Siebtes Kapitel
Ich spulte das Band zurück, rief Rodenstock an und erklärte ihm, dass er jetzt eine Aufnahme hören würde.
»Okay!«, sagte er.
Ich spielte das Band ab und hörte Wilmas Mutter noch einmal genau zu. »Das bedeutet, Wilma hat den Mörder tatsächlich erkannt.«
»Nun wissen wir es.« Rodenstock machte eine kleine Pause. »Wenn du allerdings glaubst, dass uns das weiterbringt, dann bist du auf einem Holzweg. Komm endlich her und hol mich ab, ich habe die Faxen dicke, wir hängen in einer Einbahnstraße fest und finden keine Wendemöglichkeit. Vera hat übrigens gefragt, ob sie mit uns nach Aachen fahren kann. Ich habe ja gesagt.«
»Das ist in Ordnung.«
Bis Monschau wurde ich nicht mehr gestört. Ich nahm Rodenstock und Vera an Bord, dann fuhren wir beim Hotel vorbei und Emma stieg ein. Das Wetter war sanft und warm, der Abend versprach schön zu werden. Wir waren alle vier muffig, wortkarg und in uns gekehrt.
Vera bemerkte nachdenklich: »Warum hat Wilma nicht einen von uns angerufen, statt ihre Mutter aus dem Bett zu holen?«
Rodenstock bellte: »Wir hatten ausgemacht, den Fall heute Abend rauszulassen.«
»Es ist doch nichts passiert«, wandte ich vorsichtig ein.
»Rodenstock ist eng heute Abend«, bemerkte Emma bissig.
Wir erreichten die Aachener Innenstadt, stiegen zum Dom durch die Scharen Bier trinkender Kids und Studenten und beschlossen wild, uns zu amüsieren. Das ging gründlich schief, weil jeder von uns nicht im Mindesten Lust verspürte, Frohsinn und gute Laune zu verbreiten. Wir konnten uns noch nicht einmal auf ein Lokal einigen, in dem es Spaß machen würde zu essen. Alles in allem waren wir eine miefige Runde, aßen hastig bei einem hervorragenden Italiener, und die Bemühungen Rodenstocks, mit Hilfe einiger Anekdoten aus seinem Berufsleben den Abend zu retten, erwiesen sich als gänzlich untauglich.
»Jakob Driesch hat uns im Griff«, bemerkte Emma lakonisch. »Lasst uns das Auto besteigen und heimwärts fahren.«
Also kutschierte ich die Gesellschaft so rasch wie möglich nach Monschau zurück und setzte Emma und Rodenstock vor ihrem Hotel ab.
Dann sagte Vera seltsam gespannt: »Ich muss dir sagen, dass es so nicht weitergeht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Was ist da zu verstehen, ich fahre nicht mit dir nach Deudesfeld.«
Ich war verblüfft. »Das habe ich auch gar nicht angenommen. Und dazu aufgefordert habe ich dich meines Wissens auch nicht. Weshalb bist du so aggressiv?«
»Weiß nicht. Ist doch auch egal. Ich habe das Gefühl, das wird viel zu schnell Alltag zwischen uns. Wir packen uns abends gemeinsam in dein Bett, als hätten wir keine andere Wahl.«
Ich wurde wütend. »Es ist zweimal passiert und zweimal haben wir gesagt, es war gut. Was soll das Gerede jetzt? Ich habe dich nicht gezwungen, mit mir nach Deudesfeld zu fahren.«
Sie schwieg eine Weile, ehe sie zugab: »Das wird mir einfach zu eng.«
»Du hast Angst?«
»Kann man so sehen.« Sie machte eine fahrige Handbewegung. »Ach Scheiße, Baumeister. Das kann doch sowieso nicht gut gehen. Wir haben beide einen ziemlich harten Job und sowieso keine Zeit füreinander. Also machen wir Schluss damit, ehe wir richtig losgelegt haben. Wenn wir den Fall erledigt haben, werde ich wieder im Landeskriminalamt in Mainz sitzen und du hockst hier draußen in der Pampa. Und jeder wird sagen: Heute Abend geht es nicht, heute Abend habe ich schon was anderes vor.«
»Diese Scheißsingles!«, schimpfte ich. »Völlig unverbindliche Vögelei, völlig unverbindliche körperliche Freundlichkeiten. Und wenn es dann nicht mehr in den Kram passt, ein völlig unverbindliches ›Das war's‹! War ganz nett, aber jetzt störst du!« Ich stieg auf die Bremsen. »Falls du es übersehen hast, ich stehe vor deinem Hotel!«
Sie zuckte zusammen, sie hatte wirklich nicht registriert, dass wir schon da waren. »Ich bin schon weg«, sagte sie heiser. »Was mache ich bloß für einen Mist?« Damit stürzte sie aus dem Wagen in den Hoteleingang, als hätte ich ihr eine Tracht Prügel angedroht.
Mannhaft sagte ich: »Blöde Tussi!« und gab Gas. Ich verfiel in einen wütenden Dialog mit mir selbst, in dem die Rede davon war, dass sich ein normaler Mann sowieso nie mit einer Polizeibeamtin einlassen dürfe, weil ganz klar die Bürokratie und der Wahn der Karriere alles kaputtmachen, alles zertrümmern und nur noch nacktes Entsetzen zurücklassen würde.
Diesmal nahm ich ab Schöneseiffen die Strecke über den Weißen Stein, Losheim und Stadtkyll. Ich wusste genau, dass ich nicht würde schlafen können, deshalb fuhr ich nach rechts auf den Stausee zu und bog dann auf den Wirtschaftsweg ein, der zu Wilma Bruns' großelterlichem Haus führte. Es lag wie eine sehr friedliche Insel unter einem blassgelben Vollmond und machte durchaus nicht den Eindruck, als verberge es Geheimnisse. Ich parkte den Wagen unter dem Birnbaum und hockte mich auf die Bank neben der Haustüre. Dort saß ich einige Minuten und genoss die frische Luft. Ich dachte darüber nach, wie verbohrt wir alle waren, wie hilflos Vera gewirkt hatte, wie wütend Rodenstock und wie beißend Emma.
Plötzlich kroch ein Wagen langsam den Weg hoch. Ich weiß noch heute, dass ich zwischen Flucht und Verstecken schwankte. Warum ich flüchten wollte, weiß ich nicht, vielleicht roch ich die Gefahr. Warum ich mich verstecken wollte, war klar: Horchen, beobachten. Doch ich blieb sitzen, weil mir einfiel, dass mein Wagen unübersehbar auf dem Hof parkte, dass es irgendwie lächerlich gewirkt hätte, den Indianer zu spielen.
Es war ein Rover Freelander. Daher erwartete ich, dass Albert Tenhoven aussteigen würde, um zu mir zu kommen und zu reden. Aber es war nicht Albert, es war seine Frau Hermine.
