Fünftes Kapitel
Als ich wach wurde, hatte ich nicht eine Sekunde Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden. Ich lag neben der Tür zu dem Bienenhaus, die Tür stand weit offen und Albert Tenhoven ragte wie ein Berg vor mir auf. Ich hatte massive Kopfschmerzen und fühlte mich so erledigt, als hätte ich vierzehn Tage mit einer Viruserkrankung im Bett gelegen.
Tenhoven stand da in der Tür und schaute auf mich herab. »Wieso schleichen Sie nachts auf meinem Grund und Boden rum? Was soll das?«
»Ich bin gar nicht geschlichen, ich bin kein Indianer. Ich habe nur nicht geglaubt, dass Sie einfach verreist sind. Und wenn Sie so etwas wie ein Aspirin oder fünf Aspirin hätten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Wenn Sie verschwinden und nicht mehr zurückkehren, kriegen Sie eins. Aber nur dann.« Er hatte eine tiefe, sehr gemütliche Stimme.
»Dann will ich keines. Sie könnten mir wenigstens auf die Beine helfen, damit ich gehen kann.«
»Können Sie sich irgendwie ausweisen?«
»Ja, kann ich. Und ich war gegen Abend bei Ihrer Frau, sie wird Ihnen das schon berichtet haben. Verdammt, ich komme allein nicht hoch. Schlagen Sie immer die Leute zusammen, die nachts nach Ihnen suchen?«
Ich musste ihn irgendwie erheitert haben, er lachte. »Ich habe gedacht, Sie sind wer vom Finanzamt.«
Dann bückte er sich, fasste mich in den Achseln und stellte mich auf die Beine. Mir war schwindelig.
»Das muss ich aber erst einmal abklären«, sagte er dann scharf.
»Das können Sie ja«, erwiderte ich lahm.
»Gehen Sie mal vor mir her, den Weg da runter.«
»Okay. Jetzt müssen Sie nur noch sagen: Beim ersten Anzeichen von Flucht schieße ich sofort. In billigen Stoffen sagen die Leute das immer. Wie lange wollten Sie denn verschwunden bleiben?«
»Für Freunde bin ich gar nicht weg gewesen. Und nun gehen Sie schon.«
»Irgendwo muss eine Stablampe rumliegen. An der hänge ich.« Ich überlegte nicht, wie ich ihm entkommen könnte, ich war dankbar, dass er sich meiner so fürsorglich annahm.
»Die habe ich in der Hand. Jetzt aber ab.«
Wir gingen friedlich einen breiten, bequemen Weg zu Tal und sprachen erst einmal nicht mehr miteinander. Ich hoffte, dass das Wichtigste noch nicht gesagt war. Der Weg war kurz – hinunter durch eine kleine Senke, hinauf auf eine Bodenfalte, dann lag sein Hof vor uns.
»Rechts um die Scheune herum«, wies mich Albert an.
Als wir in das helle Licht des Strahlers gerieten, der über der Haustür angebracht war und den ganzen Hof in Helligkeit tauchte, rief seine Frau: »Wieso musst du die Leute immer gleich verprügeln?«
»Hat er gar nicht«, antwortete ich. »Im Gegenteil, er hat mich nur ganz schnell zusammengeschlagen.« Dann drehte ich mich zur Seite, um Albert zu mustern, denn schließlich will man ja wissen, wer einen auf die Bretter geschickt hat.
Er war zwei Köpfe größer als ich, hatte dichtes, graues Haar, das bis auf den Kragen seines dunkelblauen Pullovers fiel. Ein ziemlich wilder Bart bedeckte die untere Gesichtshälfte. Er trug abgetragene Jeans und schwere Arbeitsschuhe. Kurz gesagt: zwei Meter zum Fürchten und ein schwer wiegender Grund, keinen Streit anzufangen.
»Kann ich nicht doch ein Aspirin haben?«, fragte ich demütig.
»Gib ihm ein paar«, sagte er mürrisch. »Was soll ich denn tun, wenn er nachts über unseren Grund und Boden schleicht?«
Die Frau grinste kurz und murmelte: »Du lernst es nie!« Sie ging voraus ins Haus und ein paar Sekunden später hockte ich an demselben Tisch, an dem ich vor kurzem schon mal gesessen hatte.
»Darf ich mal Ihre Papiere sehen?«
»Sicher.« Ich reichte ihm die Ledermappe und Albert machte sich darüber her.
»Sie sind ja aus der Eifel«, stellte er erstaunt fest.
»Das bin ich. Können Sie mir verraten, weshalb Sie sich verstecken?«
»Könnte ich, tue ich aber nicht.«
»Das Gespräch hat einen erstaunlich hohen Level.«
»Das ist nicht mein Problem.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie wollen doch nur was über die Leiche Driesch wissen. Und darüber können Sie von mir nichts erfahren.«
»Doch«, widersprach ich. »Das kann ich schon. Sie wissen erstens, wie Driesch war. Und zweitens haben Sie enorm viel Ahnung von Windkraftanlagen. Schöne Grüße übrigens von Wilma Bruns. Im Übrigen haben Sie Recht: Ich hätte hier nicht herumschleichen sollen. Aber Sie hätten sich freiwillig nie gezeigt. Sie mögen ein körperlicher Riese sein, aber meine Backenzähne haben mit meiner Überzeugung verdammt wenig zu tun. Machen Sie mir also nicht vor, Sie hätten keine Ahnung. Vor wem laufen Sie weg?«
»Das geht Sie nichts an.«
Die Frau kam zurück und stellte mir ein Glas mit stark sprudelndem Wasser auf den Tisch. »Ich koch mal Kaffee«, sagte sie gleichmütig. Und dann, an Albert gewandt: »Er kennt Anna gut.«
»So? Tut er das?«, entgegnete er mürrisch.
»Es ist mein Beruf, ich bin Journalist. Ich will den Mord verstehen. Wenigstens versuchen zu verstehen.«
»Da kann ich nicht helfen«, sagte er.
Ich trank etwas und fühlte mich durch das kühle Wasser ein wenig besser.
