Erstes Kapitel
Wie war Driesch in den Fluss gekommen? – Egal, er war im Wasser, er hetzte flussabwärts durch die Schlucht, die die alten Monschauer Handwerkerhäuser bildeten. Nur wenige Stunden zuvor waren noch Tausende von Touristen über die beiden Brücken geschlendert, die dicht nebeneinander das Wasser der Rur überspannten – links, wenn man vom Marktplatz kam, die Straßenbrücke, rechts die Fußgängerbrücke, die zur evangelischen Kirche führte. Jetzt, in der Dunkelheit, war Driesch mutterseelenallein. Nein, nicht ganz allein. Denn da lief hinter ihm sein Mörder, dicht hinter ihm.
Oder hatte der Mörder auf einer der Brücken gestanden und ganz einfach auf ihn gewartet? Dann hätten allerdings die Schusskanäle von oben nach unten verlaufen müssen. Aber das wurde nirgendwo erwähnt, weder in der Aachener Volkszeitung noch in der BILD. Die Aachener titelte: Bundestagsabgeordneter Driesch erschossen! Und in der BILD stand: Sechs Schüsse bis zum Tod!
Es war morgens um neun Uhr, es war sehr heiß. Hinter mir an der Mauer drehte sich der Wassersprenger, das Dorf war still. Mein kleiner Kater Satchmo lag auf meinem Bauch und schlief fest, seine beiden Erziehungsberechtigten Paul und Willi ruhten unter der Liege im dichten kühlen Gras. Zwei Meter von mir entfernt tummelten sich die Goldfische und Koikarpfen im Flachwasser des Teiches und hatten anscheinend einen Mordsspaß daran, sich schwanzschlagend seitwärts über eine schmale Zunge aus Moorerde treiben zu lassen, um dann durch einen nur zehn Zentimeter breiten Kanal zurück in das tiefere Wasser zu gelangen. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, ob Fische miteinander spielen und wie sie das machen. Jetzt wusste ich es, sie unternahmen einen Ausflug in den Sauerstoff.
Jakob Driesch, was trieb dich um vier Uhr früh in das kalte Wasser des Gebirgsflüsschens in dem wildromantischen Monschau? Warum hast du nicht in deinem warmen Bett in Schieiden neben deiner warmherzigen Frau gelegen?
Das Bild von Jakob Driesch nahm noch einmal in meinem Kopf Gestalt an: ein langer, hagerer Mensch mit einem Raubvogelgesicht, aus dem gütige Augen immer ein wenig staunend in die Welt blickten. Ein Mensch, der bedächtig war, schnellen Lösungen misstraute, ein Bauer, der gern wachsen sah, was er säte. Ein Mann, der mir einmal auf einem Spaziergang gesagt hatte: »Der Weg zum lieben Gott ist sehr weit. Meistens dauert er ein Leben lang und du hast keine Zeit mehr, das Ergebnis zu genießen.«
Etwa einsachtzig groß, grau gewordene, widerborstige Haare, ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht, ungewöhnlich schmale und langgliedrige Hände – die Hände eines Pianisten. Ja, das Klavier war tatsächlich sein Hobby gewesen. Das Klavier und der frühe Beat aus New Orleans. Ich erinnerte mich an einen Sonntagnachmittag, als er unvermittelt aufgestanden war, sich auf den Hocker vor dem Instrument setzte, sich räusperte, gegen die Decke blickte und dann mit ›Basinstreet‹ losfegte, als handele es sich um ein Gebet.
Weshalb hatte ich ihn damals eigentlich besucht? – Ja, richtig, ich hatte mich für Windenergie interessiert, für diese faszinierenden Flügelräder auf den meist westwärts geneigten Hängen der Eifel, wo sie die Winde vom Atlantik her besonders gut auffangen. Jakob Driesch war ein leidenschaftlicher Verfechter dieser Art von Energiegewinnung gewesen. Er hatte mit vibrierendem Bass gedonnert: »Die Windräder sind keine Reklame für Mercedes, sie sind eine verdammt gute Möglichkeit, mit relativ kleinem Aufwand an Strom zu kommen. Aber diese Scheißmanager der großen Stromversorger haben was dagegen.« Eine seiner hübschen Töchter hatte daraufhin gemahnt: »Papa, du wirst ausfällig!«, und er hatte gegrinst: »Du hast Recht, Mädchen, aber Gott ist mit mir, denn er schickt den Westwind!« Und seine Frau Anna hatte ihn liebevoll angeblickt und so ausgesehen, als wollte sie ihn erst umarmen und dann sofort mit ihm ins Bett. Eine bemerkenswerte Familie um einen bemerkenswerten Mann.
Politisch hatte Driesch die Christlichen vertreten. Er hatte einmal geäußert: »Ich bin altmodisch, ich verlasse mich immer wieder auf meinen Herrgott.« Er war allerdings, wenn ich das richtig beurteilte, immer ein Stachel im Fleisch dieser Christlichen gewesen. Er scheute sich nicht vor Aussagen wie: »Wer so dämlich ist, das Leben eines Homosexuellen als widernatürlich zu bezeichnen, darf sich nicht wundern, dass ihm nichts übrig bleibt, als zu onanieren.« Und er hatte unumwunden eine stille Liebe zu den Grünen gepflegt und auch dazu gestanden: »Ein chaotischer, liebevoller Haufen, der sich kindlich naiv darüber aufregt, dass andere schon gehandelt haben, während man selbst noch wild diskutiert.« Besonders zur Grünsten aller Grünen hatte er eine deutliche Zuneigung gefasst – Wilma Bruns aus Stadtkyll. Die Zuneigung war durchaus erwidert worden. Wilma hatte mir mal kichernd zugemurmelt: »Also, wenn er nicht so toll verheiratet wäre und ein bisschen weniger katholisch, würde ich ihm einen unsittlichen Antrag machen.« Oft hatte Driesch mit Wilma, dem neongrünen Herz der Eifel, vor seinem alten Bauernhof gesessen, und die geduldige Anna hatte endlos Kaffee und edle Schnäpse aus der Eifel aufgetischt.
Und nun war Jakob Driesch tot, ein toter Politiker. Ich ging in das Haus und holte mir das rot gestreifte Buch der Bundestagsabgeordneten aus dem Regal. Zweiundfünfzig Jahre war er alt geworden, nicht mehr als zweiundfünfzig Jahre. Mir fiel der Satz ein: Wen die Götter lieben, den holen sie früh zu sich. Die Götter waren im Fall des Jakob Driesch arg ungeduldig gewesen.
Aber wer hatte den Göttern geholfen und diesen Mann erschossen? Ein Irrer, ein Verrückter, ein Betrunkener?
Morgens um vier Uhr in Monschau, nur ein paar tausend Meter von der belgischen Grenze entfernt, in der Nacht von Sonntag auf Montag. Ob es noch stockdunkel gewesen war oder war der Himmel schon hell? – Mondkalender, wo war der Mondkalender?
Ich sah nach. Der Sonnenaufgang hatte an dem Tag erst etwa eine Stunde später stattgefunden. Also hatte es nur einen hellen Schimmer im Osten gegeben, der das Städtchen im engen Tal der Rur noch nicht erreicht haben konnte.
Ich hätte eigentlich dringend Wilma Bruns anrufen müssen. Wahrscheinlich hockte sie zu Hause und betrank sich weinend. Sie hatte einen Freund verloren, vielleicht mehr als das, vielleicht einen geliebten Partner.
Ich stopfte mir die helle Olivenholzpfeife, die mir Ute aus Malta mitgebracht hatte, und ging zurück in den Garten.
Die drei Kater hatten sich mittlerweile auf meiner Liege breit gemacht, lagen nebeneinander auf dem Rücken, hielten die Vorderpfoten artig geknickt vor dem Leib und schliefen so fest, dass sie nicht einmal blinzelten, als ich mich beschwerte. Ich nahm die Liege hoch und schüttelte die Kater herunter. »Das ist ja wohl die Höhe! Ich bin euer Ernährer, verhaltet euch gefälligst entsprechend.« Sie nahmen mich nicht ernst, krochen unter die Liege und setzten ihren Schlaf fort.
