja, so war das. Viele Male. Ich habe alles aufgeschrieben, ich habe ein Tagebuch. Viele Seiten, sehr viele Seiten. Ich habe sie auch fotografiert. Willst du mal sehen?«
»O ja, sehr gerne.«
Er stand auf, er hatte vollkommen vergessen, dass draußen Kischkewitz mit seinen Leuten lauerte. Es war ihm gleichgültig, er hatte einen Zuhörer, endlich hörte jemand zu. Er kramte hinter dem Bett herum. Vor mir auf dem Tisch lag die blauschimmernde Waffe. Ich griff nicht danach, ich wollte nicht zu denen gehören, die ihn belogen.
Er kam mit einem grünen Leinenbuch zurück. »Mein Album!«, erklärte er stolz. Er legte es vor mich hin. »Du darfst gucken. Du darfst das.«
Ich blätterte das Buch auf.
Auf der ersten Seite hatte er ihr Porträt in ein mit rotem Filzstift gezogenes Herz geklebt. Sie war eine hübsche Frau gewesen, eine mit einem entwaffnenden Lachen. Die nächsten Seiten zeigten Annette auf einer Decke auf der Wiese, Annette auf der Bank vor dem Haus, Annette im Bikini, Annette an diesem Tisch.
»Guck mal«, sagte er und blätterte ein paar Seiten weiter. »Streichelbilder.«
Sie nackt auf dem Bett, er nackt auf dem Bett, nicht obszön, aber eindeutig. Dann eine Nahaufnahme ihrer Scham, ihrer Brüste, ihres Mundes.
»Sie hat gesagt: Fotografier mich. Ich mag das. Das hat sie gesagt.«
»Und sie hat auch gesagt, sie wollte dich heiraten?«
»Hat sie immer gesagt. Damals.«
»Und seit wann wollte sie das nicht mehr?«
»Seit Sommer vorigen Jahres. Sie sagte: Ich kann nicht mehr mit dir gehen. Ich habe gefragt, wieso. Aber sie hat nur gesagt, ich kann nicht mehr. Dann kam diese Windrad-Geschichte und sie war oft weg.«
»Kannst du dich erinnern? Daran, wie sie aus dem Wald geritten kam?«
»Klar. Oben an der Jugendherberge. Da war ich, ich wollte mit ihr reden. Ich sagte, du musst mit mir reden. Sie wollte nicht, sie schrie: Hau ab!« Er beugte wieder den Kopf nach vorn, er weinte still.
»Bastian, erinnere dich ... Wann bist du wach geworden? Hinter dem Weidenbusch? Oder später?«
»Ich weiß nicht. Sie schrie irgendwas. Ja, sie schrie: Hau ab! Du mit deinem blöden Gewehr! Solche Sachen.« Er verkrampfte sich, seine Hände schlössen sich zu Fäusten, wurden ganz weiß. »Ich bin im Wald, ich renne um das Dorf hier hoch. Ich warte.«
»Auf was wartest du?«
»Dass sie kommen.«
»Wer soll kommen?«
»Na ja, die Bullen oder ... Ich weiß nicht.« Er hatte jetzt das Gesicht eines Träumers, ganz weich und in sich versunken. Er war nicht von dieser Welt. Er stand auf: »Sie musste weg, sie musste wieder mal weg. Geh aus dem Weg, sagte sie. Ich sagte: Ich bin der Bastian. Aber sie hörte nicht.« Er machte ein paar Schritte zum gegenseitigen Fenster hin. Da lag das Gewehr, das ich für eine Winchester hielt. Er nahm es und stellte es mit dem Kolben auf den Fußboden. Dann bückte er sich zu dem Lauf hinunter.
Ich zielte nicht, ich schoss einfach. Es klang mörderisch laut und schmetterte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Ein Klirren, dann war es schrecklich still. Bastian drehte sich um und sah mich an. Kein Vorwuf, kein Erstaunen, nur so etwas wie Endgültigkeit. Er fasste sich an den Hintern und stöhnte. Dann kam seine rechte Hand mit dem Gewehr wieder hoch. Die Hand war blutig. Er fiel nach vorn auf sein Gesicht.
Hinter mir knallte die Tür auf, Vera stand da und hielt die Waffe beidhändig.
»Okay«, sagte ich matt. »Ich habe ihn in den Arsch geschossen, sonst nichts.«
Sie war mit zwei Sprüngen an mir vorbei und stand über Bastian. »Hat er es getan?«
»Ja, er hat es getan, er hat davon erzählt. Mein Gott, ich muss kotzen.«
»Hat er dich etwa erwischt?«
»Nein, nein, ich muss einfach immer kotzen, wenn ich jemanden in den Hintern schieße.« Ich ging hinaus an die frische Luft. Mein Magen beruhigte sich wieder.