»Sie sollten sich das Gesicht waschen«, riet die Frau sanft. »Sie haben etwas geblutet, da muss ein Pflaster drauf. Kommen Sie mal mit.«
Wir liefen einen schmalen Flur entlang, dann eine breite Treppe hinauf. Das Badezimmer war erstaunlich komplett und erstaunlich neu, mit einer riesigen mattblauen Wanne.
»Setzen Sie sich auf den Hocker da«, befahl sie.
Ich betrachtete mich flüchtig im Spiegel und fand, dass sie Recht hatte. Ich sah zum Fürchten aus. An der linken Augenbraue war ein schlimm aussehender Riss, dabei konnte ich mich gar nicht daran erinnern, dass Albert mich dort getroffen hatte.
Sie tupfte mir mit lauwarmem Wasser das Gesicht ab, verstrich sanft etwas Hamamelissalbe und klebte das Pflaster auf.
»Er ist ja gar nicht so«, sagte sie beruhigend. »Er hat es nur zurzeit etwas schwer.«
»Aha«, murmelte ich höflich.
»So, und jetzt können wir einen Kaffee trinken.«
In der Küche hockte Albert am Tisch und rauchte eine mächtige Zigarre. Ich dachte, dass er Rodenstock wahrscheinlich gefallen würde. Und wahrscheinlich war er alles in allem gar kein so übler Zeitgenosse.
»Was hat Ihnen Wilma denn erzählt?«, fragte er.
Ich stopfte mir eine stark gebogene Pfeife von Lorenzo. »Über Sie eigentlich nicht sehr viel. Dass Sie neu hier sind, Ökobauer, Ziegenkäse, Schafskäse, Honig. Dass Sie ein Feind von Windkraftanlagen sind. Ja, und von ein oder zwei Erlebnissen mit Ihnen.« Ich musste ihn darauf hinweisen, dass ich von seiner Affäre mit Wilma wusste. Und er kapierte es augenblicklich, er schloss die Augen und sein Mund wurde ganz schmal.
Die Frau stellte Becher vor uns hin, goss Kaffee ein und setzte sich. Sie zog ein Päckchen Tabak aus der Tasche, drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und atmete den Rauch tief ein. Dann sagte sie zu ihrem Mann: »Das kann sowieso nicht so weitergehen.«
Er antwortete nicht, er widerprach ihr nicht.
»Ich könnte ein Gespräch mit einem Mann vermitteln, der etwas abseits arbeitet. Das ist ein sehr guter Freund von mir. Der beste.«
»Was heißt denn hier abseits?«, fragte er aggressiv.
»Abseits heißt, dass er nicht für die Kripo arbeitet, aber Zugang zu allen Informationen über den Fall hat.«
»Was habe ich denn mit Driesch zu tun?«, maulte er.
»Das weiß ich nicht. Aber Sie werden als wichtiger Zeuge gesucht. Das wissen Sie doch ganz genau. Sie sind eine der Zentralfiguren, wenn es um Windkraft in der Eifel geht, also braucht die Kripo Sie. Das Schlüsselwort ist Windkraft.«
»Wieso denn das? Wieso muss die Geschichte mit Windkraft zusammenhängen?«
Ich überlegte einen Augenblick und spielte den Trumpf dann aus. »Passen Sie auf. Jakob Driesch war Ihr politischer Gegner, wenn ich das richtig verstehe. Er wollte Windkraft, und er hat sie durchgesetzt. Vor ein paar Monaten nun ist er für zwei Tage nach Mallorca geflogen und hat für ein spanisches Bauernhaus eine Million Mark in bar auf den Tisch gelegt. Und niemand, nicht einmal seine Frau, hat die geringste Ahnung, woher das Geld stammen könnte.«
Es war, als ginge die Sonne auf. Ein unendlich breites Grinsen zerfurchte Alberts Gesicht und seine dunkelbraunen Augen strahlten wie Weihnachtskerzen. Er flüsterte: »Ich habe es immer geahnt, verdammt, ich habe es immer gewusst. Jeder ist käuflich, einfach jeder!«
»Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich Ihr Wissen brauche«, setzte ich drauf. »Ich brauche Ihre Hilfe.«
Er stand auf und ging mit schweren Schritten zu einem uralten Küchenschrank, der verdächtig nach Gelsenkirchener Barock aussah. Er holte eine Flasche und Gläser heraus und drehte sich um. »Sie auch einen?
Mensch, darauf gehört einfach ein anständiger Brand!« Er kehrte zum Tisch zurück, goss sich ein, goss seiner Frau ein, goss mir ein und gluckste vor unterdrücktem Lachen. »Für diese Nachricht könnte ich Sie knutschen.«
»Bitte nicht«, sagte ich. »Das letzte Mal ist das schief gegangen.«
Albert begann dröhnend zu lachen. Er schlug sich auf die Schenkel und vor lauter Begeisterung verschluckte er sich. »Ich hab's dir gesagt, Minchen, ich hab's dir immer gesagt. Jeder ist käuflich, der edle Driesch auch.«
Ich musste ihm einen Dämpfer verpassen. »Moment, das ist nicht bewiesen. Das Ganze kann sich als vollkommen harmlos herausstellen.«
»Harmlos?«, fragte er verblüfft. »Da fliegt ein Bundestagsabgeordneter nach Mallorca und schiebt eine Million Bares über den Tisch? Erzähl das deiner Großmutter, Junge.«
»Ich heiße Hermine«, klärte seine Frau mich auf.
»Siggi«, erwiderte ich brav. Und so traten wir denn in die nächste Phase unserer Beziehung ein.