Klein-Fritzchen, der kleinste der Goldfische, der immer noch nicht länger als drei Zentimeter war, lag in einem Bett aus Grünalgen in fünf Zentimeter tiefem Wasser und schlief ebenfalls. Ich stupste ihn mit einem langen Grashalm. Widerwillig bewegte er sich zwei Zentimeter, um dann weiterzuträumen. Es war eben ein träger Tag und ich hoffte auf ein kühlendes Gewitter, das die Hitze ein wenig eindämmen würde.
Wer wohl für den Fall zuständig war? Die Kripo aus dem dreißig Kilometer entfernten Aachen wahrscheinlich. Und wahrscheinlich würden sich irgendwelche zuständigen und nicht zuständigen Geheimdienste um diesen brutalen Tod kümmern. Mit Sicherheit der tatsächlich zuständige Verfassungsschutz sowie der Militärische Abschirmdienst, weil Driesch mit der Bundeswehr zu tun gehabt hatte. Vermutlich auch der BND, weil man einen Bundestagsabgeordneten nicht erschießen kann, ohne diesen elitären Haufen aufzuscheuchen.
Die Zeitungsausschnitte, die mir Hubert vom Venn mit freundlichen Grüßen aus der Walachei gefaxt hatte und die mich so ins Grübeln gebracht hatten, stammten von Dienstag. Heute war Mittwoch, der Tod des Jakob Driesch war also drei Tage alt, und inzwischen gab es vermutlich von Aachen bis Trier, von Monschau bis Daun kein anderes Gesprächsthema mehr als dieses.
Ich holte mir den Trierischen Volksfreund, um nachzulesen, was die schrieben.
Viel Neues gab es nicht zu vermelden. Noch immer gab es nicht mal eine Ahnung, weshalb Driesch überhaupt in Monschau gewesen war. Seine Frau hatte
ausgesagt, er habe entgegen seiner sonst üblichen peniblen Art nur erwähnt, er würde einige Bekannte treffen, sei aber nach einer Stunde wieder daheim. Das war am Sonntagabend gegen neunzehn Uhr gewesen. Sie habe keine Idee, wen ihr Mann getroffen haben könnte. Und ihr sei nicht das Geringste an ihm aufgefallen, er sei gewesen, wie er immer war: gut gelaunt und begierig darauf, sein neues Büro in Berlin beziehen zu können. Nein, es sei ihr unvorstellbar, dass irgendein Mensch hingehen konnte und ihren Mann mit sechs Kugeln aus einer 44er-Winchester erschoss. Sie kenne auch niemanden, der ein solches Gewehr besitzen würde, und ihr Mann habe trotz seiner Kontakte zur Bundeswehr bekanntlich nie und nimmer eine Waffe in die Hand genommen.
Dann stand dort noch etwas: Inzwischen ist klar, dass der Mörder alle Schüsse aus einer Entfernung von zwölf bis zwanzig Metern auf den durch das Wasser rennenden Bundestagsabgeordneten abgegeben hat. Und es gilt in Kreisen der Sonderkommission als sicher, dass der Mörder seinem Opfer in der Rur folgte und nicht etwa auf einer der beiden Brücken stand, wie anfänglich angenommen wurde. Kriminaloberrat Kischkewitz, der aus Wittlich hinzugezogene Leiter der Sonderkommission, antwortete auf die Frage, ob der Tod von Jakob Driesch etwas mit dessen politischer Tätigkeit zu tun haben könnte: »Das scheint mir nicht wahrscheinlich. Driesch war nicht mit Geheimdingen beschäftigt, er war Spezialist für Landwirtschaft, Windenergie und hatte am Rande mit den in der Eifel stationierten Bundeswehreinheiten zu tun. Im Hochsicherheitsbereich war der Abgeordnete nicht zu Hause, so dass ein Motiv im Rahmen seiner Tätigkeit nicht erkennbar ist. Allerdings geben wir zu, dass wir bisher überhaupt kein Motiv erkennen können. Daher bitten wir alle Monschauer und Touristen, die in der Nacht von Sonntag auf Montag in Monschau waren und irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt haben, sich bei der Sonderkommission zu melden. Bis jetzt – auch das wollen wir zugestehen – konnten wir merkwürdigerweise noch keinen Menschen ausfindig machen, der Driesch am Sonntagabend vor seinem Tod in Monschau gesehen hat. Auch seinen Wagen, einen Mercedes, schwarz, Typ E 290, haben wir noch nicht finden können. Und wir haben bis jetzt keine Vorstellung davon, wie der Abgeordnete in den Fluss gelangt ist. Es erscheint unwahrscheinlich, dass er durch irgendeinen Keller in den Flusslauf stieg, denn gewöhnlich sind diese Zugänge mit fest verschlossenen Türen versehen oder sogar vermauert. Die nächste Möglichkeit über eine normale Uferbefestigung in das Flussbett zu gelangen, befindet sich weit oberhalb der Stadt, was bedeutet, dass Driesch noch mehr als tausend Meter im Wasser gelaufen sein muss, ehe sein Mörder ihn erschoss. Alle sechs Kugeln, das ist inzwischen sicher, stammen aus derselben Waffe, einer klassischen 44er-Winchester. Die Waffe ist nirgendwo registriert. Wir wissen allerdings, dass sie ein hochbegehrtes Sammlerstück ist und auf dem schwarzen Markt, vor allem im benachbarten Belgien, angeboten wird. Wir bitten dringend um Hilfe. Die Sonderkommission ist im Aukloster zu erreichen. Selbstverständlich behandeln wir sämtliche Hinweise auf Wunsch streng vertraulich.«
Ein fett gedruckter Kasten ergänzte den Artikel, in dem es hieß, die Belohnung sei auf fünfhunderttausend Mark festgesetzt worden.
Ich fasste einen Entschluss: Ich würde Wilma Bruns nicht anrufen, auch Anna nicht und schon gar nicht Kischkewitz, den ich von einer anderen Geschichte her kannte, oder irgendwen sonst bei der Sonderkommission. Der Fall war zu weit entfernt, nicht mein Bier, ich hatte etwas anderes vor, sicher gab es Journalisten, die Driesch besser gekannt hatten als ich, vielleicht hatten sie den Täter auch schon, vielleicht war alles längst gelaufen ... Nein, ich wollte nicht einsteigen. Dazu war es aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso viel zu spät.
Da schrillte mein Handy, Emma rief nach mir: »Hör mal, ich bin in Frankfurt, gerade gelandet aus New York. Ich kann Rodenstock nicht erreichen. Ist er bei dir?«
»Nein. Ich hocke allein in meinem Garten, kein Rodenstock.«
»Dann wird er bald auftauchen. Gestern hat er angedeutet, er wolle bei dir einfallen. Ich begebe mich jetzt nach s'Hertogenbosch und komme wahrscheinlich morgen zu euch. Wieso hat er sich bei dir nicht gemeldet?«
»Das weiß ich doch nicht. Wie war es beim FBI?«
»Wie üblich. Sie bringen einem die neuesten Tricks der international arbeitenden Terroristen bei, kriegen die aber selbst nicht zu fassen. Das nennt man Fortbildung.« Sie lachte schallend. »Aber ich habe meine Tante Souza besuchen können. Und das war wirklich gut. Wie weit seid ihr denn in der Sache?«
»In welcher Sache, bitte schön?«
»Na ja, mit diesem erschossenen Bundestagsabgeordneten. Wie hieß der doch gleich?«
»Jakob Driesch. Ich kümmere mich nicht darum und von Rodenstock habe ich seit Tagen kein Sterbenswort gehört. Was soll das?«
Sie machte eine Pause, ich hörte nur ihren Atem. »Er arbeitet aber dran, das hat er mir erzählt, er hat sogar einen Auftrag.«
»Er hat was?«
»Den Auftrag, diese Sache zu untersuchen. Für den Bundesnachrichtendienst. Das nennt man ›Operation Splittings Rodenstock soll ganz gemütlich das Umfeld des Toten auseinander nehmen und sehen, was dabei herauskommt. Er wird sogar dafür bezahlt.« Sie lachte wieder. »Ich muss weiter, mein Lieber. Ich melde mich. Und hilf ihm, bitte, er war so aufgeregt wie ein Pennäler.« Es klickte.
»Ja, ja«, murmelte ich in die Hitze. Wieso hatte sich der Dickkopf nicht bei mir gemeldet? Wollte er einen Alleingang? Oder hatte der BND ihm angeraten, allein zu arbeiten? Wie auch immer, mein alter Freund Rodenstock steckte bis zum Hals in dem Fall und bald würde es mir wahrscheinlich genauso gehen. Ganz gemütlich das Umfeld von Driesch auseinander nehmen?! Ha, Rodenstock konnte alles, gemütlich sein konnte er nicht.