Ihre Bewegungen waren bedächtig. Sie schaltete die Scheinwerfer ab, stieg aus und kam gemächlich auf mich zu. Sie trug einen schwarzen Pullover zu schwarzen Lederhosen und derbe Wanderschuhe. Sie sagte »Hallo!« und setzte sich neben mich auf die Bank. »Noch unterwegs?«
»Ja, ich kann nicht schlafen. Ich wollte irgendwie Wilma schnuppern.«
»Das kann ich nachfühlen«, nickte sie langsam. »Mir geht es ähnlich. Ich war fassungslos, als ich davon hörte. Bist du im Moor gewesen, wo es passierte?«
»Ja, aber es hilft nicht, keiner hat eine Ahnung, was sich abgespielt hat. Wir wissen nur, dass sie begriffen hatte, wer Drieschs Mörder ist. Das hat sie ihrer Mutter erzählt. Dann ist sie losgefahren, um den Mörder zu treffen. Doch der Mörder war ihr wohl einen Schritt voraus.«
»Heute in den Spätnachrichten ist gesagt worden, dass die Polizei Wilmas Wagen gefunden hat. In Rott, in einem Gebiet, in dem die Aachener ihre Häuser bauen. Das Auto ist nur durch einen Zufall entdeckt worden. Es stand in der Einfahrt zu einem leeren Haus. Spielt dieses Rott irgendeine Rolle in den Fällen?«
»Nein, bisher nicht. Was treibt dich nachts hierher?«
Sie zog eine Packung Gauloises-Tabak aus der Tasche und drehte sich eine Zigarette. »Gute Frage. Ich mochte Wilma ... lass mich sagen, ich mag Wilma. Ich weiß, dass sie was mit Albert hatte, als ich und die Kinder noch nicht hier waren. Ich weiß das von Wilma, sie hat mit mir darüber gesprochen. Sie wollte sich entschuldigen, Albert hatte natürlich nicht erzählt, dass Frau und Kinder nachkommen. So ist er nun mal, der Albert. Heute hat er sich betrunken, weil er unter ihrem Tod leidet und nicht darüber sprechen will oder kann. Nicht einmal mit mir. Und da bin ich losgefahren in die Nacht. Einfach so. Aber ich habe schon gewusst, dass ich hier lande. Sie war eine starke Frau, verstehst du, und so viele starke Frauen gibt es ja nicht.« Sie sah mich von der Seite an und setzte hinzu: »Ihr lasst uns ja nicht.« Dann schnippte sie den Rest der hastig gerauchten Zigarette weg und drehte sich eine neue. »Ich weiß ja, es klingt vielleicht dumm, aber etwas von Wilmas Geist spüre ich hier.«
»Das ist nicht dumm«, widersprach ich. »Sie war ja wirklich eine tolle Type. Sie war so von der Sorte Frau, von der die Eifel ruhig ein paar mehr vertragen könnte. Aber irgendjemand hat sie maßlos beschissen. Wahrscheinlich um Geld und wahrscheinlich auch um ihre Seele. Sie muss in den Stunden vor ihrem Tod so etwas wie ein Erleuchtung gehabt haben und ich komme nicht drauf, was das gewesen sein könnte. Und deswegen bin ich sauer auf mich und deswegen sitze ich hier. Ich dachte, ich rede mit ihr, vielleicht sagt sie ja was.«
Hermine sah mich wieder von der Seite an, schwieg aber.
Vor dem Mond glitt eine helle, weiße Wolke vorbei, verdunkelte die Szene und gab sie dann wieder frei.
»Hat dein Mann sich inzwischen an etwas erinnert, was wichtig sein könnte?«
»Versucht hat er es. Aber er hat nicht gesagt, was dabei herausgekommen ist. Das Einzige, was er gesagt hat, ist, dass er es komisch findet, dass Annette ausgerechnet von einem ... na ja, von einem Bekloppten umgebracht wurde. Aber das ist nun mal so. Manchmal hängen die Dinge eng zusammen und das Leben erledigt sie dann getrennt. Die Kleine hat immer von ihrem Hotel geredet, das ihr Papi ihr schenken wollte. Sie wollte es das Hideaway nennen, das Versteck für Verliebte.«
»Und wo sollte das stehen?«
»Irgendwo in den Wäldern der Eifel, nehme ich an. Sie haben wohl daran gedacht, einen alten Bauernhof zu kaufen und umzubauen. Albert sagte heute Nachmittag, als er den Ziegenkäse abschöpfte, dass da etwas ist, was ihn mehr als alles andere wundert: Da arbeitet Driesch an einem Riesenprojekt. Er treibt es voran, dass einem der Atem stillsteht. Und bringt es so weit, dass er eigentlich die ersten Gelder anfordern müsste. Das tut er aber nicht, stattdessen lässt er es schluren. Mag ja sein, dass er einfach die Nase voll hatte. Aber dass beide Frauen, nämlich Wilma und Annette, nicht auf die Barrikaden gegangen sind und die Gelder einfach selber angefordert haben, will Albert nicht in den Kopf. Na ja, vielleicht haben beide den Driesch angehimmelt, aber so kopflos waren sie nicht, dass sie brav stillhalten und nichts tun würden. Albert fragt sich: Was ist da passiert? Das ist eine gute Frage, nicht wahr? Mir kommt es so vor, als hätten die drei eine Absprache getroffen und entschieden, dass eine andere Entwicklung wichtiger war.«
»Sehr gut überlegt«, nickte ich. »Aber was war wichtiger?«
Hermine stand auf und sagte über die Schulter zurück: »Ich brauche einen Schluck.«
Sie ging zu ihrem Auto, holte eine große Flasche heraus und kam zur Bank zurück. Sie nahm einen tiefen Zug.
»Das tut gut«, murmelte sie dann. »Glaubst du, Anna wird die Eifel verlassen?«
»Sie hat gesagt, nein.«
»Aber vielleicht wird sie mit den Schatten nicht leben können.«
»Das wird sich herausstellen. Wenn sie es nicht kann, kann sie immer noch gehen. Die Eifler sind sehr beharrlich, sie geben nicht auf und sie sind treu. Und Anna ist stark.«
Da hockten wir unter dem Eifelmond und fühlten uns unbehaglich, weil zu viel geschehen war, das nicht einzuordnen war in den Fluss des Lebens. Irgendwo schrie ein Tier hoch und gellend. Entweder es tötete oder es wurde getötet.
»Wie kommt eigentlich jemand wie du hierher?«
»Albert«, antwortete sie einfach. »Es sind doch immer Beziehungskisten, die uns entwurzeln und an anderer Stelle wieder Wurzeln fassen lassen. Immer diese Beziehungskisten.« Sie lachte erheitert. »Du hältst dich für einen vernünftigen Menschen, bis du entdeckst, dass dich Unvernunft steuert. Aber ich kann mich nicht beklagen, auf seine Weise sorgt sich Albert rührend. Weißt du, ich frage mich die ganze Zeit, ob mich ein Mensch mit einer Million dazu bringen könnte, etwas Blödes zu tun. Mein ganzes Leben lang spielte Geld nur deshalb eine Rolle, weil ich es nicht hatte.« Sie schwieg unvermittelt.
»Und, könnte ich dich mit einer Million aus der Fassung bringen?«
»Ja, natürlich. Aber ich glaube, dass es mich nicht verändern würde. Wohin du auch gehst, du nimmst dich selbst mit. Und eine Million würde daran nichts ändern. Wann wird Annette eigentlich beerdigt?«
»Das weiß ich nicht. Irgendwann in den nächsten Tagen.«
»Scheiße«, murmelte sie trocken. »Erst Annette, dann Jakob, dann Wilma. Das wird die Reihenfolge der Beerdigungen sein. Und wir werden uns alle in Schwarz wieder sehen, immer dieselbe Clique. Glaubst du, dass noch jemand dran glauben muss?«
»Ich hoffe nicht.«
»Ich fahre jetzt mal wieder. War gut, dich zu treffen.« Sie korkte die Flasche mit einem leise schmatzenden Laut zu, stand auf, reckte sich und ging zu ihrem Auto.