»Es ist erklärbar«, beharrte ich. »Ein einfaches Beispiel: Er hat Freunde, die zusammenlegen und sich das spanische Bauernhaus kaufen wollen. Er tut seinen Anteil hinzu und fliegt los. So simpel könnte das gewesen sein. Nimm zehn Freunde, dann ist jeder mit hunderttausend dabei.«
Albert überlegte eine Weile. Dann schüttelte er nachdrücklich den Kopf. »Niemals. Wenn das so gelaufen wäre, dann wüsste die Kripo längst Bescheid. Dann hätten sie den einen oder anderen der zehn längst ausfindig gemacht und ausgequetscht. So ist das nicht gelaufen, so nicht.«
»Du hast Recht«, gab ich zu. »Wahrscheinlich nicht. Aber wie denn dann?«
Albert Tenhoven sah seine Frau an und erneut ging ein Strahlen über sein Gesicht. »Quint!«, sagte er.
Seine Frau wiederholte bedächtig nickend: »Quint.«
»Wer ist Quint?«
»Ein Fall für sich!«, stellte Hermine fest.
»Das reicht mir nicht«, bemerkte ich giftig.
»Das hältst du im Kopf nicht aus, wenn du einen hast«, rief Tenhoven begeistert. »Ich wusste immer, dass da was läuft.«
»Darf ich mitlachen?«
»Ja, warum nicht?«, fragte Hermine. »Es ist ja für jeden genug da.« Sie kicherte hoch und schrill.
»Ja, der Quint«, murmelte Tenhoven bedächtig. »Also Quint heißt Paul Quint und ist ein belgischer Industrieller. Ungefähr fünfzig und so gefährlich wie ein Skorpion bei Nacht. Er residiert in Faymonville. Wenn du am Losheimer Graben über die Grenze gehst und die Straße nach Büllingen, Bütgenbach nimmst, dann liegt Faymonville linker Hand. Kleines Dorf, aber exquisite Landschaft und viele angenehm reiche Belgier. Quint macht in Öl, Erdgas, in russischem Gold, kanadischem Manganerz, und Quint macht in Immobilien im karibischen Raum.« Der Bauer lächelte und setzte hinzu: »Ich weiß das, denn ich habe alles Wissenswerte über ihn gesammelt, weil ich ihm nicht traue. Er ist in diesem für Industrielle typischen Alter, in dem sie plötzlich Ideologien entdecken und sich für irgendeine Sache stark machen. Du kennst das ja. Der eine fängt plötzlich an, den tropischen Regenwald zu schützen, der andere gibt eine Tageszeitung heraus und erfindet die Demokratie neu, der nächste schützt die Wale im Südpolarmeer. Quint entdeckte für sich die Windkraft. Ich sage ja nicht, dass das alles falsch ist, ich meine bloß: Man sollte sich erst einmal bedeckt halten und genau hinsehen. Südlich von Faymonville gibt es ein kleines Nest namens Möderscheid, sehr idyllisch. Und das Dreieck, das diese beiden Orte mit Büllingen bilden, das wäre der ideale Platz für eine Windkraftanlage. Niemand könnte sich beschweren, niemand würde gestört. Und Quint wollte dort eine Windkraftanlage hinstellen. Die Idee muss selbst ich als gut bezeichnen, denn dort ist es ökologisch vertretbar. Ich habe mir das Gelände genau angeschaut. Doch Quint bekam dafür keine EU-Gelder. Brüssel sagt: Wir sind doch nicht verrückt und bauen eine Anlage in Faymonville und die nächste gleich nebenan in Deutschland, in Hollerath. Und die Planung von Hollerath ist einfach schon viel weiter gediehen. Die haben die ersten bürokratischen Hürden schon genommen. Und vor etwa einem Jahr passierte es dann. Na ja, du weißt nicht, wie so was läuft.«
»Nun erklär es ihm doch, er ist doch nicht auf den Kopf gefallen«, sagte Hermine.
»Bin ich doch!«, widersprach ich grinsend.
»Es ist so, dass regenerative Energien eigentlich gefördert werden sollen. Europaweit. Doch jemand, der heutzutage eine Windkraftanlage bauen will, tut verdammt gut daran, die Sache möglichst schnell und komplett nach Recht und Ordnung, alle bürokratischen Schwierigkeiten berücksichtigend, durchzuziehen. Das ist ein simples, verdammt schnelles Spiel, und wenn du der Schnellste und Kompletteste bist, hast du große Chancen an die Gelder der EU zu kommen. Und deine Konkurrenten aus der gleichen Region haben das Nachsehen, weil die EU nicht so blöd ist, zwei oder gar drei Windkraftanlagen in der gleichen Region zu fördern. Wenn also Hollerath lahmarschig betrieben wird, sagt die EU: Na gut, dann kriegt das Geld ein anderer. Und dann legt so ein Quint in Faymonville los. So einfach geht das Spiel. Jeder, der eine Anlage plant, macht das zunächst heimlich und zügig. Bereitet er sich gut vor, dann kann er relativ schnell an Gelder kommen. Also gibt er Gas. Anfangs hat die Gruppe in Hollerath wirklich Gas gegeben, also Driesch, die arme Annette, Wilma und wie sie alle heißen. Sie haben sogar die Waldbesitzer auf ihre Seite ziehen können. Und dann, vor etwa einem Jahr, wurden sie plötzlich träge. Es kamen sogar schon Anfragen aus Brüssel, wo denn die Anträge auf Geldmittel blieben. Kein Mensch konnte sich das erklären. Driesch antwortete ausweichend, die Projektgruppe würde in einem Arbeitsstau stecken. Aber das stimmte nicht, das war kein Grund. Und kurz vor Weihnachten im vorigen Jahr, also vor einem Dreivierteljahr, legte plötzlich Quint in Faymonville los. Er ließ sogar den inzwischen erworbenen Grund schon roden. Er ist zwar eine Spielernatur, aber ich glaube schon, dass er einen Tipp aus Brüssel bekommen hat. Der Tipp kann nur gelautet haben: Bau dein Ding, die Konkurrenz schläft, der Zaster ist noch da. Gleichzeitig bedeutet das aber: Wenn Quint so etwas zu Ohren gekommen ist, dann muss das Projekt Hollerath aufgegeben worden sein.«
»Also hat deiner Ansicht nach Driesch die Million von Quint kassiert und dann die Pläne für Hollerath langsam einschlafen lassen.«
»Genau das!«, nickte Hermine. »Die Million hat Quint in der Portokasse, das fällt bei dem überhaupt nicht auf. Wenn Albert bisher so was vermutet hat, habe ich immer gesagt: Du spinnst. Aber wie es den Anschein hat, bekommt er wieder mal Recht. Alles passt zusammen.«
Albert strahlte seine Hermine an. »Als ich hörte, dass Quint angefangen hat zu roden, bin ich hingerast. Das wollte ich selbst sehen. Und ich habe es gesehen. Inzwischen hat er schon die Fundamente fertig, die Anträge liegen in Brüssel, und niemand glaubt, dass das Ding noch schief gehen kann. Wenn ich jetzt noch herausfinden könnte, wer die Windräder dort produziert und aufstellt...«
»Und ihr seid sicher, dass Driesch Quint gekannt hat?«
»Sehr gut sogar. Quint hat von Driesch sein ganzes Wissen über Windräder bezogen. Driesch war sozusagen Quints Lehrmeister der ersten Stunde. Das weiß ich ganz genau, weil Quint einen Workshop besucht hat, den Driesch geleitet hat. Ich war selbst auch dabei.«
»Allerdings gibt es nicht den geringsten Beweis für diese Theorie«, sagte ich vorsichtshalber.