Ich stiefelte wieder ins Haus und suchte die Telefonnummer von Wilma Bruns aus der Kartei.
Sie war daheim, sie klang hohl. »Ihre Abgeordnete der Grünen im Landtag Wilma Bruns hier. Guten Tag.«
»Siggi Baumeister. Wie geht es dir?«
»Schlecht.« Ihre Stimme klang nach Reval und zu viel Schnaps.
»Haben sie dich schon auseinander genommen?«
»Und wie! Und schlecht wieder zusammengesetzt. Die Kripo, der Verfassungsschutz, der MAD, wirklich alle. Sag bloß nicht, du willst ein Interview!«
»Will ich nicht.«
»Kriegst du auch nicht. Ich hocke hier im Wohnzimmer und habe Omas alten Unterrock an.«
Das schien etwas zu bedeuten, ich wusste aber nicht was. »Was soll das?«
»Den ziehe ich immer an, wenn es mir dreckig geht, wenn ich zu viel rauche, zu viel Weißwein saufe und nicht weiterweiß.«
»Würdest du trotzdem mit mir reden? Nur reden? Nichts für die Öffentlichkeit.«
»Keine Zeitung, die morgen mit dem Scheiß erscheint?«
»Wilma!«
»Ja, ja schon gut. Komm halt her, aber lass deinen Kugelschreiber zu Hause.« Sie brach das Gespräch ab.
Ich versuchte, Rodenstock über sein Handy zu erreichen, aber auch mir gelang es nicht. Also stopfte ich mir ein paar Pfeifen in die Weste, dazu den Tabaksbeutel, und machte mich auf den Weg. Ich fuhr in einem schnellen Tempo über Dockweiler Richtung Daun, in Pelm hinauf zur Kasselburg, ein kurzes Stück auf der Straße nach Hillesheim, dann links an der Bahnlinie entlang, quer zur Strecke Hillesheim – Jünkerath. Ich war in Eile, achtete nicht auf Geschwindigkeitshinweise, fuhr einfach drauflos, wie man das tut, wenn man aufgeregt und etwas verquer ist. Als ich in Jünkerath durch den Kreisverkehr rauschte und meine Reifen quietschten, weil ich den Wagen zu hart nach links zog, wurde mir plötzlich bewusst: Was rase ich so? Was bringt das? Macht das Driesch wieder lebendig?
Ich fuhr rechts ran, stopfte mir erst einmal die dänische Pfanne von Stanwell und rauchte ein paar Züge bei offenem Fenster. Dann ließ ich es sanfter angehen. Von der schmalen Straße aus, über die man nach links zum Stausee fährt, um zu dem Restaurant zu kommen, das so schöne indische Gerichte im Tandoor zubereitet, geht rechter Hand ein schmaler, asphaltierter Wirtschaftsweg den Hang hinauf. Das war der Weg, der zu Wilma Bruns führte, zu ihrem großelterlichen Haus, einem eindrucksvollen alten Trierer Einhaus, das sie schon seit Jahren selbst restaurierte. Sie werkelte wirklich selbst, sie mauerte, legte die elektrischen Leitungen, lernte, wie ein Installateur arbeitet, lernte, das Dach zu decken, und sie lernte, eine Heizung einzubauen. Und in den Zwischenzeiten opferte sie sich für die Grünen auf, die ihr selten dankten, sie wüst beschimpften, wenn etwas danebenging, und sich gebärdeten wie Kinder, die es ganz grässlich finden, wenn Mama etwas tut, was sie nicht auf Anhieb verstehen. Und immer wenn es wieder so weit gekommen war, griff sich Wilma in ihrer Verzweiflung einen Kerl – und sie griff todsicher immer den falschen, immer einen, der sie ausnutzte und noch weiter hinunterzog. Bis sie wach wurde, ihn wutschnaubend vom Hof jagte und die ganze Geschichte von vorne begann.
Die Haustür stand offen. Sie hatte die gute Stube abgedunkelt, schwere Vorhänge vor die Fenster gezogen. Nur eine grüne Schreibtischlampe verbreitete ein geradezu gespenstisches Licht.
Ich sah Wilma nicht. »Hallo?«
Da bewegte sich etwas auf dem altertümlichen, mit rotem Plüsch bezogenen Sofa.
»Ich bin hier«, sagte sie müde. »Hier ist das, was von mir übrig ist. Nimm dir ein Bier oder einen Wein oder was auch immer. Haben wir schönes Wetter?«
»Sehr schönes Wetter, fast zu heiß. Wie lange hockst du hier schon?«
»Na ja, seit Montagmorgen, als ich angerufen wurde.«
»Wer rief dich an?«
»Die Bullen, wer sonst? Wie geht es Anna?«
»Ich weiß es nicht, ich bin selbst eben erst eingestiegen. Wo steht das Wasser?«
»Da vorn, neben der Küchentür. Was meinst du, kriegst du einen Kaffee zusammen?«
»Na sicher. Falls du welchen hast.«
»Habe ich. Kaffee habe ich immer, den kaufe ich zentnerweise bei unseren belgischen Nachbarn in Losheim. Sag mal, die Zigaretten sind mir ausgegangen, kannst du welche besorgen? Da liegt irgendwo Geld rum, da vor dem Fernseher. Reval, bitte, alles andere ist Pipifax.«
Sie sah schlimm aus, sah aus wie eine alte Frau, dabei war sie erst Mitte dreißig. Ihr Gesicht war eingefallen und grau, ihr Haar, das normalerweise henna-farben wie Lohe brannte, war strähnig und schmierig.
Wahrscheinlich hatte sie sich nicht mehr gewaschen, seit sie von Drieschs Tod gehört hatte, und wahrscheinlich war ihr das jetzt auch nicht wichtig.
Ich setzte den Kaffee auf und sagte dann: »Ich kaufe erst mal das Rauchzeug.« Ihr Geld ließ ich liegen und fuhr den Weg hinunter bis zur nächsten Kneipe.
Der Wirt stand schmal, unglücklich und allein hinter seinem Tresen. Er nörgelte: »Wie geht es Wilma? Die hat es geschmissen, was? Das ist ja auch eine Sauerei! Die beiden waren ja ein Herz und eine Seele, obwohl man das eigentlich von den Parteien her nicht für möglich halten sollte. Na ja, irgendwie geht das Leben weiter, was?«
»Ja«, nickte ich und verschwand wieder. Wahrscheinlich gehörte er zu denen, die sagten: »Wilma ist wirklich ein guter Typ!« Das, was sie nicht sagten, war: »Schade, dass sie eine Frau ist!«
Der Kaffee war durchgelaufen und Wilma murmelte: »Du bist ein Schätzchen. Danke.« Sie riss die Packung auf und zündete sich eine an.
»Vielleicht solltest du duschen«, sagte ich vorsichtig.
»Was?« Sie starrte mich aus runden Augen an. »Ach, herrje! Ich stinke wahrscheinlich. Na klar stinke ich!« Sie lachte heiser und schüttelte sich.
»Du solltest lauwarm duschen, du bist ja völlig fertig. Du hilfst Driesch nicht damit und Anna auch nicht, verdammt noch mal!«
Eine Weile war es still, irgendwo tickte altmodisch eine große Uhr, ein kleiner Hund, ein Schäferhundwelpe, kam schwanzwedelnd hereingelaufen und fiepste erbärmlich.
»Er heißt Cisco und ist mein Beschützer. In der Küche muss irgendwo eine Dose mit Hundefutter sein. Kannst du das übernehmen? Ja, du hast Recht, ich muss irgendwie von diesem Scheißsofa runterkommen.«
Ich ging in die Küche, fand die Dosen, öffnete eine und der kleine Hund sprang an mir hoch und bellte kindlich. Ich stellte ihm die Schüssel auf den Boden und er legte seinen kleinen Körper flach davor und begann das Zeug zu schlabbern.
Mein Handy meldete sich und Rodenstock fragte: »Wo bist du?«
»Ich bin bei Wilma Bruns.«
»Da will ich auch hin. Beschreib mir den Weg, bitte.«
Ich tat es, dann krachte es hinter mir. Wilma war auf die Dielenbretter geschlagen, und sie saß da und schüttelte sich, als müsse sie zu sich kommen.