Rodenstock strich an mir vorbei. »Lebt er?«
»Na sicher«, antwortete Vera. »Der kommt gleich wieder. Aber wir brauchen einen Notarzt.«
»Hubschrauber ist besser«, sagte Rodenstock.
»Richtig. Christoph 10 heißt die Biene.« Vera wirkte sachlich, nichts sonst.
»War seine Aussage eindeutig?«, wollte Rodenstock wissen.
»Eindeutig«, erwiderte ich. »Die Schrotflinte da hinten, das ist die Tatwaffe. Irgendwo vor dem linken Fenster.«
»Wie geht es dir?«
»Beschissen«, sagte ich. »Ist das eine 44er-Winchester, vor dem anderen Fenster?«
»Nein. Eine Standardausführung, derselbe Hersteller, aber nicht das berühmte Modell. Hat er was über Driesch gesagt?«
»Ja. Er sagte, das habe Gottvater erledigt. Driesch, sagte er, war ein Hexer.«
»Meine Güte«, hauchte Vera. Sie kniete neben Bastian und fühlte seinen Puls an der Halsschlagader. »Er kommt gleich zu sich.«
Mir war das alles von Herzen egal, ich wollte nach Hause, duschen, schlafen, lesen. Irgendetwas tun, was möglichst weit weg von dem hier war. Ich hockte mich auf die Bank vor dem Haus. Da war jetzt Schatten, der kühlte etwas.
Kischkewitz kam heran und sagte: »Danke.«
»Hm«, erwiderte ich. Ich stopfte mir die Bravo von Dr. Boston und schmauchte vor mich hin. Es schmeckte nicht, ich ließ es sein.
Dann ertönte ein unverkennbares Motorengeräusch.
Emma nahte. Und wie immer gab sie doppelt so viel Gas, wie sie eigentlich brauchte. Sie stieg aus und lief zu mir, dabei schrie sie: »Wieso macht ihr eine solche Schweinerei, ohne mir vorher Bescheid zu geben?«
»Worüber regst du dich auf?«
»Na ja, mein Mann ist schließlich nicht mehr der Jüngste. Und ich will den noch eine Weile haben.«
Vera erschien in der Tür mit großen verwirrten Augen.
Hinter ihr tauchte Rodenstock auf. »Woher weißt du denn schon wieder, dass wir hier sind?«
»Schließlich habe ich Spitzel!«, schimpfte sie wütend. »Immer, wenn ich euch allein lasse, macht ihr irgendwelchen Unsinn.«
»Kannste mal sehen!«, kommentierte Rodenstock trocken. Dann musste er schallend lachen. Er lachte, bis auch Emma zu lachen begann. Ich war neidisch auf die beiden.
Es entstand der übliche Wirbel. Alle rannten mit ungeheuer ernsten und wichtigen Gesichtern herum, maßen irgendetwas aus, blätterten in Bastians Fotoalbum, untersuchten die Waffen, nahmen Fingerabdrücke, telefonierten unentwegt. Es gab nur einen ruhenden Punkt in der Szene: Baumeister und Bastian auf der Bank vor Bastians Haus. Er trug Handschellen und alles, was um ihn herum geschah, interessierte ihn nicht. Friedlich und versunken in sich selbst, hockte er im Schatten und jedes Mal, wenn er eine Zigarette wollte, zündete ich ihm eine an und steckte sie zwischen seine Lippen. Er trug nur Unterhosen und saß auf der linken Arschbacke, die rechte hatte ich ihm lädiert. »Das ist unbequem«, sagte er. »Das tut weh.«
Und ich wiederholte zum x-ten Mal: »Es tut mir Leid.«
Endlich schwebte der Hubschrauber des ADAC ein, Bastians Abtransport ging mit der gewohnten Routine vonstatten, alle Anwesenden bekamen einen Haufen Staub ins Gesicht.
»Das war's«, bemerkte Kischkewitz. »Was macht dein Brandschaden?«
»Interessiert mich nicht.«
»Du bist ziemlich fertig, nicht wahr?«
»Es könnte besser gehen.«
»Vera fährt dich nach Hause und legt dich ins Bett.«
Emma sah mich mit schmalen Augen an. »Du wirst widerstehen!«, mahnte sie.
»Na sicher doch, Mama«, nickte ich.
Minuten später explodierte Vera neben mir in meinem Auto: »Die Zicke ist doch die Höhe. Was bildet die sich eigentlich ein? Dass ich dich heimbringe und – husch – mit dir ins Körbchen will? Ist die denn bescheuert? Wer ist das überhaupt?«
»Das ist die stellvertretende Polizeipräsidentin der holländischen Stadt s'Hertogenbosch.«
Sie trat kräftig auf die Bremse. Weil sie die Bremsen eines Rallyefahrzeugs nicht gewohnt war, ging das ein wenig schief. Der Wagen stand mit der Schnauze über einem Straßengraben.