»Aber es ist eine verdammt heiße Spur«, meinte Hermine.
»Das ist richtig. Doch mich stört, dass Wilma diesen Quint und sein Projekt nicht erwähnt hat. Sie tat so, als würde der Bau in Hollerath zwar angefeindet, sei aber letztlich sicher. Sie hat nichts von Verzögerungen erzählt.«
»Ach, Wilma«, sagte Tenhoven mit einem tiefen, leisen Lachen. »Du musst wissen, dass sie einen Traummann hatte. Und der hieß Driesch.«
»Das weiß ich, das hat sie gesagt«, nickte ich. »Aber für sie schien außer Frage zu stehen, dass die Anlage in Hollerath durchgezogen wird – eindeutig.«
Hermine mischte sich ein. »Vielleicht hat Driesch Wilma nicht informiert, vielleicht hat er sie in dem Glauben gelassen, die Planung in Hollerath sei sicher.«
»Aber warum das?«, hielt ich dagegen. »Das macht doch keinen Sinn. Wenn er im Bundestag in Berlin zu tun hatte, hat Wilma ihn hier vor Ort vertreten. Warum sollte sie irgendetwas nicht wissen? So unprofessionell kann Driesch doch nicht gewesen sein.«
»Weiß der Geier, was alles dahinter steckt«, polterte Tenhoven. »Es ist zu spät, sonst würde ich nun noch rumtelefonieren. Aber das kann ich morgen auch noch tun.«
»Morgen nicht, wenn du Montag meinst. Wir haben nämlich schon Montag. Du setzt dich jetzt am besten in dein Auto und fährst nach Monschau zur Sonderkommission ins Aukloster. Und vorher wüsste ich gern, weshalb du dich versteckst.«
Eine Weile herrschte Schweigen, irgendwo tickte laut eine altmodische Uhr, ein Radio wurde an- und wieder abgedreht.
»Sie schlafen schon wieder nicht«, seufzte Hermine.
»Also gut«, murmelte Tenhoven. »Die Steuer hat mich am Arsch. Das ist ein persönliches Ding zwischen dem Leiter der Behörde und mir. Er will mich verhaften lassen, er hat einen Haftbefehl durchgesetzt. Ich bin das, was man einen säumigen Steuerzahler nennt.«
»Na ja, so harmlos ist das Ganze nicht«, murmelte Hermine mit einem Seitenblick auf ihren Albert. »Wir haben nämlich, seit wir hier wohnen, noch keinen Pfennig Steuern bezahlt. Wir brauchten das auch nicht, wir würden befreit, weil bäuerliche Betriebe da gewisse Vorteile haben. Neugründung und Produktion von Gütern, die vom Hof direkt zum Verbraucher gehen, und so. Aber Albert hat die Anträge erst gar nicht gestellt, keine Umsätze gemeldet. Und irgendwann kam es zum Krach mit dem Finanzamtsleiter. Das ist zwar ein Behördenarsch, aber er kann ja schließlich auch nicht so, wie er will, er hat seine Vorschriften. Die beiden haben sich dutzend Mal angebrüllt wie die Kesselflicker. Dann wurde der Gerichtsvollzieher ein ständiger Besucher bei uns. Doch es eskalierte immer mehr. Schließlich wollte der Finanzamtsleiter gar kein Geld mehr, sondern nur noch Albert in sein Auto einladen und ihn abliefern. Das ist gar nicht mehr spaßig.«
»Dieser Scheißkerl!«, fluchte Albert. »Ich kann nicht zu deiner Kommission.«
»Du musst«, sagte ich. »Es hat überhaupt keinen Zweck, dem ausweichen zu wollen. Du kannst ihnen deine Lage erklären und sie können dir in Sachen Finanzamt helfen. Aber du musst ins Aukloster. Du hast möglicherweise den Fall gelöst. Und es ist eine Belohnung ausgesetzt, eine halbe Million.«
»Was?«, fragte er. »Für das Geld verprügel ich den Papst. Ach nein, der ist mir zu alt. Eine halbe Million?«
»Ja, also tummel dich, setz dich in deine Karre und fahr hin.«
»Es ist ein Uhr nachts. Ich bin nicht rasiert.«
»Und du muffelst!«, sagte Hermine streng.
»Die arbeiten rund um die Uhr. Du kannst schnell baden, dich rasieren. Okay?«
»Und sie ... sie schicken mich nicht zum Finanzamt rüber?«
»Das tun sie nicht«, versicherte ich. Aber davon war ich durchaus nicht felsenfest überzeugt. Ich kannte die Bocksprünge der Bürokratie nur zu genau. »Ich sage es ihnen, ich rufe jetzt an, du kannst zuhören.«
Ich wählte die Nummer der Kommission und verlangte Vera.