»Hilf mir mal«, stöhnte sie verbissen, »verdammt!« Unvermittelt weinte sie leise.
Ich hievte sie hoch und sie atmete keuchend.
»Langsam, ganz langsam. Wo ist dein Badezimmer?«
»Oben, die Treppe rauf.«
Sie trug tatsächlich einen uralten Unterrock, blassrosa. Und sonst nichts.
»Du bist richtig verrückt«, sagte ich und schob sie vor mir her.
»Ich habe die Kontrolle verloren«, erklärte sie seltsam klar. »Das darf nicht passieren!«
»Ist schon okay«, sagte ich. »In so einem Fall ... Da nimmt jeder eine Auszeit. Langsam, langsam, nicht so hastig.«
Die Tür zum Badezimmer stand offen, es herrschte eine peinliche Ordnung.
»Ich lass dir Wasser ein. Warte hier und halte dich an der Wand fest.« Ich öffnete den Warmwasserhahn und stöpselte die Wanne zu.
»Er bedeutete sehr viel für mich, weißt du. Er war ein Mann, wie ich nie einen kriegen werde. Niemals. Ich kriege immer nur den Schrott.« Sie zog sich den Unterrock über den Kopf und griff nach meiner Hand. Haltlos kicherte sie. »Ich alte Frau komme da nicht alleine rein.«
»Langsam, langsam, ich helfe dir ja. Hoch das Bein, in Ordnung. Jetzt das zweite, du hast zwei Beine.« Sie war eine schöne Frau und ich wünschte, dass sie irgendwann einmal das Glück haben würde, den Mann zu finden, mit dem sie ruhig werden konnte. »Ist es zu warm? Geht es?«
»Das ist gut. Mein Gott, ich stinke wirklich. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich 48 Stunden lang nur gesoffen, geraucht und geheult. Blöde Zicke, die ich bin. Kannst du mir die Zigaretten und das Feuer bringen, und auch ein Glas Weißwein, bitte?«
»Kommt sofort.«
»Und noch was, Baumeister. Nicht, dass du das hier falsch verstehst.«
»Du bist wirklich aus dem Tritt«, anwortete ich leicht empört.
»Man weiß ja nie«, sagte sie gedehnt. »Bring mir auch einen Kaffee, bitte. Und besser keinen Wein. Nur Zigaretten. Und viel Zucker und etwas Milch. Irgendwo müssen noch Zigarillos sein. Ja, und ich hatte neues Mundwasser gekauft. Das muss irgendwo in der Küche stehen. Ja, und dann noch vielleicht...«
»Wenn du so weitermachst, kann ich meinen Gesellenbrief im Roomservice ablegen.« Langsam war ich wütend.
»Es ist ja nur wegen Jakob«, sagte sie matt.
Ich stieg die Treppe wieder hinunter, nahm ein Tablett und stellte alles darauf, was sie wollte und möglicherweise nachbestellen würde. Und weil sie mir so Leid tat, griff ich in einen Strauß Sonnenblumen, brach eine unter dem Kopf ab und legte sie mitten auf das Tablett. Es sah hübsch aus, zeigte aber keine Wirkung, denn Wilma war inzwischen eingeschlafen und schnarchte wie ein Sägewerk. Jedes Mal, wenn sie laut ausschnaufte, blies sie feine Bläschen aus dem Badeschaum, die sternengleich funkelnd durch den Raum segelten.
Ich machte mich in ihrem CD-Haushalt auf die Suche nach etwas, das sie vielleicht aufmuntern würde. Es war ein wenig zynisch, aber ich entschied mich für Satchmos ›What a wonderful world‹ und ließ es ordentlich dröhnen. Tatsächlich reagierte Wilma.
»Mach das Scheißding aus!«, schrie sie hysterisch. »Mach es aus!«
Das tat ich nicht, stattdessen beugte ich ihren Kopf nach vorn und massierte ihr kräftig die Schulterpartie. »Du wirst jetzt zu dir kommen. Du wirst noch gebraucht, Frau.«
Sie wollte maulen, doch ich fuhr fort: »Kannst du mir vielleicht die Frage beantworten, warum Driesch in die Rur gestiegen und durch das Wasser gelaufen ist?«
»Kann ich nicht.«
»Hatte er Freunde in Monschau?«
»Er hatte überall Freunde. Das weißt du doch.«
»Wirkte er in der letzten Zeit irgendwie verändert?«
»Ja. Er war verändert. Aber nicht... nicht negativ. Er war nur stiller, nachdenklicher.«
»Seit wann?«
»Seit ein paar Monaten.«
»Traf er irgendwelche Leute, die er früher nicht getroffen hat?«
»Das weiß ich nicht, ich lebte schließlich nicht mit ihm. O Gott, sind diese Muskeln hart. Das tut weh, Baumeister.«
»Das soll es auch. – Gab es vielleicht Zoff mit den Leuten, die Windräder aufstellen, oder mit den Leuten, die gegen Windräder sind?«
»Nur das Übliche, nichts Besonderes. Und noch vor einer Woche sagte er, kein Mensch kann die Windräder auf Dauer verhindern, es gibt sie, also werden sie aufgestellt. Der Meinung bin ich auch. Glaubst du, Anna wird mit mir reden?«
Ich war verblüfft. »Warum sollte sie das nicht tun?«
»Weil sie vielleicht gedacht hat, ich hätte was mit Jakob.«
»Hattest du was mit ihm?«
Sie schüttelte den Kopf und begann erneut zu weinen. »Verdammte Hacke, nein. Albert hat das auch geglaubt, aber Albert glaubt alles Miese, wenn es gegen Jakob geht.«
»Und wer, bitte, ist Albert?«
»Albert ist unser Wasserspezialist. Er ist für Natur pur, er findet Windräder furchtbar, er sagt, wir sollen die Bachläufe und Flüsse nutzen und Wasser zur Stromerzeugung benutzen. Er ist der Ansicht, Windräder verschandeln die einmalige Natur in der Region. Ich habe keinen Beweis dafür, aber ich wette, er war es, der das Windrad oben vor Losheim umgelegt hat. Damals, vor acht Monaten. Er hat es natürlich abgestritten, aber ich wette, er war es.«
»Was macht dieser Albert denn im normalen Leben so?«
»Schafskäse und Ziegenkäse und Honig und Kräuterbutter, Okobauer eben. Albert ist verheiratet, hat vier Kinder und ist ein geiler Bock. Er hat Jakob mal als katholisches Niederwild beschimpft, das man zum Abschuss freigeben sollte. Dabei hatte er fast Schaum vor dem Maul.«
»Oha!«, sagte ich. »Wo finde ich diesen Albert?«
»Ein Einsiedlerhof oben am Weißen Stein. Aber sei vorsichtig, der Kerl ist irre und außerdem bewaffnet. Er ist ein friedlicher Grüner mit einer heimlichen Liebe zu Maschinenpistolen – was häufiger vorkommt, als die Allgemeinheit annimmt.« Sie erstarrte einen Augenblick. »Habe ich Waffennarr gesagt?«
»Hast du. Meinst du, dieser Albert bringt so etwas fertig?«
Sie überlegte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, er hat manchmal Schwierigkeiten, sich unter Kontrolle zu halten.« Sie hatte nun ganz schmale Lippen, rauchte nervös und sog den Rauch tief ein. »Wenn du mich fragst, ob er eine Winchester hat, muss ich antworten: Könnte sein, könnte durchaus sein. O Gott, wir haben oft gesagt, wenn Albert durchknallt, steckt er die Eifel in Brand.«
»Wie heißt er eigentlich? Ich meine, Albert reicht mir nicht.«
»Albert Tenhoven, ein Wort.«
Eine Männerstimme rief: »Hallo? Ist hier jemand?«
»Komm rauf«, rief ich. »Hier oben.«
Rodenstock tauchte auf, erschrak leicht beim Anblick der Badenden, fing sich und sagte heiter: »Das ist doch mal ein guter Empfang.« Dabei grinste er wie ein Haifisch. »Rodenstock ist mein Name. Ich bin ein Freund vom Baumeister.«
»Das ist gut«, nickte Wilma. »Dann darf ich euch bitten, mal rauszugehen. Ich ziehe mir rasch was an. Schließlich ist das hier keine gute Konferenzsituation.«
»Da stimme ich zu«, meinte Rodenstock.