Ich blieb sitzen, war noch immer nicht müde und fand es erfreulich, dass ich in der Eifel einer Bäuerin begegnen konnte, die sich positiv über den eigenen Mann ausließ, die Menschen mochte und dabei einen kräftigen Schluck Selbstgebrannten aus der mitgebrachten Pulle nahm. Das hatte Stil.
Ich ging zur Haustür und fand sie selbstverständlich verschlossen. Das Siegel der Staatsanwaltschaft klebte auf dem Schlüsselloch.
Ich fragte mich, was für ein Typ Wilma war. Ein Tagebuchtyp? Nein, eher nicht. Aber sicher war sie ein Gedankentyp, der sich hin und wieder zu wichtigen Dingen etwas aufschrieb. Noch sicherer schien mir zu sein, dass sie Briefe schrieb, wahrscheinlich mit einem Füllfederhalter, wahrscheinlich hatte sie auf ihrem Sofa gehockt, eine Klemmmappe im Schoß gehalten, ein Glas Wein vor sich, eine Zigarette im Mund ...
Ich schlenderte um das Haus herum, die Nacht war hell, ich brauchte keine Taschenlampe. Da gab es tatsächlich die igluförmige bullige Kuppel eines echten Backes, daneben ein senkrecht vom Haus abstehendes kleines Gebäude, wahrscheinlich ein Stall für Kleintiere. Außerdem einen Kräutergarten, ich konnte die Zitronenmelisse riechen, und gleich daneben schloss ein Bauerngarten an, mit dicken Büschen von Dahlien in allen Farben, mit spätem, fast violett blühendem Mohn. Ich erkannte einen nach vorn offenen Schuppen – wahrscheinlich hatte er als Unterstand für das Auto gedient –, einen Haufen sorgfältig geschichtetes Brennholz, Birke und Buche. Und zwei rückwärtige Eingänge in das Haus, einer links, der andere rechts außen.
Der Eingang links war verschlossen, der Eingang rechts war offen.
Ich zögerte keine Sekunde, in das Haus hineinzugehen. Ich gelangte in einen weiß gekalkten schmalen Gang, der sich nach links in zwei Koben ausweitete, vermutlich für Schweine. Vor mir war eine schmale Tür, wie es sie oft in alten Bauernhäusern der Eifel gab, gerade breit genug, einen normal großen Menschen durchzulassen. Die Tür stand auf. Dahinter befand sich ein weiß gekachelter Raum mit einer Waschmaschine und quer durch den Raum waren Leinen zum Aufhängen der Wäsche gespannt. Ich fand einen Lichtschalter und drehte ihn. Wahrscheinlich würde man das Licht kilometerweit sehen können, aber ebenso wahrscheinlich war, dass sich mitten in der Nacht niemand drum scheren würde. Die in den Wohnbereich führende Tür war offen. Jemand von der Staatsanwaltschaft musste es eilig gehabt haben und ich war ihm dankbar.
Die nächste Tür brachte mich direkt in die Küche. Wilma hatte sie im alten Zustand gelassen, sie war reif für ein Museum. Die Feuerstelle lag auf einem Block aus roten Mauersteinen und darüber gähnte riesig ein Rauchfang. In diesem Rauchfang hingen zwei Hinterschinken und ein Dutzend große Hartwürste. Es roch wie in dem Zuhause, das sich jeder Mensch zuweilen wünscht.
Ich ging hinüber in das Wohnzimmer, in dem ich Wilma zuletzt vorgefunden hatte, als es ihr wegen des Mordes an Jakob Driesch so elend gegangen war. Ich schaltete alle Lichter an, die ich anmachen konnte.
Es war deutlich zu erkennen, dass der Raum durchsucht worden war, aber ebenso deutlich war, dass sich die Mordkommission bis jetzt nur einen ersten Überblick verschafft hatte und dass die gründliche Durchsuchung noch bevorstand. Die Beamten hatten sich naturgemäß auf Wilmas mit Akten und Briefschaften überhäuften Schreibtisch gestürzt. Vermutlich würden sie im Laufe dieses Tages zurückkommen und die Arbeit wieder aufnehmen.
Das, worauf ich aus war, würde ich wohl doch nicht in diesem Raum finden. Wahrscheinlich war Wilma eher die Type gewesen, die sich Notizen machte, wenn sie behaglich im Bett lag.
Im oberen Stockwerk gab es außer dem luxuriös eingerichteten Badezimmer nur einen weiteren Raum, ihr Schlafzimmer. Der Rest dieser Ebene war ein alter Heuboden, von dem ich wusste, dass Wilma ihn noch hatte ausbauen wollen. Ich erinnerte mich an ihre Worte: »Weißt du, ich wünsch mir einen Riesengammelraum, in dem nichts von Arbeit zu sehen ist, nur sinnlose, aber bequeme Dinge. Und ein Kamin.« In diesem Punkt hatten wir den gleichen Geschmack, nur hatten die Götter meinen Gammelraum abgefackelt.
Das Bett war groß, aus Kiefernholz und handgemacht, zwei mal zwei Meter, bezogen mit lustigem rotkarierten Bauernstoff. Und überall, an allen Rändern dieses Bettes lagen Bücher, die meisten aufgeschlagen oder mit eingelegten Zetteln versehen. Es gab Sachbücher, die sich mit Windenergie oder ganz allgemein mit alternativen Energien befassten, das meiste aber waren Romane. Automatisch zählte ich die Bücher, es waren dreiundzwanzig.
Offensichtlich hatten die Kriminalbeamten diesen Raum überhaupt noch nicht betreten, denn zu vieles deutete auf eine Unordnung ä la Wilma hin, nicht auf eine Durchsuchung.
Das, wonach ich zunächst Ausschau hielt, war eine Handtasche oder ein kleiner Rucksack. Mein Gedanke war, dass Menschen wie Wilma nur sehr wenige Dinge in wirklich intimem Gebrauch haben, weil sie großzügig sind und nahezu allen Besuchern ihre Häuser gänzlich öffnen. Die Erfahrung lehrt, dass diese Menschen Tagebücher, wenn sie überhaupt eines führen, mit sich herumtragen, und zwar immer im selben Gepäckstück, das sie auch mitnehmen, wenn sie unterwegs sind. Und als Landtagsabgeordnete war Wilma Bruns viel unterwegs gewesen.
Ich suchte vergebens, ich fand nichts dergleichen und dachte dann an ihr Auto. Sie hatte wahrscheinlich eine Handtasche im Wagen gehabt. Dann befand sich die Tasche nun in den Händen der Kripo.
Es lag eine Menge getragener Kleidungsstücke, Pullover, Blusen und Unterwäsche auf dem Boden und auf zwei Stühlen, aber nirgendwo in diesem Raum entdeckte ich auf Anhieb irgendwelche Unterlagen. Es gab hier auch keinen Tisch, an dem Wilma hätte schreiben können.
Ich sah auch im Badezimmer nach, weil es denkbar war, dass Wilma in der Badewanne gesessen und etwas aufgeschrieben hatte. Auch hier fand ich nichts.