»Was treibst du mitten in der Nacht? Warum schläfst du nicht?«
»Weil ich den verschwundenen Albert Tenhoven aufgetrieben habe.«
Sie war überfordert. »Wen?«
»Den Ökobauern, den Ihr vernehmen wolltet.«
»Und? Was sagt er?«
»Er kann wahrscheinlich die Million erklären, mit der Driesch nach Mallorca geflogen ist. Und er hat von einem Mann namens Paul Quint erzählt. Tenhoven kommt gleich zu euch. Aber er hat ein Problem: Das Finanzamt will ihm an den Kragen. Kannst du ihm da helfen?«
»Oh, oh!«, machte Vera. »Du weißt, das ist heikel. Mal sehen, was ich tun kann.«
»Du musst ihn retten«, mahnte ich. »Sonst kommt er nicht.«
»Du bist ein Schätzchen, Siggi.« Sie lachte. »Na gut, sag ihm, ich helfe. Und er soll sich beeilen.«
»Habt ihr was Neues?«
»Ja. Zwei weitere Zeugen, die genau wie die alte Dame behaupten, dass es gegen halb vier in der Nacht auf der Straße einige Mal geknallt hat. Also eine halbe Stunde, bevor Driesch starb. Auch diese beiden haben sich nicht gemeldet, weil sie annahmen, das sei nicht wichtig.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich. »Bis später.«
»Halt, warte. Was hältst du davon, übermorgen mit mir essen zu gehen? Du bist eingeladen.«
»Danke, das tue ich. Ich melde mich. Ich fahre jetzt eine Runde schlafen.«
»Ich beneide dich.«
Ich wandte mich an Tenhoven. »Mach dich auf die Socken. Sie helfen dir in der Finanzamtssache. Und bitte, erkläre ihnen das mit Quint und seiner Anlage in Faymonville genau. Ich muss jetzt, Leute. Es hat mich teilweise gefreut.«
»Du kriegst nie mehr einen aufs Maul«, versprach Tenhoven. Seltsamerweise wirkte er verlegen und sah angelegentlich auf seinen Schnaps hinunter.
»Wenn du deinen Enkeln von deinem wilden Leben erzählst, dann vergiss uns nicht«, meinte die wunderbare Hermine. Und sie umarmte mich tatsächlich, weil ich ihr wahrscheinlich geholfen hatte, ohne das zu wollen.
Die Nacht war lauwarm, selbst in dieser Höhe machte es Spaß, mit offenen Fenstern zu fahren. Da ich dachte, die Sache sei zu wichtig, rief ich Wilma Bruns an und schaltete den Freisprecher ein.
»Siggi hier. Ehrlich gestanden bin ich sauer auf dich. Warum hast du mir eigentlich die Konkurrenz in Faymonville verschwiegen? Und warum hast du nicht gesagt, dass es in eurer Planungsgruppe schon seit Monaten so langsam zugeht wie bei einer Schnecke?«
»Ich ... ich wollte dich mit diesen Mickrigkeiten nicht belasten. Es ist sowieso schon schwer genug, die Hintergründe zu verstehen.«
»Mickrigkeiten? Ich bitte dich! Warum hat Driesch das Projekt verzögert?«
»Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht, weil er von Windkraft so langsam die Nase voll hatte. Jedenfalls hat er mir immer wieder gesagt: Mach dir keine Sorgen, wir bauen den Park und Faymonville ist keine Konkurrenz. Zuletzt vor vierzehn Tagen.«
Nun war ich vollkommen verwirrt. »Darüber würde ich gern in Ruhe mit dir reden, wenn du nichts dagegen hast. Quatsch, das ist die unprofessionellste Bemerkung des Jahres. Darüber müssen wir reden. Warst du von dem Kerl so geblendet, dass du jedes seiner Worte glaubtest? Was läuft da bei dir ab? Wir müssen reden, Frau!«
»Kein Problem«, sagte sie munter. »Ich bin sowieso unter Bewachung. Vor dem Haus steht ein leibhaftiger Streifenwagen mit einem Zivilbeamten drin. Und jetzt besaufe ich mich langsam.«
»Tu das nicht«, brauste ich zornig auf. »Lass das sein. Du brauchst jetzt einen klaren Kopf.«
»Wozu denn? Der passt doch auf. Ich brauch doch gar keinen Kopf.«
Ich unterbrach die Verbindung und gab wieder Gas. Ich fühlte mich ausgelaugt und wollte schlafen. Gegen halb drei war ich in Deudesfeld. Ich wunderte mich, dass im Flur keine Möbel mehr standen. Ute und Alwin hatten alles an seinen Platz gerückt. Auf einem Tisch stand ein Brett mit belegten Broten, daneben eine Flasche Wasser und ein Zettel: Wir haben es dir etwas angenehmer gemacht. Nun genieß dein Ersatzzuhause!
Ich war zu müde, um gerührt zu sein, ließ die belegten Brote einfach im Kühlschrank verschwinden, legte mich auf das Bett, schaltete vorher den Radiowecker aus und schlief sofort ein.
Ich träumte wirres, aufregendes Zeug. Jemand jagte mich durch einen Wald, und auf meinem Fluchtweg standen mir unbekannte Menschen und feuerten mich an, ich solle schneller laufen. Und als ich mich umdrehte, um meinen Verfolger zu betrachten, war der irgendein fremdes Tier von einem fremden Stern, war glitschig, bläulich, von ungeheuren Ausmaßen, hatte mindestens sechs tentakelähnliche Arme und sabberte eine Flüssigkeit, die rot war wie Blut. Das weckte mich, das war stark genug. Es war freundliche elf Uhr an einem sonnigen Montagmorgen, die Welt hatte mich wieder, der Schweiß stand mir auf der Stirn, das Leben machte mir nur begrenzt Spaß.
Ich taumelte aus dem Bett, von aussteigen konnte keine Rede sein, und stolperte in die kleine Küche. Ute hatte mir ein Pfund Kaffee hingestellt mit einem Stapel Filter. Neben einer Kaffeemaschine lag ein Zettel.