Wir gingen hinaus und noch auf der Treppe legte ich los: »Ich habe ein Problem mit dir, mein Freund. Warum sagst du nichts und fängst heimlich an, den Fall zu recherchieren? Weil der edle Bundesnachrichtendienst dich gebeten hat, mich rauszuhalten?« Ich war wütend und wollte es hinter mich bringen.
»Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst«, sagte er mild.
Wir erreichten den Vorraum und ich schlug vor: »Lass uns das draußen erledigen, das geht Wilma nichts an.«
»Du bist sauer, nicht wahr?«
»Ich bin stinksauer«, nickte ich. »Und zwar auf dich, Rodenstock, nicht auf den Fall. Auf dich. Und du musst dir schon was Gutes einfallen lassen, um das zu ändern. Emma ist übrigens wieder zurück. Sie wollte erst nach s'Hertogenbosch und dann hierher.«
Vor dem Haus stand eine Bank vor einem Tisch. Wir setzten uns. Rechts von mir wuchs ein kleiner Malvenbusch, das Rosa strahlte in der Sonne. Gleich daneben hatte die Hundskamille ein grelles Weiß aufgezogen und ihre goldene Mitte leuchtete.
»Na gut«, murmelte er und sah mich nicht an, »sie haben mich gebeten, das für sie zu erledigen. Und sie wussten natürlich, dass wir beide in der Regel zusammenarbeiten und dass du häufig für Magazine schreibst. Also haben sie gesagt: Halt den Baumeister aus deinen Recherchen raus!«
»Wenn du so sachlich bemüht daherschwafelst, tut das einfach weh«, erwiderte ich zornig.
»Aber wieso denn? Das ist eine Behörde wie andere Behörden auch. Und die Leute müssen eben Vorkehrungen treffen, dass die Arbeit sicher verläuft.«
»Ich bin also ein Unsicherheitsfaktor«, sagte ich bitter. »Du rennst immer weiter in die Scheiße, Rodenstock. Baumelte deine Seele am Garderobenhaken?«
»Nun mach mal Pause«, begann er zu schimpfen. »Du weißt genau, dass der Fall Jakob Driesch eine große Story wert ist. Wann wird schon mal ein Bundestagsabgeordneter mit sechs Kugeln aus einer 44er-Winchester umgelegt? Das weißt du, das weiß ich, das weiß auch Kischkewitz von der Sonderkommission. Das ist der Haken.«
Ich ließ ihn eine Weile zappeln, ich war mir sicher, dass er genau wusste, auf was ich aus war.
»Sieh es doch mal so«, begann er erneut. »Da haben wir einen Mordfall. Du bist Journalist, du bist als Journalist bekannt, und zwar als guter Journalist. Oft haben wir beide zusammengearbeitet und du hast dich auf mich und mein Fachwissen berufen. Nun will dieses Fachwissen mal der Bundesnachrichtendienst nutzen – gegen Bezahlung. Und er fordert: Den Baumeister halten Sie aber schön raus. Gut, sage ich, ist gebongt. Was ist dagegen einzuwenden?«
»Nicht viel«, sagte ich nach einer Weile. »Nicht viel. Nur, dass du unsere Freundschaft verraten hast, Rodenstock. Nie würde ich ein Detail aufschreiben, ohne dich vorher zu fragen, ob du einverstanden bist. Das war vor dem Fall Driesch so und ich hatte angenommen, es würde im Fall Driesch genauso sein. Wir konnten uns blind aufeinander verlassen. Und jetzt hast du zugestimmt, mich da rauszuhalten. Das finde ich schäbig.«
Rechts stand ein uralter Apfelbaum, die Äpfel hatten schon die Rotfärbung angenommen und leuchteten wie kleine Lampions. Eine Grasmücke hüpfte durch die Zweige, ein Sperling machte ihr das Leben schwer und verfolgte sie tschilpend. Unten im Tal brannte jemand Holz ab, es roch angenehm nach Buche. Links zog ein uralter Trecker durch den Hang, seine Auspuffgase waren blau, fast schwarz.
»Ich bin Beamter, ich habe mich auch nach der Pensionierung an solche Weisungen zu halten.« Rodenstocks Stimme klang hohl.
»Dann hast du ein Problem mit mir«, warf ich ein. »Und du redest um das Problem herum, du eierst.«
»Leck mich doch am Arsch!«, sagte er heftig, erhob sich und ging zu seinem Wagen hinüber.
»Das habe ich bereits einem anderen Schwein versprochen!«, schrie ich.
Er wendete den Wagen, der dabei gegen das Heck meines Autos prallte. Rodenstock reagierte nicht, er gab Gas und preschte den Hügel hinunter, als würde er verfolgt.
»Blöder Beamter«, fluchte ich überflüssigerweise. Ich fühlte mich elend.
»Will dein Freund nicht hier bleiben?«, fragte Wilma hinter mir. Sie sah nun ausgesprochen hübsch aus und schien wieder etwas Mut gefasst zu haben.
»Nein, er muss erst etwas anderes erledigen. Wollen wir über diesen Driesch reden?«
»Ja«, nickte sie. »Und dann will ich zu Anna fahren und ihr helfen bei ... in ihrem Schmerz. Aber zuerst muss ich ein paar Telefonate erledigen.«
»Tu das, ich warte hier.« Ich starrte in das Tal hinunter und dachte an Rodenstock, der sich auf die Flucht begeben hatte. Irgendwo tief in mir drin hörte ich, wie eine Klarinette ein Stück von Sidney Bechet spielte – Blues vom Feinsten und irgendwie zum Kotzen.
Wilma kam wieder zu mir hinaus und setzte sich neben mich. Sie betrachtete mich eine Weile. Dann fragte sie: »Dir geht es beschissen, was?«
»Ja. Aber das geht vorbei. Erzähl mir von Jakob Driesch – was war er für ein Mann?«
»Ein ziemlich ungewöhnlicher für einen Politiker. Er hatte keine Begabung zur Lüge. Und ich weiß, wovon ich rede, ich habe nämlich eine. Er war das, was Jugendliche heute cool nennen.«
»Hast du je erlebt, dass einer seiner Gegner ausnippte, so dass er – wie hast du das genannt? – Schaum vor dem Mund hatte?«
»Nein, aber ich weiß, dass einer aus der Riege ihn hasste, richtig und regelrecht gehasst hat. Er ist Anwalt und sitzt in Roetgen. Seit zwei Legislaturperioden will er Drieschs Platz übernehmen. Er schafft es nicht, er schafft nicht mal in der Diskussion mit ihm einen Achtungserfolg.«
»Wie alt ist er?«
»Fünfunddreißig, schätze ich. Ob der jedoch so weit gehen würde, dass er schießt, das weiß ich nicht. Er heißt Ludger Bensen, Doktor Ludger Bensen. Sein Pech ist, dass er sich selbst für genial hält. Irgendwann wird ihm das das Genick brechen. Aber nun wird er zunächst doch Drieschs Nachfolger werden, das scheint mir ziemlich sicher. Der Mann ist übrigens Fachanwalt für Immobilien. Er handelt und vermittelt, vertritt vor Gericht und wird als Sachverständiger hinzugezogen.«
»Hat er irgendwie mit Waffen zu tun?«
»Weiß ich nicht. Ich nehme an, nein. Das ist so ein Weißer-Kragen-Typ, er würde schießen lassen, niemals selbst schießen.«
»Und wie kam es zu diesem Hass gegen Driesch?«
»Dieser Bensen ist ein absoluter Karrieremann, sieht weder nach rechts, noch nach links. Er hat irgendwann mit achtzehn Jahren beschlossen, in eine Partei zu gehen und Politik zu machen. Er wurde Mitglied der Jungen Union, wurde Vorsitzender, er ließ sich mit dreiundzwanzig für den Gemeinderat aufstellen, hatte Erfolg. Mit fünfundzwanzig war er Vorsitzender des Bau- und Planungsausschusses. Er hat in Bonn studiert, so ganz nebenbei, wohnte in Roetgen bei seinen Eltern. Dann heiratete er die Tochter eines sehr reichen belgischen Bauunternehmers aus Malmedy, sie haben zwei Kinder. Es ist ein Paar wie aus dem Bilderbuch, strahlend jung und schön. Sie verkehren in der besten Gesellschaft Aachens. Brunch hier, Party da, Empfang dort. Also, wenn du mich fragst, grässliche Leute. Die Frau hat mir mal auf einem Stehempfang gesagt, sie sei froh, wenn er aus dem Haus ist, und Eheleben sei gut, so lange die Dauerwelle nicht leidet. Ich frage mich, wie die zwei Kinder zeugen konnten. Und Hass? Na ja, der Mann hat versucht, Driesch mittels übler Nachrede aus der Politik zu drängen. Er hat behauptet, Driesch habe eine heimliche Geliebte. Das ist übrigens noch nicht lange her, ein Jahr oder so.«