Dann hörte ich deutlich ein Winseln. Der Hund! Es gab einen kleinen Hund, eine Welpe! Wie hieß er noch? Wilma hatte erwähnt, dass er ihr Beschützer sei. Richtig, Cisco!
Ich rief laut: »Cisco!« und rannte die Treppe hinab. Eine Sekunde lang dachte ich wütend: Wie konnten die Kriminalbeamten den kleinen Hund alleine lassen? Das Fiepsen wurde lauter und ging in eine helles Gebell über. Es wurde begleitet von einem scharfen Scharren, der Hund kratzte an einem Türblatt. Es war eine schmale Tür in der Küche, die ich bisher nicht beachtet hatte. Ich öffnete sie und der kleine Hund wischte hinaus und vor lauter Aufregung und Freude pinkelte er mit beachtlicher Kraft, während er an mir hochsprang, als sei ich Papi persönlich. Tränen der Freude. Da ich mit Tieren grundsätzlich so spreche, als hätte ich Artgenossen vor mir, hielt ich ihm sofort einen Vortrag über seinen neuen Lebensabschnitt, der ohne sein Wissen begonnen hatte. »Du bist ein armes Schwein, Cisco, du weißt es nur noch nicht. Frauchen hat sich auf die letzte Reise begeben und konnte dir nicht Bescheid sagen. Das ist traurig, aber nicht zu ändern. Ich werde dir also zu fressen geben, dann werde ich noch eine Weile bei dir bleiben und dann telefoniere ich mit der Mama deines Frauchens. Die wird dich holen. Und leck nicht meine Hände und wasch mir nicht das Gesicht, da bleibe ich ganz hart.«
Er war in einer Abstellkammer gefangen gewesen, in der ein leer gefressener Napf stand und ein altes, dickes Kissen lag. Der Raum hatte kein Fenster und vermutlich hatte Wilma damit erreichen wollen, dass sich das Tier an das Haus gewöhnte und immer wieder zurückkam. Ein uralter Bauerntrick.
Ich fand eine Dose Hundefutter und füllte den Inhalt in den Napf um. Dazu gab es einen Schluck Wasser. Cisco sah mich an, fand das alles ganz prima und begann, an einem alten Aufnehmer herumzuzerren, der auf dem Boden lag. Von Zeit zu Zeit hielt er inne und schaute mich an, als wollte er sagen: »Na los! Mach mit!« Aber mir war nicht danach.
Wenn Frauen wie Wilma etwas aufschreiben, was benutzen sie? Einen normalen Kalender? War irgendwo ein Kalender? Sie musste einen Timer haben, in dem sie alle ihre Termine eingetragen hatte, aber wahrscheinlich war der in ihrem Auto gefunden worden. Und persönliche Gedanken und Gefühle hätte sie einem solch bürokratischen Stück wohl ohnehin nicht anvertraut.
Cisco tollte um mich herum und biss sich in meinem rechten Hosenbein fest. Ich löste ihn sanft und nahm ihn auf den Arm. Ich erzählte von meinem Problem. »Sieh mal, sie hat irgendwo was aufgeschrieben, sie war eben eine Aufschreib-Tante. Hast du beobachtet, auf was sie geschrieben hat? Hast du nicht? Böser Hund.«
Seine Zunge fuhr quer durch mein Gesicht und ich hatte Furcht, er würde gleich erneut in Freudentränen ausbrechen. Also ließ ich ihn wieder laufen.
Ich drehte mich im Wohnzimmer in Zeitlupe einmal um mich selbst und betrachtete den Raum aufmerksam. Es ist eine Erfahrung, dass man auf diese Art leichter etwas findet, als wenn man sofort beginnt, Schubladen und Regale zu durchstöbern. Ich entdeckte nichts. Dann stieg ich wieder die Treppe hinauf in das Schlafzimmer. Jetzt suchte ich etwas anderes als einen Kalender oder etwas Ähnliches. Jetzt suchte ich erst mal einen Kugelschreiber, einen Füllfederhalter, einen Bleistift, irgendetwas, mit dem sie hatte schreiben können.
Die Anordnung in ihrem Bett war eindeutig: Sie hatte nicht unbedingt mit dem Kopf am Kopfende des Bettes gelegen, auch nicht quer auf dem Bett oder mit den Füßen nach oben auf den Kissen. Sie hatte sich wahrscheinlich nach Lust und Laune, je nachdem, welches Buch sie gerade reizte, hingelegt. Es gab nur einen Nachttisch, einen kleinen, aus massiver Buche geschnittenen Holzblock ohne Schublade. Auf dem standen ein Telefon und ein Wecker – ein Schreibutensil sah ich nicht. Aber am Fußende des Bettes stand auf der Fensterseite ein kleines Tablett. Auf dem Tablett befanden sich ein kleines Schnapsglas, ein Weinglas, eine Kaffeetasse – alle leer. Daneben ein voller Aschenbecher, ein Päckchen Tabak, ein Päckchen Zigarettenpapier. Und halb verdeckt von dem Tabak ein Füllhalter. Ich bewegte mich nicht, als könne das Schreibgerät davonfliegen.
»Hör zu, Hund«, sagte ich, »da liegt ein Füller, da muss sie geschrieben haben. Wenn sie da gelegen hat, um zu schreiben, dann muss sie ...«
Nun war es einfach, eines der Bücher hatte einen sattschwarzen Einband aus Leinen, ohne jeden Aufdruck. Es war kein normales Buch, sondern eines mit lauter Leerseiten. Von Rezepten bis hin zu Liebesbriefen – alles konnte man darin festhalten und sammeln.
»Hund«, sagte ich, »jetzt brauchen wir nur noch Glück!«
Das hatte ich. Die erste Seite begann mit den Worten: Ich möchte wissen, wie wir den Hollerather erklären sollen, weshalb das Projekt schon gestorben ist? Was, um Gottes willen, ist mit}. D. eigentlich los? Wilmas Schrift war großzügig und schwungvoll; sie hatte kein Datum eingetragen. Auf der Seite gegenüber stand: Ich bin mir durchaus nicht klar, ob ich diese Art von Karriere eigentlich will. Dann auf der gleichen Seite noch ein Satz: Es klingt ja bescheuert, aber eigentlich möchte ich, dass an meiner Garderobe wieder ein Männerhemd hängt. Ich blätterte um. Mit }. F. telefoniert. Irgendwie ist der gar nicht grün. Oder doch? Ein weiterer Satz auf derselben Seite: /. erklärt mir, er müsse bei Windenergie Pause machen. Es hängt ihm zum Hals raus, sagt er. Er sagt: Wenn du willst, mach weiter. Frage ist: Will ich? Antwort ist: Wahrscheinlich nein! Nächste Seite: Ein süßes Hotelchen für A. Alter Hof, liegt in Berk, nahe Quellgebiet der Kyll. Wieder kein Datum. Dann, noch mal umgeblättert: Sitzungen im Ausschuss in Mainz beschissen langweilig. Fraktion diskutiert und du fragst dich nach vier Stunden, wie eigentlich das Thema lautete. Berlin wäre aufregender.
Ich überlegte, ob ich das Buch mitnehmen sollte, und entschied mich dagegen. Ich würde Rodenstock darüber informieren, dass es das Buch gab.