Da deine Maschine im Löschwasser ersoffen ist, haben wir uns gedacht, wir spendieren dir eine neuel Viel Spaß! Ute
PS: Mittlerweile haben rund zwanzig Leute angerufen, wie es dir denn so geht. Und ich habe versprochen, du würdest sie zurückrufen. Hier ist die Liste mit den Namen:...
Es folgten zwar nicht gerade zwanzig Namen, aber vierzehn. Ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Während der Kaffee durchlief, machte ich die Andeutung einer Katzenwäsche. Dann hockte ich mich auf einen Sessel, den Andreas mir freundlicherweise gepumpt hatte, erinnerte mich an die belegten Brote, holte sie aus dem Kühlschrank, nahm einen Teller, von dem ich nicht wusste, wer ihn mir geliehen hatte, und wollte genüsslich frühstücken und dabei über den Lauf des Schicksals nachdenken. Zuerst fiel mir der Becher mit Kaffee um und floss über den Tisch, der mein eigener war, dann bekam ich Schwierigkeiten mit der Kunststofffolie, die über die belegten Brote gelegt war. Am Ende kullerten die Brote über den Teppich, von dem ich keine Ahnung hatte, wem der gehörte.
Das Telefon setzte den Schlusspunkt unter meinen Versuch, gemütlich zu frühstücken. Rodenstock sagte: »Ich brauche dich jetzt dringend.«
»Wo?«
»In Mützenich. Wilma Bruns ist tot. Hohes Venn, du weißt schon. In einem Moorweiher versackt. Vielleicht ertrunken, wir wissen es noch nicht genau.«
»Ich komme«, stammelte ich. »Noch heute Nacht habe ich mit ihr telefoniert.«
»War was Besonderes?«
»Ja, eine erstaunliche Sache. Aber da sie jetzt nicht mehr lebt, läuft uns das nicht weg. Ich erzähle es dir, wenn ich da bin.«
»Gut. Du fährst durch Mützenich durch weiter auf der Straße nach Eupen. Kurz nach dem Ortsausgang ist rechter Hand ein Parkplatz. Dort parkst du und überquerst die Straße. Du kommst auf einen schmalen Pfad. Dann siehst du uns schon. Es sind belgische Kollegen da. Ich sage ihnen Bescheid, dass du kommst, wir haben alles abgesperrt.«
»Sie hat heute Nacht gesagt, sie wolle sich besaufen.«
»Das hat sie. Aber das allein kann nicht der Grund sein, dass sie 65 Kilometer von ihrem Haus entfernt am frühen Morgen in ein Moor gestolpert ist. Wann hast du mit ihr telefoniert?«
»Das muss gegen zwei Uhr gewesen sein. Ich kam von Tenhoven.«
»Ich habe davon gehört. Großes Lob. Komm jetzt, wir müssen jedes Hirn einspannen, der Fall wird mir langsam unheimlich.«
Ein paar Minuten später startete ich, die Eifel lag immer noch unter einer heißen Sonne und niemand hatte Kühlung versprochen.
Im Grunde wirkte das alles viel zu trivial, um Realität zu sein. Rodenstock hatte prophezeit: »Möglicherweise ist Wilma Bruns die Dritte.« Nun war sie die Dritte. Wo war der Beamte geblieben, der sie hatte beschützen sollen? Wie war sie nach Mützenich in die traumhaft schöne Moorland schaff geraten?
Es war nicht schwer, den Ort zu finden, denn die belgische Polizei hatte die Straße abgesperrt und ließ niemanden durch. Ich sagte, wer ich sei, berief mich auf Rodenstock und durfte weiterfahren. Ich parkte den Wagen, querte die Straße und war auf dem Pfad, der zu einer hölzernen Aussichtsplattform für Wanderer führt. Tafeln erklären, wie dieses Moor entstanden, dass es abgrundtief und lebensgefährlich ist. Der Pfad ist nur durch senkrecht stehende und quer gelegte dünne Fichtenstämme, die als Geländer dienen sollen, gesichert. Er führt um das erste Loch herum, das vielleicht einen Durchmesser von dreihundert Metern hat. Hier blühen im Frühling millionenfach gelbe Narzissen, ein unglaublicher Anblick, eine richtige Detonation in Gelb. Später im Jahr überzieht ein weißer Schimmer das Land, das Wollgras breitet sich aus. Wer sich die Mühe macht und sich bückt, sieht den Sonnentau, das winzige Fleisch fressende Ungeheuer. Ich starrte auf die Wasserfläche, die absolut ungefährlich, ja harmlos wirkte, und erinnerte mich an eine alte Frau, die einmal neben mir gestanden hatte, als gerade die Narzissen das Land erobert hatten. Die Frau hatte geweint und gesagt: »Das hat der Herrgott schön eingerichtet.«
Jetzt war Wilma Bruns gekommen, um hier zu sterben.
Ich entdeckte zweihundert Meter weiter Rodenstock und Emma, die mit anderen Männern zusammenstanden. Sie winkten. Ich ging langsam auf sie zu und stopfte mir dabei eine Pfeife. Wilma musste auch hier entlang gegangen sein, denn hier konnte kein Auto fahren. Hatte Nebel über dem Wasser gelegen, war sie unglücklich gewesen? Wollte sie sterben?
»Sie ist bis hierher gekommen«, sagte Emma. »Guten Morgen, Baumeister. Hier ist sie unter dem Geländer her gekrabbelt und dann einfach geradeaus gegangen. Sie ist maximal fünf Meter weit gekommen.«
»Wieso hat man sie gefunden? Ich denke, das Moor verschluckt alles.«
»Das ist richtig«, meinte Rodenstock. »Aber ihr rechter Schuh hatte sich an einer kleinen Weide festgehakt. Siehst du sie dort? Heute Morgen gegen acht Uhr ist ein Wildhüter hier entlang gekommen, Routinegang. Der hat ihren Schuh entdeckt.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Auf der Straße weiter unten steht der Laborwagen. Die belgischen Kollegen helfen uns. Sie machen jetzt erste Blut- und Flüssigkeitsuntersuchungen, die ganze Latte der ersten Routine. Wir brauchen schnelle Erkenntnisse. Wir müssen wissen, ob wir Selbstmord ausschließen können, obwohl alles danach aussieht.« Rodenstock paffte eine seiner gewaltigen Zigarren. Das war am hellen Tag und vor dem Mittagessen ungewöhnlich.