»Und Driesch hatte keine heimliche Geliebte?«
»Nein, auf keinen Fall.« Wilma schnaufte entsetzt. »Der doch nicht, der hatte doch Anna und die Kinder. Er meinte mal zu mir, bei einer Ortsbegehung in Kalterherberg, er werde langsam misstrauisch angesichts all des Glücks in der Familie. Wenn ich mich richtig erinnere, sagte er wörtlich: Ich warte auf einen Knall.«
»Wann war das?«
»Vor einem Dreivierteljahr, aber wenn du den genauen Termin brauchst, kann ich nachgucken.«
»Nein, nein, lass mal, ich will mir nur ein Bild machen. Ich komme mit diesem so genannten Tatort nicht klar. Schließlich ist es kein Wohnzimmer, keine Straße, kein Auto, kein Parkplatz. Es ist ein Fluss mitten in einer kleinen Stadt. Kannst du das erklären?«
»Nein«, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. »Das ist genau das, was anscheinend auch der Kripo und den anderen, die untersuchen, das größte Rätsel ist. Niemand hat eine Idee, wie Jakob in den Fluss kam und vor allem, warum.«
»Vielleicht durch irgendeinen Hauskeller?«
»Die Sonderkommission hält das für unwahrscheinlich. Du kennst ja die Szenerie dort. Ich dachte automatisch, dass er irgendwo weit oben in den Fluss gestiegen ist. Den Zahn hat mir dieser Kischkewitz aber gezogen. Er hat gesagt, wieso soll er oberhalb der Häuserschluchten in den Fluss gegangen sein, wieso nicht unterhalb? Er kann auch gegen die Strömung gelaufen sein, das Wasser ist an den meisten Stellen sehr flach und du kannst es sogar umgehen, wenn du auf den Steinen läufst.«
»Hat man denn Geschosshülsen gefunden?«
»Nein, nicht eine. Und dann die Sache mit seinem Geldbeutel.«
»Geldbeutel? Wieso Geldbeutel? Davon stand nichts in der Zeitung.«
»Er lag mit den Beinen im Wasser, mit dem Oberkörper auf einer der für die Abwasserleitung gemauerten Flächen, in denen Kanaldeckel eingelassen sind. Die Abwasserleitung folgt nämlich genau dem Fluss. Unterhalb von Jakob, vielleicht zwanzig Meter entfernt, lag sein Geldbeutel in einem Grasbüschel. Es ist möglich, dass der Geldbeutel mit dem Wasser dorthin getrieben ist, es kann aber auch sein, dass Jakob ihn an der Stelle verloren hat, während er flussaufwärts hetzte. Aber vermutlich ist das alles nebensächlich, vermutlich hat das alles keine Bedeutung. Weißt du, was ich denke?«
»Sag es mir.«
»Er saß irgendwo. In einem Raum, auf einer Bank draußen. Dann tauchte jemand auf, von dem er sofort wusste, dass der ihn töten wollte. Er geriet in Panik und rannte los, er wusste nicht wohin. Irgendwie schaffte er es, in den Fluss zu kommen. Er rannte um sein Leben. Und er hatte keine Chance.«
»Da muss ich heftig widersprechen. Denn noch mal: Wie ist er in den Fluss gekommen? Und vor allem, warum? Nehmen wir an, deine Vorstellung ist richtig, nehmen wir an, er sah plötzlich jemanden, von dem er wusste: Der will mich töten. Er rannte los. Es gibt Hunderte Winkel und Ecken, die Stadt ist uralt. Innenhöfe, Hauseingänge, Durchlässe, schmale Steigen, Treppen; immer wieder kleine Gärten im Steilhang. Er hatte tausend Möglichkeiten, der Beschießung auszuweichen. Warum also flüchtete er in den Fluss? Der Fluss liegt drei Meter tiefer als die Stadt, an manchen Stellen mehr. Der Fluss ist der schlechteste aller Fluchtwege. Deshalb ist er vollkommen unlogisch.«
Wir schwiegen eine Weile, dann nickte sie: »Du hast Recht, der Fluss ist der schlechteste aller Wege. Aber wir können Jakob nicht mehr fragen, warum.« Sie weinte wieder.
»Hast du ihn geliebt?«
Sie nickte, musste nicht überlegen. »Auf eine gewisse Weise, ja. Es war ein sauberes Verhältnis.«
»Wie war seine finanzielle Lage? Weißt du etwas darüber?«
»Nein, wir haben das Thema kaum berührt. Ach, nur einmal, als ich wen in meinem Bett hatte, der mein Bankkonto geplündert und das Geld gebunkert hat, da habe ich mich bei ihm ausgeheult. Er hörte zu, er tröstete mich und er sagte: Wenn es hart auf hart kommt, schmeißt du ihn raus, ich gebe dir einen Scheck, du bringst deine Sachen in Ordnung und wir reden nicht mehr drüber. Das ist so beschissen an der Sache: Ich habe den besten Freund meines Lebens verloren. Und er ist nicht ersetzbar, verstehst du? Als die Sache mit Albert war, hat er mich rausgehauen. Verdammt noch mal, warum bin ich bloß so eine unsolide Frau?«
»Was war denn mit Albert? Meinst du den Albert vom Weißen Stein, der möglicherweise eine Winchester haben könnte?«
»Genau den.« Sie schwieg eine Weile. »Wenn ich dir das erzähle, Baumeister, musst du den Mund halten. Sag es niemandem, hörst du, niemandem.«
»Ich sage zu niemandem etwas, versprochen. Niemand wird es von mir erfahren. Und wenn es für Jakob Driesch ohne Bedeutung ist, brauchst du es mir auch nicht zu erzählen.«
Sie sah mich von der Seite an. »Du bist schon ein komischer Journalist, einer, der schweigt. Irgendjemand hat mal gesagt, davon kannst du doch nicht leben können.«
»Ich bin nicht an Indiskretionen interessiert. Informanten, die hintenrum flüstern, hasse ich wie die Pest. Ja, das stimmt, ich denke, wir sollten den Tag beschreiben, nicht die Farbe deiner Unterwäsche.«
Sie kicherte. »Die ist schwarz. Also, die Sache mit dem Albert Tenhoven passierte vor drei Jahren. Er war gerade da oben am Weißen Stein in den Hof gezogen. Natürlich machte er uns alle neugierig. Wir fragten uns: Was will der da? Außer einer wilden Natur gibt es da doch nichts. Er wohnte zunächst allein dort, niemand wusste von seiner Frau und den Kindern. Abends tauchte er in unseren Kneipen auf, ein verrückter Macho, aber irgendwie liebenswert, jedenfalls ein starker Typ mit grauem Bart und Händen wie Bratpfannen. Und irgendwie befand ich mich in einer Phase, in der ich so eine Stärke brauchte. Weiß der Geier, was mich geritten hat. Das Schreckliche an mir ist, dass ich immer um die nächste Ecke gucken will. Und eine Ecke gibt es immer. Jedenfalls habe ich ihn mitgenommen. Nicht hierher, nein. Wir sind nach Nideggen gefahren, haben uns ein Hotelzimmer genommen.