Ich zählte die Eintragungen, es waren insgesamt sechzehn, und legte sie dann unter eine starke Lampe im Wohnzimmer, um sie zu fotografieren. Die letzten Eintragungen lauteten: Wieso gibt A. das Hotelchen zurück? Dann: Ich verstehe nicht, wieso }. sich so aufregt, schließlich ist er kein Hotelier, oder? Und zuletzt: Ich glaube, ich weiß jetzt, was ihn so aufregt. Ich habe begriffen, was eigentlich Sinn der Sache ist. Ikarus scheint wieder zu fliegen. Wann wird er stürzen?
Wann wird Ikarus stürzen? War das so etwas wie ein Code? Wer war Ikarus? Ich ging langsam die Treppe hinauf, das Buch in der Hand.
Cisco hatte sich auf Wilmas Bett zurückgezogen und betrachtete mich gelassen. Als ich mich auf das Bett setzte und beinahe der Versuchung erlag, über Wilmas dunkle Andeutungen ins Grübeln zu geraten, kam er zu mir, legte seinen Kopf auf meinen Oberschenkel und schielte zu mir hoch.
»Ja, ja, ich weiß, mein Alter. Du wirst mich auf Schritt und Tritt verfolgen und darauf hoffen, dass ich dich adoptiere. Aber darauf wird nichts, das kann ich meinen Katzen nicht antun.«
Es schellte unten an der Tür. Es war immer noch Nacht, es war vier Uhr fünfundvierzig. Eine verrückte Zeit für Kriminalbeamte. Außerdem hatten die einen Schlüssel, die würden nicht schellen.
Cisco sprang vom Bett und sauste kläffend die Treppe hinunter.
Ich ging ihm nach und bemühte mich um Gelassenheit. »Wer ist da, bitte?«
»Bergmann«, sagte ein Mann mit tiefer Stimme.
»Gehen Sie um das Haus herum, da ist eine offene Tür.«
Der Mann antwortete nicht, ich hörte, wie sich Schritte entfernten. Dann trat er ein, sah mich an, streckte die Hand aus und sagte: »Ich war ihr Pfarrer.
Und Sie sind dieser Journalist, von dem sie so oft erzählt hat?«
»Aha«, murmelte ich verwirrt und reichte ihm die Hand. »Ja, das bin ich wohl. Siggi Baumeister. Was treibt Sie hierher, mitten in der Nacht?«
»Zwei Sterbefälle«, erklärte er. »Darf ich mich setzen? Gibt es hier ein Bier oder so was?«
»Weiß ich nicht. Schnaps habe ich gesehen, Wein auch. Aber Bier? Ich schau mal nach.«
»Schnaps tut es auch«, sagte er leichthin. Dann strich er sich mit der rechten Hand über das Gesicht. Der Mann war erschöpft. »Ich habe das Licht hier gesehen. Da dachte ich, die von der Staatsanwaltschaft seien wieder hier. Wilma und ich, wir waren schließlich Freunde. Na ja, ist ja auch egal. Schade um Wilma, wirklich schade.«
Er war ein schmaler Mann und ich hatte den Eindruck, dass er anstelle eines Bauches ein gewaltiges Loch mit sich herumtrug. Sein Gesicht war blass und jung, das Gesicht eines Bücherwurms. Er trug einen schwarzen Anzug und einen schwarzen Rollkragenpulli. Und er hatte rote Hände, als würde er zu oft in seiner Küche stehen, um zu spülen. Seine Augen waren von einem ungewöhnlichen Hellblau; wahrscheinlich war er in der ersten Hälfte der Dreißiger.
»Ich dachte, sie hatte es nicht so mit dem lieben Gott«, sagte ich.
Er lächelte. »Hatte sie auch nicht. Sie hatte es mehr mit mir, um genau zu sein.«
»Ging sie denn am Sonntagmorgen zur Kirche?«, fragte ich weiter. »Eigentlich weiß ich nicht viel von ihr.«
Er starrte in die Luft vor sich. »Sie ist vor zehn oder zwölf Jahren aus der Kirche ausgetreten. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Polen in Rom, aber wer hat die nicht? Mit dem müssen wir eben leben.« Er trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand auf den Oberschenkel. »Wie sieht das aus mit dem Schnaps?«
»Oh, Entschuldigung.« Ich ging in die Küche, dort hatte ich eine Schnapsflasche gesehen. Ich goss ihm einen ordentlichen Schluck in ein Wasserglas und brachte es ihm. »Ich nehme an, ich darf hier den Gastgeber spielen.«
»Haben Sie einen Schlüssel?«, fragte er.
»Nein. Die Tür hinten im Haus war offen. Wenn Sie mich anzeigen, bin ich dran.«
»Werde ich nicht«, sagte er. »Ich bin auch eigentlich nicht hierher gekommen, weil ich die Leute von der Kripo sehen wollte, sondern weil ich hier sein wollte. Einfach so.«
»Deshalb bin ich auch hier«, nickte ich. »Sie war eine ungewöhnliche Frau.«
Cisco sprang auf Bergmanns Schoß. Der Geistliche tätschelte ihn und sagte: »Ja, Junge, Scheiße, was?« Dann fragte er, ob ich eine Zigarette hätte.
»Nein. Ich rauche meistens Pfeife. Aber oben am Bett liegt Tabak.«
»Den hole ich mir«, meinte er und lief hinauf.
Er machte es wie Hermine, er drehte die Zigarette mit einer Hand. »Hat man schon eine Ahnung, wer Driesch und Wilma erschossen hat?«
»Keine«, sagte ich. »Wir glauben, dass Wilma getötet wurde, weil sie begriffen hatte, wer Drieschs Mörder war. Und nur deshalb. Können Sie sich einen Menschen vorstellen, der so etwas tut?«
Er presste die Lippen aufeinander. »Ich will Ihnen beileibe nicht die Illusionen nehmen, aber selbstverständlich gibt es eine Menge Menschen, die so etwas tun können.«
»Was wissen Sie von Driesch?«, fragte ich.
»Eine Menge und das meiste ist gut«, antwortete er schnell. »Anna tut mir wirklich Leid.«
»Sie sagen, das meiste ist gut. Und wie sieht das Schlechte aus?«
»Nun ja, er hat sich nie geschont. Und er war in den letzten Monaten total erschöpft. Er hat die einfachsten Dinge versaut oder verschlampt, er hat das Projekt in Hollerath einfach an den Nagel gehängt. Er hat erklärt, er habe die Nase voll. Aber das war es nicht. Er hat es einfach nicht mehr auf die Reihe gekriegt. Das war es.«
»Das sind aber erstaunlich offene Worte.«
»Ein schweigender Pfarrer in der Eifel ist ein schlechter Pfarrer«, entgegnete er.
Ich wollte es wissen: »Waren Sie sein Beichtvater?«
»Ja, manchmal wenigstens.«
»Ohrenbeichte oder Gespräch?«
»Gespräch, nur Gespräch. Ich weiß, Mutter Kirche hat das nicht so gerne, aber Mutter Kirche wird es überleben.«
»Der Pole aber nicht.«
»Nein, der nicht.« Er nickte, trank von dem Schnaps und drückte den Zigarettenrest aus.
»Sie sind also ein Rebell«, stellte ich fest.