»Keine weiteren Spuren? Ich meine, hat sie jemand begleitet?«
»Wir wissen es noch nicht genau«, sagte Emma. »Die Spurenleute müssen Wilmas Spuren mit vielen anderen vergleichen. Dieser Pfad ist immer sehr feucht. Was meinst du, Baumeister, wurde sie umgebracht?«
»Ja, ich glaube schon«, sagte ich. »Wahrscheinlich habe ich heute Nacht Wilma ganz ungewollt auf etwas aufmerksam gemacht, dessen Bedeutung sie erst begriff, als wir unser Gespräch beendet hatten. Und jetzt können wir sie nicht mehr fragen. Rodenstock, was ist deine Meinung?«
»Ich glaube auch, dass sie getötet wurde. Erzähl mal, was letzte Nacht los war!«
Ich versuchte, mich so kurz wie möglich zu fassen. »Da wird eine Windkraftanlage in Hollerath geplant. Solche Anlagen werden mit beträchtlichen Mitteln von der Europäischen Union, dem Bund und den Ländern gefördert. Diese Gelder fließen jedoch erst, wenn die ersten Planungen abgeschlossen sind. Also gerade zu Beginn eines solchen Projekts ist Eile geboten, um möglichst schnell an diese Mittel zu kommen. Und genau hier ist in Hollerath aus irgendeinem Grund am Ende etwas schief gegangen. Vor etwa einem Jahr haben die Brüsseler Bürokraten sogar in Hollerath nachgefragt, wieso die Anträge auf die Gelder noch nicht eingegangen seien. Das bedeutet: Driesch und seine Arbeitsgruppe haben geschlampt. Wilma Bruns eingeschlossen. Dadurch konnte ein belgischer Finanzier aus Faymonville, Paul Quint, ins Geschäft kommen, der hier in Belgien eine Windkraftanlage auf die Beine stellen will. Es wird ihm gelingen, wenn das so weitergeht, Hollerath ist eigentlich schon aus dem Rennen. Und zwar durch Hollerath selbst, also durch Driesch. Und heute Nacht hat Wilma Bruns mir klarzumachen versucht, dass Driesch sich absolut sicher war: Hollerath würde auf jeden Fall gebaut. Ich habe Wilma zu verstehen gegeben, dass Driesch mit Hollerath gescheitert war. Und nun bin ich überzeugt davon, dass sie bei der Gelegenheit zum ersten Mal begriff, was da wirklich abgelaufen ist.«
»Ob Wilma Bruns wohl hierher gekommen ist«, fragte Rodenstock bedächtig, »um sich mit jemandem zu treffen, um mit dem über das Hollerath-Projekt zu sprechen?«
»Das überlege ich auch gerade«, nickte ich. »Nehmen wir mal an, sie ist sich klar darüber geworden, dass Hollerath geplatzt ist. Das bedeutete für Wilma politisch eine große Niederlage. Vielleich konnte das ihre Zukunft in Frage stellen. Denn so eine Anlage wird von Profis verwaltet und gesteuert. Und sie war ein Profi. Wenn sie, völlig berechtigt, später in die Geschäftsleitung einsteigen wollte, dann war dieser Traum jetzt tot. Das kann sie in Panik versetzt haben. Wenn sie hier jemanden getroffen hat, dann war das also ebenfalls ein Profiauf dem Gebiet der Windkraft.«
»Ja, du hast Recht«, bestätigte Emma. »Und ihr Auto ist nicht hier. Das heißt, sie ist mit ihrem Auto von zu Hause weggefahren, aber hier nicht damit angekommen. Also hat sie unterwegs jemanden getroffen, zu dem sie in den Wagen gestiegen ist. Logisch?«
»Logisch!«, nickte Rodenstock. »Nun machen Sie mal weiter, Frau Kollegin.«
»Sie steigt zu jemandem ins Auto, sie fahren hierher. Wahrscheinlich haben sie diesen Ort gewählt, weil sie hier sicher sein konnten, absolut ungestört zu sein. Hier kann man reden, hier ist um diese Zeit niemand. Wann war heute Sonnenaufgang?«
»Irgendwas um sechs Uhr herum«, sagte ich.
»Okay«, sagte Emma und schaute auf den matschigen Boden zu ihren Füßen. »Sie haben also genügend Licht, um ein paar Schritte spazieren zu gehen. Wahrscheinlich wollten sie gar nicht das Moor durchqueren, nur ein paar Schritte tun, die Köpfe freibekommen, das Problem begreifen. Denn sie haben laut Baumeister das Problem, dass das gesamte Projekt Hollerath gestorben ist. Richtig? Richtig! Und was passiert dann?« Sie starrte auf das Morr hinaus und erschauerte.