« Sie war ganz versunken in diese Geschichte. »Wir fingen die Geschichte an wie eine ... na ja, irgendwie wie eine geschäftliche Beziehung. Du erledigst meine Bedürfnisse, ich erledige deine. Das passte mir damals, das fand ich ganz toll. Das war so schön unverbindlich, das war genauso unverbindlich, als wenn du zu einer Nutte gehst. Es blieb nicht bei dem einen Mal. Wir fuhren nach Aachen, wir fuhren nach Heimbach, immer Hotelzimmer. Irgendwann nahm ich ihn mit in dieses Haus. Ich träumte von einer Zukunft mit ihm. Doch dann entdeckte ich, dass er verheiratet ist und Kinder hat. Na klar, wieso sollte ich auch mal Glück haben. Ich wollte ihn rauswerfen, aber er ließ sich nicht rauswerfen, er besetzte sozusagen meine Küche, grinste und blieb sitzen. Da kam Jakob Driesch, um mich abzuholen, es ging um Windräder in Ormont, um die Frage, ob wir den Windpark vergrößern sollen. Driesch fand also Tenhoven in meiner Küche. Und Tenhoven wurde sofort pampig. Auf die ganz unangenehme Art. Er brüllte rum, wieso ich mir einen zweiten Kerl holte, was denn das sollte, ob sein Pimmel vielleicht nicht ausreiche. Er verlor die Kontrolle, verstehst du? Driesch stand da und wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Tenhoven schrie: Sie braucht das, Kumpel, sie braucht das. Es geht immer nur um Schwänze; Weiber sind eben so, sie werden immer so sein. Und so weiter und so fort. Richtig widerlich. Driesch kam ganz langsam zu sich. Ich konnte an seinen Augen sehen, dass er begriffen hatte, was da bei Tenhoven ablief. Auf dem Tisch stand eine volle Thermoskanne mit Kaffee. Driesch nahm sie und schmetterte sie Tenhoven auf den Kopf, einfach so und ohne Vorwarnung. Tenhoven fiel vom Stuhl, wurde aber schnell wieder lebendig und wollte auf Driesch los. Doch der nahm einen Küchenstuhl und haute Tenhoven um. Dann packte er ihn und schmiss ihn vor die Tür. Er prügelte ihn regelrecht den Berg runter. Als er zurückkehrte, sagte er nur: Lass uns fahren, wir sind spät dran.« Wilma seufzte. »Mein Gott, warum baue ich immer so einen Mist?«
»Ab da hatte Driesch einen Feind fürs Leben.« »Ja«, nickte sie. Sie zog die Unterlippe ein und kaute darauf herum. »Ich bin so hungrig.«
»Solange du dich deswegen nicht verurteilst, ist es in Ordnung.«
»Aber diese Geschichten bringen mir nur Schwierigkeiten, Baumeister, nichts als Schwierigkeiten. Als Frau in der Eifel ist es schwer. Und als moderne Frau in der Eifel ist es manchmal nur schwer auszuhalten. Aber ich liebe das Haus und das Land ... na ja, du weißt schon.«
»Ich liebe es ja auch. Sollen wir zu Anna fahren?« »Ja«, murmelte sie. »Ich mache nur das Haus dicht. Ich muss den Schlüssel unter die Matte legen, Schorsch von der Raiffeisenzentrale bringt mir Heizöl.« Sie stand auf und ging ins Haus.
Ich hörte, dass sie eine Nummer wählte, dass sie sagte: »Ach, Anna. Guten Tag. – Ja, meine Liebe, das ist beschissen. – Du wirst es irgendwie packen, du bist stark. Baumeister ist hier, wir wollen rüberkommen zu dir. – Wie bitte? Das ist nicht wahr! Sag, dass das nicht wahr ist...« Nach einer langen Weile Schweigen hörte ich so etwas wie ein gehauchtes »Ja!« Dann legte sie den Hörer auf.
Als Wilma wieder in der Tür erschien, war sie weiß im Gesicht und ihre Augen waren sehr alt. Tonlos teilte sie mir mit: »Annette von Hülsdonk ist tot. Sie wurde erschossen. Sie haben sie vor zwei Stunden gefunden. Das kann doch alles nicht wahr sein!«
»Wer ist denn das?«
»Die Tochter von Manfred von Hülsdonk. Du weißt schon, der Hotel- und Kneipenbetreiber. Das glaube ich einfach nicht.«
»Kann das mit dem Tod von Driesch zusammenhängen?«
Sie starrte irgendwohin. »Wenn es zusammenhängt, dann geht es doch um Windkraft, um diese Scheißwindräder. Annette gehörte zu unserer Clique und sie war für Windräder.«
»Kannte sie Driesch?«
»Natürlich. Wer hier nicht?« Sie schüttelte den Kopf.
»Lass uns fahren. Wo ist es denn passiert?«
»In Hellenthal. Mein Gott, sie war erst siebenundzwanzig. Höchstens. Rennt da ein Irrer rum?«
Von der anschließenden Fahrt von Stadtkyll nach Hellenthal weiß ich nicht mehr viel. Ich erinnere mich, dass ich Richtung Hallschlag raste und dann erschrak, als Wilma brüllte: »Rechts hoch, rechts hoch!«
Es ist zweifellos eine der schönsten Strecken im Naturpark Nordeifel, aber ich hatte genug damit zu tun, die sowieso schnellen Kleinlaster von Handwerkern und die obligaten Steinlaster zu überholen.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, schrie Wilma plötzlich. »Das ist doch verrückt!«
Ich kommentierte das nicht. Oberhalb von Hellenthal schössen wir auf die B 265 und etwas quietschte, weil ich zu schnell war.
Im Kreisel standen zwei Frauen und unterhielten sich. Ich stoppte den Wagen neben ihnen.
»Wo ist denn das mit der Annette passiert?«, fragte sie Wilma.
»Dort oben. Sie soll dort ausgeritten sein. Tut sie ja öfter. Hinter der Jugendherberge. Da ist auch Polizei und so was. Aber kann man nicht hin, sie haben alles abgesperrt. Sie müssen da rauf, Richtung Hollerath, dann rechts. Oben ist ein Schild. Sie soll ja sofort tot gewesen sein und ...«
Ich hatte schon wieder Gas gegeben.
Es gab einen schmalen Weg zur Jugendherberge hin, der als asphaltierter Wirtschaftsweg endete. Jetzt sahen wir sie – zwei Streifenwagen, ein dunkelblauer Kleinbus, zwei Privatfahrzeuge. Eine große Gruppe Menschen sperrte die Straße ab, davor stand ein Uniformierter. Hinter dem Uniformierten entdeckte ich Kischkewitz im Gespräch mit einem Polizeibeamten.
Ich parkte den Wagen auf dem Grasstreifen und ging mit Wilma um die Menschentraube herum. Kischkewitz bemerkte uns und winkte.
In Verlängerung des Wirtschaftsweges kreiselte eine Gruppe Männer um etwas, das auf der Straße lag. Das Etwas war schneeweiß. Die Tote trug wohl eine weiße Bluse.
»Tag, Siggi«, sagte Kischkewitz. »Ich habe gleich Zeit für euch. Moment noch.« Er sprach eindringlich auf den Uniformierten ein, der dann fortging.
»So. Wir haben noch nicht viel tun können. Eine Riesenschweinerei. Ich leite die Sonderkommission in Monschau und wollte mir das ansehen, ob das eventuell etwas mit Jakob Driesch zu tun haben könnte.« Er sah mich fragend an.
»Wilma Bruns«, stellte ich vor. »Sitzt im Landtag für die Grünen, enge Freundin von Jakob Driesch. Sie sagt, die beiden Toten verbindet die Windenergie.«
Kischkewitz nickte düster und reichte Wilma die Hand. »Wir kennen uns schon. Und Sie kannten die junge Dame da vermutlich auch?«
»O ja, schon seit Jahren.«
»Gehen Sie lieber nicht hin. Siggi, du kannst Fotos machen, aber nicht zur Veröffentlichung. Mich immer vorher fragen. Ist das klar?«
»Natürlich«, sagte ich. »Was ist hier genau passiert?«
»Ein direkter Schuss aus geringer Entfernung. 80-Gramm-Rehposten, also ziemlich schwerer Schrot. Ihr Gesicht ist so gut wie nicht mehr vorhanden. Sie war sofort tot. Nach meiner Vorstellung muss der Schütze gewusst haben, dass sie da vorne aus dem Wald herauskommen würde. Das macht sie fast jeden Tag, das weiß jeder hier. Nach Lage der Dinge hat der Schütze da vorne hinter dem kleinen Weidenbusch gelegen. Er hat sie nah rankommen lassen, er befand sich in guter Deckung. Entfernung ungefähr fünf bis sechs Meter. Jetzt entschuldigt mich, ich muss weitermachen.«
»Ich sehe mir das mal an«, sagte ich. »Wann ist es geschehen?«
»Vor rund fünf Stunden«, sagte Kischkewitz. »Heller Vormittag, elf Uhr wahrscheinlich. Sie ist ziemlich spät gefunden worden, weil niemand hier entlangfuhr. Ihr Pferd ist übrigens durchgegangen, wir haben es bisher nicht finden können. Und noch was, Siggi. Wenn dich Redaktionen anrufen, gib bitte vorerst nichts raus. Ich habe noch diese ganzen Geheimdienstler an den Hacken.« Er seufzte. »Das sind einfach schreckliche Zeitgenossen.«
Annette von Hülsdonk lag auf dem Rücken mitten auf dem Wirtschaftsweg. Rechts über ihr stand ein Fotograf und richtete eine 6 x 6-Mamiya auf einem Stativ ein.