»Kann man so sehen«, sagte er. »Aber das ist gewissermaßen ein Problem der Person, nicht ein Problem der Kirche.«
»Ist denn Ihre Kirche von der Person abzutrennen?«
»O ja!«, antwortete er hell. »Und wie! Schauen Sie sich die Lösung des Konfliktes um die Schwangerenberatung an. Glauben Sie im Ernst, dass ich katholischen Frauen diesen absurden Blödsinn erklären kann?«
»Sind Sie überhaupt noch gern Pfarrer?«
»Vermutlich bin ich es sowieso nicht mehr lange«, murmelte er schläfrig. »Ich weiß, dass ich vielen alten Frauen und Männern ein Dorn im Auge bin. Sie schreiben anonyme Briefe an den Bischof und fordern einen neuen, anständigen Pfarrer.«
»Sie machen den Eindruck, als seien Sie darüber nicht gerade sauer.«
»Das ist wahr«, nickte er und grinste. »Ich sehe aber eine Chance in der katholischen Laienbewegung. Die haben noch Feuer im Arsch. Haben Sie persönlich jemanden in Verdacht?«
»Nein, habe ich nicht. Ich sehe noch nicht mal ein klares Motiv.«
»Wie bitte?«, fragte er verblüfft. »Das kann doch nicht wahr sein. Ich will nicht gerade behaupten, vollkommen informiert zu sein, aber ich gehe jede Wette ein, dass die Vorstände von mindestens zwei, wenn nicht drei großen Stromerzeugern jede Menge Gründe hatten, Driesch töten zu lassen.«
Baumeister, halt die Luft an und sage nichts! Oder sage wenigstens nichts Dummes. Der Mann könnte ein Geschenk des Himmels sein, besser noch – er ist ein Geschenk des Himmels.
»Würden Sie die Freundlichkeit haben, mir das genauer zu erklären?«
»Aber nur off the record! Bitte, zitieren Sie mich nicht.«
»Ich zitiere Sie nicht, versprochen.«
Er nahm erneut einen großen Schluck von dem Schnaps und sagte: »Einfach toll, das Zeug. Wussten Sie eigentlich, dass Manfred von Hülsdonk, der Vater von Annette, diese Brände macht? Der hat ein unglaubliches Talent in Sachen Schnaps. Die Kunst besteht nämlich darin, dass das Obst den richtigen Reifezustand hat, wenn es verarbeitet wird. Der Schwarzwald ist gegen unsere Obstler eine unterentwickelte Region.« Bergmann grinste. »Tja, die Stromerzeuger. Ich habe die Entwicklung der Windenergie in der Eifel verfolgt. Sie betrifft mich nicht, aber ich finde sie spannend. Da haben wir nun die Möglichkeit, Strom aus Wind zu erzeugen. In beliebiger Menge zu einem durchaus menschlichen Preis. Wir vergessen mal die Schreihälse, die behaupten, die Windräder seien zu laut oder ihre Häuser würden an Wert verlieren oder die Natur würde versaut, weil die Dinger einfach scheußlich aussehen und die Landschaft verschandeln. Stellen wir nur fest: Wir brauchen keine riesigen Kraftwerke mehr und Atomstrom kann uns auch kalt lassen. Die großen Stromerzeuger hatten den Energiemarkt unter sich aufgeteilt. Das ging Jahrzehnte gut und sie häuften irrwitzige Gewinne an. Dann schlich sich gewissermaßen von hinten die Windkraft in die Szene. Sofort begriffen die Monopolisten: Das wird gefährlich! Und sie taten alles, um das Geschäft mit Strom aus Windrädern klein zu halten, zu reglementieren – mit den Möglichkeiten des Gesetzgebers. Jetzt fallen plötzlich die Strompreise, weil der Markt freigegeben ist, europaweit, und andere Anbieter auftauchen. Ein ähnliches Schicksal hat den Telefonmarkt ja auch schon ereilt. Ich glaube übrigens nicht, dass Jakob Driesch grundsätzlich die Schnauze voll hatte von der Windenergie, ich glaube, dass er Hollerath nur zu einem späteren Zeitpunkt bauen und erst mal abwarten wollte, was auf dem Strommarkt passiert. Das hätte zu ihm gepasst. Aber zurück zu den Stromerzeugern. Sie kämpfen nun mit allen Mitteln um ihre Pfründe. Hier in der Eifel haben sie zum Beispiel versucht, sich auch den Trink- und Abwassermarkt unter den Nagel zu reißen. Es gibt Studien, die das belegen. Und dann betrat der Bundestagsabgeordnete Jakob Driesch die Bühne, ein honoriger Mann, der Windkraft will und fördert – und zwar in ganz neuen Dimensionen. Er sagte: Wir bauen keine kleinen Anlagen auf, sondern weitab von jeder Siedlung Großanlagen mit mehr als einhundert Einheiten. Es ist richtig, dass dabei Wald und Fläche verloren gehen, aber die kann man zu Ökoinseln machen. Hollerath könnte den Großraum Aachen mit Strom versorgen. Und das ist ein Angriff auf die Stromkonzerne. Was glauben Sie, was der Oberboss eines Stromerzeugers von Driesch hält?«
»Moment mal, Herr Pfarrer. Das heißt aber doch nicht gleich, dass jemand vom Vorstand hingeht und sagt: Nun lasst uns das Lebenslicht von Driesch ausblasen.«
»Für so naiv hätte ich Sie nicht gehalten«, grinste er. »Kein Mensch muss so etwas befehlen, jedenfalls kein Mensch im Vorstand. Jeder große Konzern verfügt heutzutage über eine Art Spionageabwehr. Es ist doch so, dass deutsche Unternehmen in diesen Zeiten ständig von Wirtschaftsspionen heimgesucht werden, Amerikaner, Japaner, Chinesen, Russen. Nun überlegen Sie mal: Ein Konzern engagiert ein unabhängiges Unternehmen, das für Sicherheit sorgen und die Spione überführen soll. Derjenige, dem die Betriebssicherheit des Konzerns untersteht, geht mit einem der obersten Spionenjäger essen. Bei Truthahnbrust in Senfkruste erwähnt der Obermanager so ganz nebenbei, dass die Windräder sich zu einer unangenehmen Konkurrenz entwickeln könnten und dass der Konzern mit seinem Latein am Ende ist. Der Spionenjäger hört sich das interessiert und höflich an. Der Manager lässt in das Gespräch einfließen, dass locker bis zu drei Millionen zu verdienen sind, schwarz, wenn es sein muss, falls jemand eine Idee entwickelt, wie man diese Entwicklung der Windkraft stoppen kann, wenigstens für die nächsten Jahre. Der Spionenjäger nickt und schweigt höflich. Aber er geht in dem Bewusstsein nach Hause, dass er einen Fuß in einer Tür hat, von der er niemals geglaubt hatte, dass sie sich für ihn öffnet. Er hat nur ein Problem: Es kann sein, dass er etwas falsch verstanden hat. Und weil er sichergehen will, schickt er dem Konzernmanager eine Rechnung, zum Beispiel mit dem Text: ›Hiermit berechne ich Ihnen, wie vereinbart, für die Entwicklung einer neuen Sicherheitsstrategie eine erste Abschlagszahlung von DM 270.000.‹ Postwendend bekommt er den Betrag überwiesen. Jetzt weiß er, dass er alles richtig verstanden hat. Jetzt muss er nur jemandem klarmachen, dass Driesch gefälligst auszulöschen ist – ohne direkt einen Mordauftrag zu erteilen. Es gibt Auftragskiller, daran besteht kein Zweifel. Aber möglicherweise erteilt er den Auftrag auch einem Mann aus den eigenen Reihen, denn dem kann er leichter begreiflich machen, wie maßlos gefährlich dieser Driesch und sein Projekt ist, und dass letztlich Tausende von Arbeitsplätzen davon abhängen, dass die Windräder verlieren. Leuchtet Ihnen das ein?«
»Kennen Sie denn einen Strommanager, dem ein solches Vorgehen zuzutrauen wäre?«
»Es gibt einen Mann namens Karl-Ewald Diepholtz, dem ich das zutraue, so ein Ding durchzuziehen. Aber den Namen haben Sie nicht von mir.«
»Und wo sitzt der?«
»In der Energiebehörde der Europäischen Union in Brüssel. Der Mann ist Liebkind der großen Stromerzeuger. Ein ekelhaftes Gewächs, wenn Sie mich fragen.«
»Was ist mit Wilma? Glauben Sie, sie ist ein Opfer der gleichen Geschichte?«
»Aber ja. Wilma ist mindestens so gefährlich gewesen wie Driesch. Nicht vergessen: Es geht um wahnwitzige Summen.«
»Wie kommt es, dass Sie so ausgezeichnete Szenarien entwickeln können?«
Er lächelte. »Ich habe doch gesagt, ich mochte Wilma. Für einen katholischen Priester denke ich unanständig oft an sie.«
»Hätten Sie sie geheiratet?«
Er senkte den Kopf, griff dann nach der Schnapsflasche, goss sich ein, trank einen Schluck und begann sich eine neue Zigarette zu drehen. »Ich denke, ja. Aber ich hatte nie eine Chance, mit ihr darüber zu sprechen. Ich war auch zu feige.« Plötzlich schössen ihm Tränen in die Augen und er schluchzte haltlos.