»Sag, dass das nicht wahr ist.«
»Es ist wahr.«
»Großer Gott! Ich liefere dich ab, wo ich dich abliefern muss. Und dann nehme ich ein Pferd und ziehe in die Wälder.«
»Sie ist Rodenstocks Ehefrau und meine Freundin. Und sie hat einen Scherz machen wollen, nichts sonst.«
»Liefern wir an Holland aus?«, fragte Vera, wartete nicht auf die Antwort, startete und gab Gas. Dann schlug sie begeistert auf das Lenkrad, brüllte »Jippieeehh!« und raste durch die Eifel, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. »Die Karre ist gut«, seufzte sie zufrieden. »Ein Kapitalistenfahrzeug. Nicht schlecht.«
»Lass es bitte leben«, murmelte ich demütig. Sie gefiel mir, sie war gut drauf.
Misstrauen schlich sich ein, als wir auf den Hof in Deudesfeld rollten. Es standen unanständig viele Autos da.
»Was ist denn hier los?«, wollte Vera wissen.
»Ich weiß nicht, ich wohne hier erst seit vorgestern.«
»Aha, seit vorgestern.« Sie glaubte mir kein Wort.
»Mein Haus ist abgebrannt und irgendwo musste ich ja unterkommen. Unten wohnen Freunde, oben wohne ich.«
»Dein Haus ist abgebrannt, hä?«
»Ja, verdammt noch mal.«
»Und wieso herrscht hier ein Betrieb wie im Kölner Eros-Center?«
»Was weiß ich, vielleicht ein Sommerfest oder so was. Hier, nimm das Handy, ruf Kischkewitz an, frag ihn, ob ich Mist erzähle.«
Einen Teil der Autos kannte ich.
Vera rief tatsächlich an, sie hatte sich immer noch nicht entschließen können auszusteigen. »Chef, ich glaube, ich werde hier verarscht. Er behauptet, sein Haus sei abgebrannt und er wohne hier seit vorgestern. – Ach so, ach ja. Na denn.« Sie gab mir mein Handy zurück. »Aber, ein komischer Vogel bist du schon, oder?«
Wir stiegen aus und konnten mein Dachgeschoss nicht betreten, weil die Treppe vollkommen besetzt war. Rudi, Rainer, Werner, Petra, Maria, Andrea, Günther und viele Leute mehr strahlten uns an.
»Wir haben dir das gebracht, was noch zu verwenden war«, erklärte Rudi. »Du musst ja irgendwie klarkommen, haben wir gedacht. Aber wir sind schon wieder weg.«
Er sah Vera angelegentlich an, grinste und verschwand dann.
Es war wie ein Spuk. Ehe wir uns gefasst hatten, waren alle wieder vom Hof.
»War das eine Abordnung der nächstgelegenen psychiatrischen Klinik?«, fragte sie.
»Das waren meine Nachbarn«, sagte ich gerührt. »Sie haben mir geholfen, sie helfen mir immer.« Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte vor Rührung zu heulen begonnen.
»Das ist ein Irrenhaus!«, bestimmte Vera. »Ich haue gleich wieder ab, ich war gar nicht hier.« Sie stolperte die letzten Stufen hoch und betrat mein neues Reich.
Irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. Sie rief mehrere Male »Huch«, dann gab es einen lauten Krach und sie brüllte: »Scheiße!«
Ich fragte sicherheitshalber nicht nach. Der Flur stand voller Dinge: Kisten, Kästen, Koffer, Regale, kleine Schränke, große Schränke, Aktenschränke, Sofas, Liegen und ähnliche nützliche Sachen. Irgendwo schräg links von mir musste das sein, was ich dunkel als mögliches Wohnzimmer in Erinnerung hatte. Aber es war schwierig, die Tür zu erreichen. Mittendrin lag Vera auf dem Rücken, und auf ihrem Bauch ein Bügelbrett. Ihre Füße steckten in einer alten Eichentruhe, dort, wo normalerweise eine Schublade steckte.
»Das tut mir Leid«, murmelte ich betreten.
Sie sah furchtbar aus, ziemlich mitgenommen. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Bis ich begriff, dass es Lachtränen waren, dauerte es einige Sekunden. »So ist das Leben«, japste sie.
»Willst du einen Wein oder einen Schnaps?«
»Einen Schnaps«, sagte sie. »Kann man hier auch irgendwo sitzen?«
»Ich denke, wir versuchen mal diese Richtung.«
Wir fanden eine Möglichkeit, uns gemütlich gegenüberzusetzen, indem wir die Beine hochnahmen und den Schneidersitz übten.