»Das ist ja furchtbar«, hauchte Wilma hinter mir.
»Du solltest dir das nicht ansehen«, sagte ich scharf.
»Wieso nicht? Weil ich eine Frau bin?«
»Weil du ein Mensch bist«, sagte ich.
»Mein Gott, so viel Blut.«
Ich fotografierte Annette von Hülsdonk etwa zehnmal, dann kehrte ich um. Ich wollte zu meinem Auto.
Rodenstock kam mir entgegen. Er wirkte verschlossen. »Wie ist es gemacht worden?«
»Mit Schrot. Aus kurzer Entfernung.«
»Dreht da einer durch?«
»Sieht so aus«, nickte ich.
Er war schon an mir vorbei. Jetzt drehte er sich halb herum und sagte mit einer leichten Handbewegung: »Wir ... wir sollten vielleicht noch mal miteinander reden.«
»Das sollten wir. Wenn wir privat sind.«
Er nickte. Dann ging er zwei Schritte weiter, wandte sich wieder zu mir um und fragte: »Weißt du etwas?«
»Ja. Laut Wilma sollten wir wenigstens zwei Leute durchtesten. Der eine ist Rechtsanwalt in Roetgen und heißt Dr. Ludger Bensen, der andere ist ein gewisser Albert Tenhoven, Landwirt, Imker, Ökofreak oben am Weißen Stein.«
»Richtig, das sind Zielpersonen«, erwiderte er. »Doch der Anwalt hatte am Montagmorgen ein Verfahren vor dem Düsseldorfer Landgericht und übernachtete im Marriott-Hotel in Düsseldorf. Albert Tenhoven hat keinerlei Alibi für die Tatnacht, was uns aber nicht weiterhilft. Er ist nämlich seit Montagabend verschwunden. Seine Frau behauptet, sie wisse nicht, wo er sich aufhält. Ich glaube ihr nicht, aber das ist unwesentlich. Er besitzt übrigens eine 44er-Winchester, aber aus der wurde nicht geschossen.«
»Was glaubst du, wie Jakob Driesch in den Fluss gelangte?«
Er sah mich an. »Das weiß ich nicht, Baumeister. Ich gebe mir auch keine Mühe, meine Phantasie anzustrengen. Wahrscheinlich wird es hinterher eine ganz einfache Erklärung geben. «
»Das nutzt uns jetzt aber wenig.«
»Das ist richtig«, stimmte er zu. »Doch die Rur, ich meine, das Wasser ist nicht der Punkt. Sein Auto ist weg. Das ist ein Punkt. Der zweite und viel wichtigere Punkt ist: Wo war er, bevor er in das Wasser hinabstieg oder reingeschubst wurde? Er ist gegen sieben Uhr abends an dem Sonntag mit der Bemerkung weggefahren, er treffe eben mal Bekannte und sei in etwa einer Stunde wieder da. Danach ist er spurlos verschwunden. Bis jetzt ist kein Zeuge aufgetaucht, der ihn oder auch nur das Auto an diesem Abend irgendwo gesehen hat. Und das, Baumeister, macht mich verdammt nachdenklich. Getötet wurde er um vier Uhr morgens. Uns fehlen neun Stunden seines Lebens.«
Wilma kam heran und schüttelte den Kopf, dass ihre roten Haare flogen. »Das kann doch nur ein Irrer sein, so etwas tut doch kein Mensch, oder?«, flüsterte sie zu sich selbst. Erst jetzt nahm sie uns wahr. »Oh, Baumeister, du brauchst mich nicht nach Hause zu bringen. Kischkewitz lässt heimfahren. Er will noch mit mir reden.«
»Wilma Bruns«, sagte Rodenstock leise und eindringlich, »ich glaube, wir sind uns einig, dass möglicherweise die Windräder eine Rolle spielen, nicht wahr? Wenn das so ist und wenn jemand ausgenippt ist – weshalb? Gibt es ein großes Projekt, einen neuen Windpark, an dem sich in letzter Zeit die Gemüter erhitzt haben?«
Wilma kniff die Lippen zusammen. »Das gibt es, aber es wird noch geheim gehalten.«
»Was heißt geheim?«, fragte ich sauer.
»Geheim heißt, dass es eine geheim gehaltene Studie über einen Windpark gibt, der mit einer Wahnsinnsleistung arbeiten soll. Strom für ganz Aachen, wenn ihr so wollt.«
»Eine Studie?«, lächelte Rodenstock. »Eine Studie, die geheim bleiben soll? Das ist doch wohl ein Wunschtraum. Wer hat die Studie denn in Auftrag gegeben?«
»Ein Hersteller-Konsortium, die Leute, die Windräder bauen. Teure Sache.«
»Gut«, sagte ich. »Ich nehme mal an, Jakob Driesch wusste davon, du wusstest davon, die Hersteller wussten davon, die Leute, die die Studie erstellt haben, wussten davon. Und wer, außer diesen dreißig bis vierzig Leuten und ihren unmittelbaren Mitarbeitern wusste noch davon?«
»Nur die Leute, denen das Terrain gehört, das in Frage kommt.«
»Wie viele sind das etwa?«, fragte Rodenstock freundlich.
»Sechzehn«, antwortete Wilma. »Es handelt sich um eine Waldbesitzergemeinschaft.«
»Wahrscheinlich haben die meisten Familie und diskutieren bei jedem Abendessen darüber. Wir dürften also ungefähr zweihundert bis dreihundert Leute vor uns haben, oder?« Du lieber Himmel, wann würden Politiker endlich einmal nach Intelligenz ausgewählt?
»Über wie viel Geld reden wir denn da, das investiert werden muss, bis die Windräder stehen und Strom erzeugen?«, kam Rodenstock zum Kern der Sache.
»Rund einhundertdreißig Millionen«, erklärte Wilma. Sie sah uns nicht an.
»Und was spielte Annette von Hülsdonk für eine Rolle in dem Spiel?«, wollte ich wissen.
»Na ja, sie hatte die Rolle der Safeknackerin. Wir haben ihr diesen Spitznamen gegeben. Sie ist von Haus zu Haus marschiert und hat die Besitzer überzeugt, die Waldbesitzer. Sie hat verdammt gute Arbeit geleistet, sie hat sie alle unter einen Hut gebracht, und das gilt in der Eifel als Königsschuss.«
Es herrschte Schweigen.
Wilma starrte uns an. »Warum soll einer dieser Leute, die von dem Projekt wussten, Driesch töten? Und Annette? Das ist doch verrückt.«
Rodenstock bewegte das rechte Bein. Er zeichnete mit der Spitze seines Schuhs einen Kreis. »Wenn ich das Problemfeld der Windenergie richtig verstehe, so gibt es doch heftige Gegner, oder? Nun, ohne Driesch und ohne Annette ist das Problem vom Tisch, weil die Gruppe ihre Köpfe verloren hat. Außerdem kommt die Planung an die breite Öffentlichkeit und ist damit im Eimer. Sehe ich das richtig?«
»Das könnte sein«, nickte Wilma und ihr Blick verlor sich in der Ferne. »Aber trotzdem ist das verrückt, das bringt doch alles nichts. Windräder sind nicht mehr aufzuhalten.«
»Sie, liebe Wilma, sind auf eine sanfte Weise auch verrückt«, sagte Rodenstock mild. »Sie stehen nur auf der anderen Seite des Zauns. Was, meinen Sie, könnte jetzt passieren?«
Wilma schaute ihn an, sah ihn aber gar nicht. »Sagen Sie es mir.«
»Jemand könnte sich fragen, ob es nicht sicherer wäre, auch Sie zu töten. Der Volksmund sagt: Aller guten Dinge sind drei!«