Cisco spürte etwas und legte seinen Kopf auf die Schuhe des Pfarrers. Der beugte sich noch tiefer und streichelte das Tier.
Ich kam mir ekelhaft vor, als ich weiter fragte: »Sagen Sie, Sie waren zuweilen der Beichtvater von Jakob Driesch und ich möchte Sie nicht nach irgendwelchen Dingen fragen, die unter das Beichtgeheimnis fallen. Doch erfahrungsgemäß gibt es kein Leben ohne Schattenseiten. Wie sahen die bei Jakob Driesch aus?«
»Ist Erschöpfung eine Schattenseite?«, fragte er.
»Nein, auf keinen Fall. Aber er war doch kein Heiliger, oder?«
»War er nicht. Gott sei Dank. Manchmal, das darf ich sagen, hatte er Fluchtgedanken. Aber wer in einem solchen Amt hat keine?«
»Wie sahen diese Gedanken denn aus?«
»Er hatte die Nase voll. Er sagte wörtlich: Ich würde das alles gern hinter mir lassen. Kannst du mir nicht eine kleine Insel in der Karibik kaufen? Nicht mal mehr die Familie macht mir Spaß. Ich würde am liebsten einen Rundumschlag machen und in einem hübschen Strandhaus in Malibu aufwachen. Derartige Sprüche eben.«
»Haben die sich in der letzten Zeit gehäuft?«
»Eindeutig.«
»Um das Thema zu wechseln, wieso hat sich Driesch eigentlich in die Geschichte des Hotels in Berk eingemischt, das der Annette von Hülsdonk gehören sollte? Ich komme darauf, weil ich eine Tagebucheintragung von Wilma gelesen habe.«
»Er hat sich gar nicht eingemischt. Er ist eingemischt worden. Annette hat ihn wohl gefragt, was er von solch einem Projekt hält. Und er meinte: Warum nicht, das ist eine gute Idee. Das war meines Wissens nach alles. Aber was soll das? Das Hotel ist doch längst wieder vom Tisch.«
»Wird das nicht gebaut?«
»Nein. Von Hülsdonk hatte es für Annette gekauft. Und aus irgendeinem Grund nach drei Monaten wieder verscherbelt. Warum? Ist das wichtig?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich halte die Ideen, die Sie vertreten, für nicht schlecht und erwägenswert. Können Sie sich vorstellen, zur Sonderkommission ins Aukloster nach Monschau zu reisen und sich mit denen zu unterhalten?«
»Durchaus, wenn mir Verschwiegenheit zugesichert wird.«
»Keine Frage«, erwiderte ich. »Ich kündige Sie an. Und vielen Dank für Ihr Vertrauen. Würden Sie so nett sein und das Licht im Haus ausschalten, wenn Sie gehen?«
»Mache ich. Es war gut, Sie zu treffen. Vielleicht sieht man sich ja noch mal.«
»Gut möglich.« Wir reichten uns nicht die Hand, ich ging einfach, Cisco im Schlepptau, der vor Aufregung wieder mal Wasser ließ und kläffte, als würden wir von Elefanten verfolgt.
Da war die erste Ahnung des Tages, ein rosafarbener Schimmer im Osten. Ich wartete einen Augenblick, bis Cisco ein paarmal gepinkelt hatte und hockte mich dann in mein Auto. Ich wählte die Nummer der Sonderkommission und verlangte Kischkewitz.
»Kischkewitz. Wieso bist du nicht im Bett?«
»Ich hatte keine Zeit. Ich habe einen Mann kennen gelernt, der Wilma Bruns liebte. Ein katholischer Pfarrer, der bald keiner mehr sein wird. Er will sich mit euch unterhalten. Er hat ein paar aufregende Phantasien.«
»Wie sehen die aus?«
»Er kann phantastisch beschreiben, warum ein Strommanager allen Grund hatte, Driesch und anschließend Wilma Bruns zu töten.«
»Wo ist der Mann?«, fragte er.
»Ich hab ihn zu euch geschickt, vielleicht kommst du mit seiner Hilfe weiter. Ich versuche nun, mich nach Hause durchzuschlagen und schlafen zu gehen.«
»Kriege ich eine Notiz? Ich meine, eine über die Unterhaltung mit dem Pfarrer?«
»Kann ich machen. Und besuch mal wieder deine Frau.«
»Scheißkerl!«, antwortete er liebevoll und unterbrach die Verbindung.
Langsam fuhr ich nach Deudesfeld und war zu faul, den Motor sorgsam zu schalten. Ich freute mich am Spiel der Farben im frühmorgendlichen Dunst, der über den Wäldern lag.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, in eine Wohnung zu gehen, in der keine Katze auf mich wartete. Der Hund folgte mir, war etwas zögerlich, fiepste vor Aufregung. Ich hatte kein Futter für ihn, fand aber dank Alwins hausfraulicher Verantwortung im Eisschrank ein paar Dosen Thunfisch. Ich gab Cisco davon und er fraß es mit Begeisterung. Ich zog mich aus und ließ die Kleider dort liegen, wo ich sie verlor. Dann kroch ich ins Bett und spürte noch, wie Cisco sich anschlich und sich dann mit einem erleichterten Seufzer unmittelbar vor meinem Gesicht in die Kissen sacken ließ. Der Hund wusste genau, was gut war.