Ich holte die Schnapsflasche und für mich ein Wasser.
»Wieso trinkst du nicht? Das entspannt.«
»Ich trinke nie.«
»Du trinkst nie?« Sie glaubte mir schon wieder nicht.
»Willst du wieder telefonieren? Dieses Mal vielleicht mit Rodenstock?«
»Nein, nein, schon in Ordnung.« Sie begann erneut vor Lachen zu prusten, krümmte sich nach vorn und nach hinten, hielt sich den Bauch und die Augen geschlossen. Dann warf sie das Wasserglas mit dem Schnaps um, aber das machte schon gar nichts mehr, die Couch war sowieso hinüber und immer noch feucht vom Löschwasser. Das entdeckten wir aber erst, als die Feuchtigkeit durch unsere Jeans drang und die Hosen schon an den Hintern klebten, was erneut ein Grund war, fünf Minuten albern zu lachen.
Vera wurde unvermittelt ernst und fragte: »Wie hast du das mit diesem Bastian gemacht? Hast du eine besondere Methode?«
»Nein. Ich habe ihn nur ernst genommen.«
»Was bist du nur für ein seltener Journalist, dass du vorübergehend für die Bullen arbeitest? Wie kommst du damit zurecht?«
»Gut. Es gibt Bullen, die ich mag. Rodenstock oder Kischkewitz zum Beispiel. So kann ich besser über Polizeiarbeit schreiben, ich kann sie verstehen lernen. Und du? Bist du begeistert dabei?«
»Nicht bei allen Dingen, aber bei sehr vielen. Demonstrationen mag ich nicht und Fußball-Hooligans auch nicht. Mit Krakeelern kann ich nicht. Gute Polizeiarbeit liebe ich. Deshalb war ich scharf auf diese Sonderkommission. Der Fall Driesch hat etwas. Hast du einen Favoriten? Was glaubst du: Wer war es?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Es kann gefährlich sein, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Wir werden erleben, was dabei herauskommt. Hast du einen Favoriten?«
»Ich denke an Bestechung wegen der Windpark-Objekte. Das passt. Lebst du allein?«
»Ja.«
»Macht das Spaß?«
»Meistens ja. Manchmal nicht. Eigentlich bin ich nicht dazu geboren, allein zu leben. Irgendwann wird sich das wieder verändern. Und du?«
»Ich lebe allein. Ich habe eine üble Kiste hinter mir. War nicht schön. Ich glaube, ich sollte jetzt Kischkewitz anrufen. Er wollte mir einen Wagen schicken. Hast du morgen Programm?«
»Ja. Ich will Anna besuchen, die Frau von Jakob Driesch.«
»Die haben wir schon viele Male vor und zurück gehört.«
»Ja ihr, aber ich nicht. Ich muss die Leute selbst hören. Nachrichten aus zweiter Hand taugen nichts.«
»Darf ich mitfahren? Ich meine, deine Art zu fragen würde mich interessieren...«
»Darfst du, wenn du magst. Du kannst ja jetzt mein Auto mitnehmen und holst mich morgen früh hier ab. Passt das?«
»Das passt«, nickte sie. »Dann kannst du endlich ins Bett. Du siehst fertig aus.«
»Das Ganze hat mich mitgenommen«, gab ich zu. »Ich werde erst mal duschen, falls in der Dusche nicht auch ein Schrank oder so was steht. Und dann haue ich mich hin. Die Autoschlüssel liegen auf einem Regal im Flur.«
Sie stand auf und sagte: »Mach's gut. Das war sehr beeindruckend.«
»Bis morgen«, nickte ich.
Ich hörte, wie sie durch die Möbel stieg und dann die Treppe hinunterging. Die Haustür klackte zu.
Ich kämpfte mich zu dem winzigen Badezimmer durch und fand es in Ordnung und möbelfrei. Ich zog die alten, verdreckten Sachen aus und ließ mir lange heißes Wasser über den Körper laufen.
Plötzlich stand sie vor mir, nackt, wie sie auf die Welt gekommen war.
»Das ist unverschämt«, meinte sie mit blassem Gesicht. »Aber ich dachte, wir können ja auch zusammen duschen. Und falls du ohnmächtig wirst, kann ich helfen.«
»Das finde ich hervorragend«, sagte ich. »Ich werde nämlich laufend ohnmächtig beim Duschen.«
Sie grinste und bat: »Rutsch mal ein Stück.«
Ich weiß nicht, wie ich das höflich, reserviert und mit Anstand ausdrücken soll. Man könnte, glaube ich, sagen: Wir hatten hervorragenden Sex in meinem neuen Anderthalbbett.