Das Handy weckte mich. Rodenstock. »Du warst verdammt gut bei diesem Pfarrer. Der ist jetzt hier und erzählt.«
»Wie viel Uhr ist es?«
»Halb vier. Ich soll dich von Emma grüßen und um Entschuldigung bitten, dass sie in Aachen so mies drauf war. Und sie geht jede Wette ein, dass Driesch und Wilma nicht wegen der Windenergie getötet wurden. Sie meint, da gäbe es Überlegungen, auf die wir noch nicht gekommen seien.«
»Aha, und welche?«
Er lachte. »Das weiß sie noch nicht. Aber sie wird uns Bescheid sagen, wenn sie es herausgefunden hat. Du kennst sie ja, sie ist nie zufrieden.«
»Glaubst du, dass ihr den Fall überhaupt noch knacken könnt?«
»Nicht richtig«, seufzte er. »Es ist zu viel Zeit vergangen, zu viele Zufälle sind auf der Seite des Mörders. Wir wissen immer noch nicht, wo und wie Driesch die Stunden vor seinem Tod verbracht hat. Und für Wilmas Weg in das Moor haben wir ebenfalls keinen Zeugen. Wir machen irgendetwas falsch, fragt sich nur was. Darf ich dir Vera schicken?«
»Wieso das?«
»Sie soll protokollieren, wie das Gespräch mit dem Pfarrer ablief. Wäre wichtig für die Akten.«
»Muss das Vera sein?«
»Ja«, sagte er unerbittlich. »Außerdem will sie sich für ihr blödes Benehmen entschuldigen. Nun sei nicht so, Baumeister, sie ist doch eine gute Frau, oder?«
»Na gut, schick sie her.« Es passte mir überhaupt nicht. »Und wenn Emma eine Erleuchtung hat, soll sie sich unbedingt melden.«
›Wir wissen immer noch nicht, wie Driesch die letzten Stunden vor seinem Tod verbrachte. Wir wissen immer noch nicht ...‹, hämmerte es in meinem Kopf.
Ich machte mir einen Becher Tee, hockte mich auf den Balkon und rekapitulierte: Um 3.30 Uhr in der Nacht rennt, von Zeugen bestätigt, ein Mann hinter einem anderen Mann her und schießt auf ihn. Mindestens vier Schüsse werden aus einer Winchester abgegeben, die Patronenhülsen werden gefunden. Dann, im Abstand von zwei bis drei Minuten, folgt ein dritter Mann. Alle drei rennen die Stadtstraße entlang stadtauswärts. Um 4 Uhr, also dreißig Minuten später, läuft Jakob Driesch in der Rur in die entgegengesetzte Richtung und wird erschossen. Von sechs Kugeln aus einer Winchester in den Rücken getroffen. Wir haben also zwei Zeitphasen, über die wir nichts wissen. Erstens: Wo steckte er die halbe Stunde von den ersten Schüssen bis zu seinem Tod? Zweitens: Wo steckte er in den neun Stunden, seit er sein Haus in Schieiden verließ?
Da war irgendwo ein Fehler in unseren Überlegungen. Stellten wir die falschen Fragen?
Also, noch einmal: Driesch rennt zunächst parallel zum Fluss über eine Straße stadtauswärts. Eine halbe Stunde später läuft er parallel zu der Straße durch den Fluss Richtung Stadtmitte. Was heißt das? Baumeister, konzentrier dich! Was heißt das?
Cisco fiepste und sprang mir auf den Schoß. Musste er pinkeln?
»Musst du pinkeln?«, fragte ich. Er war darüber so erfreut, dass er auf meine Jeans pinkelte. Ich fand einen Strick und band ihm den um den Hals. Dann gingen wir Gassi. Cisco schoss auf jeden Baum zu, der so rumstand, und ich geriet ins Keuchen.
Praktisch lief meine Überlegung auf ein komisches Bild hinaus: Erst rennt Driesch aus der Stadt heraus, dann rennt er in die Stadt hinein. Raus aus den Kartoffeln, rin in die Kartoffeln. Warum?
Ich hatte bisher immer geglaubt, seine Flucht hätte sinnlosen Prinzipien gefolgt, sei etwas von reiner Panik und Todesangst Bestimmtes gewesen. Plötzlich war ich nicht mehr so sicher. Wenn seine Fluchtbewegungen gezielt und überlegt waren, was bedeuteten sie? Er rennt aus der Stadt heraus. Dann kehrt er wieder zurück. Wohin kehrt er zurück?
Das war der Punkt!
»Cisco«, sagte ich freundlich, »ich muss telefonieren. Ist deine Blase leer?«
Sein kurzes Kläffen deutete ich als Ja, band den Strick los und rannte ins Haus. Natürlich folgte Cisco mir, woraus resultiert, dass Stricke zuweilen dämlich sind.
Ich rief die Sonderkommission an, fragte nach Rodenstock, erfuhr, der sei nicht da. »Dann Kischkewitz. Und schnell, bitte.«
»Was ist so eilig?«, wollte Kischkewitz wissen.
»Ich glaube, ich weiß was. Erst rennt Driesch aus Monschau raus, dann wieder rein. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Warum macht er das, habe ich mich gefragt. Wir sind bisher immer von einer Panikreaktion ausgegangen, von unüberlegten Handlungen. Aber nimm einmal an, er rennt los, um von etwas abzulenken. Dann rennt er wieder zurück, weil er exakt dorthin will, woher er kam. Zieh also mal in Höhe der evangelischen Kirche an der Laufenstraße eine Linie. Hinter dieser Linie muss er gewesen sein. Logisch?«
»Aber wieso der Fluss, wieso nimmt er den Fluss?«
»Weil er nicht ganz zu Unrecht überlegt hat, dass der Mörder auf den Fluss als Flucht- und Rückweg nicht sofort kommen würde. Außerdem könnte die Flucht oder der Rückweg in die Altstadt durch den Fluss bedeuten, dass er vom Fluss aus direkt in das Haus gelangen konnte, in das er wollte. Oder rede ich irre?«
Kischkewitz schwieg lange. Dann murmelte er: »Haus am Wasser. Hin- und Rückweg. Baumeister, du kriegst das Großkreuz zum Bundesverdienstkreuz mit Schwertern und Eichenlaub am Bande sowie zahllose andere Nutzlosigkeiten. Ich knutsche dich, Mann.«
»Das wäre mir peinlich«, sagte ich und beendete die Verbindung.
Sofort klingelte das Handy wieder, es war Rodenstock, der lapidar und ohne jede Betonung mitteilte: »Der Vater von Annette von Hülsdonk hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Er kommt aber durch.«
»Mein Gott, der arme Mann. Wie hat er es denn gemacht?«
»Er hat sich aufhängen wollen, der Strick riss und er donnerte vier Meter tief auf den Betonfußboden seiner alten Scheune in Hellenthal. Beinbruch rechts, Beinbruch links. Aber das ist noch nicht alles. Anna Driesch hat einen Drohbrief bekommen. Zusammengesetzt aus Zeitungsbuchstaben. Da steht: ›Du wirst auch sterben! ‹ Keine Unterschrift. Und dann der dritte Punkt. Sitzt du zufällig?«
»Ich sitze.«
»Der Mann, den der Pfarrer erwähnt hat, dieser Bürokrat in Brüssel, der in Diensten der großen Stromversorger stehen soll. Karl-Ewald Diepholtz heißt der Kerl. Der hat nachweislich eine Verbindung in das Düsseldorfer Rotlichtmilieu. Unter anderem ist er ein guter Bekannter eines Kasachen, den die Szene als Roter Emil kennt und der für schmutzige Aufträge zuständig ist.«
»Das ist doch was«, murmelte ich mit trockenem Mund.