»Jetzt hast du dich ein wenig vergaloppiert, Liebling.« Rodenstock war behutsam. »Wir wissen, dass der erste Alkoholtest ergeben hat, dass Wilma 1,9 Promille hatte. Sie hatte ganz schön zugeschlagen. Und ich gehe jede Wette ein, dass der, den sie traf, das merkte. Und natürlich wollte der eine nüchterne Wilma, nicht eine betrunkene. Also ist der Spaziergang hier im Moor vermutlich eher als ein Mittel zu sehen, dass Wilma wieder zu sich kam.«
»Falsch!«, sagte Emma scharf. »Jetzt ziehst du einen Schluss aus einem Schluss. Das ist Kriminalisten nicht erlaubt, jedenfalls nicht, solange es andere Theorien gibt. Es ist genauso gut möglich, dass die Person, die Wilma traf, sofort begriffen hat, dass Wilma betrunken war, und sie bewusst hierher brachte, weil hier die Möglichkeit bestand, Wilma zu töten.«
»Einsame Spitze«, bekannte ich andächtig. »Wir haben zwar noch keinen Beweis, aber das alles zusammen ergibt ein Bild. Demnach hat jemand Driesch getötet, der ein massives Interesse daran hat, dass Belgien den Windpark baut und nicht die Bundesrepublik in Hollerath.«
»Das könnte stimmen«, sagte Rodenstock langsam. »Kann aber auch vollkommen falsch sein. Wenn es so ist, dass Driesch das Geld aus einer belgischen Quelle bezogen hat – warum musste er dann getötet werden? Das gibt doch gar keinen Sinn. Er war aus dem Geschäft als Konkurrent eh raus.«
»Deine Gehirnwindungen funktionieren ziemlich ekelhaft ...« Ich überlegte beinahe hektisch. »Von der Troika, die Hollerath steuerte, lebt niemand mehr. Annette ist tot, Wilma ist tot, Jakob ist tot. Genau genommen hat der Belgier schon seit langem das Rennen gemacht. Es ist daher aus seiner Sicht absolut unnötig, jemanden zu töten. Also ... Ach verdammt, wir fangen an, uns im Kreis zu drehen. Wir müssen erst mal wissen, ob Wilma überhaupt umgebracht wurde oder nicht.«
Vera kam den Pfad entlang auf uns zu, sie wirkte sehr zerbrechlich und lächelte verkniffen. »Seid ihr weitergekommen?«
»Nein«, sagte Emma. »Ihr? Habt ihr Wilmas Auto?«
»Nein, noch nicht. Wir haben vier Streifenwagen losgeschickt, das kann noch Stunden dauern.«
»Eine Frage«, sagte ich. »Sie hatte einen Beamten als Wachhund. Wo ist der denn abgeblieben? Das wird ein gefundenes Fressen für meine Branche sein.«
»Das ist mehr als schlimm«, antwortete Vera und sah niemanden von uns an. »Der Mann steckt in massiven persönlichen Schwierigkeiten. Ehekrise und so. Er hat sich nach Mitternacht sechs bis acht Flaschen Bier an den Hals gesetzt und war vollkommen außer Gefecht. Er war noch um zehn Uhr heute Morgen nicht ansprechbar. Das wird ihn den Job kosten. Und wir werden alle Mühe haben, den Medien die Panne zu erklären. Sie werden uns total verreißen. Kischkewitz ist ungenießbar, weil er sofort vor den Minister zitiert wurde.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich.
Rodenstock sagte: »Du hast die Spur vom Belgier Quint aufgegriffen. Wir sollten versuchen, so schnell wie möglich mit dem zusammenzukommen. Wie weit ist dieses Faymonville von hier entfernt?«
»Fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer, schätze ich. Was willst du ihn fragen?«
»Ob er Driesch eine Million geschenkt hat, was sonst?«, lächelte Rodenstock. »Damit ihm sofort der Arsch auf Grundeis geht, werde ich mich als BND-Agent anmelden.«
»Darf ich mit?«, fragte Emma scheinheilig. »Ich habe noch nie im Leben einen leibhaftigen Agenten bei der Arbeit gesehen. Du, Baumeister?«
»Noch nie. Vor allem noch nie diesen legendären Agenten. Wie war doch gleich sein Name? Rodenkirchen? Oder wie?«
»Ihr seid arrogante Typen«, entschied Rodenstock. »Und vor allem seid ihr neidisch. Ich gehe mal telefonieren.« Er schlenderte den Pfad entlang.
»Ich muss wieder«, murmelte Vera. »Wir sollten warten, bis Wilmas Ergebnisse kommen.«
»Warte mal einen Moment«, stoppte ich sie. »Wenn die Zeugen das richtig gesehen haben, ist Driesch doch anfänglich auf der Straße parallel zum Fluss flussaufwärts gelaufen, nicht wahr? Und anschließend, kurz bevor er getötet wurde, wieder flussabwärts.«
»Richtig«, nickte Vera. »Und nach ihm kam ein Verfolger. Und nach dem Verfolger noch eine dritte Person.«
»Haben die neuen Zeugen die dritte Person inzwischen auch bemerkt?«
»Ja, zweifelsfrei. Denn einer dieser Zeugen, ein Rentner, ein ehemaliger Lehrer, stand mit seinem Hund, den er Gassi führen wollte, unten in der Haustür. Er hat einen Mann davonrennen sehen, dem ein anderer folgte. Ein bis zwei Minuten später kam noch einer vorbei.«
»Und das waren mit Sicherheit alles Männer?«
»Na ja, da würde ich mal Misstrauen empfehlen. Der Lehrer kann nicht mehr gut sehen, der dritte Zeuge, ein Kellner, trägt eine Brille mit Glasbausteinen. Das Licht um die Zeit war nicht ausreichend für eine einwandfreie Identifizierung.«
»Uns fehlen dann immer noch achteinhalb Stunden von seinem Leben«, stellte Emma fest.
»Aber wir haben jetzt eine Richtung«, dachte ich laut.
»Driesch rennt die Straße flussaufwärts. Biegt dann aus unerfindlichen Gründen nach links ab, klettert irgendwo und irgendwie in den Fluss und rennt im Grunde den gleichen Weg wieder zurück. Mitgekommen? Er muss einen Grund gehabt haben, den gleichen Weg zurückzulaufen. Das kann heißen: Er hatte irgendwo jenseits der Brücken flussabwärts ein Ziel.«
»Gut gedacht«, nickte Emma.
Dann schwiegen wir und blickten über das Moor.
Eine Gruppe Spurenleute kam und begann vorsichtig an einer bestimmten Stelle relativ breite Bretter zur Wasserfläche hin auszulegen. Es waren drei Männer, die schweigend und konzentriert arbeiteten. Der kleinste und somit leichteste von ihnen, ging vor bis an das jeweilige Ende des provisorischen Stegs und ließ sich ein Brett nachreichen, das er langsam auf das Moor vor sich legte. Nach fünf Brettern waren sie ungefähr sieben bis acht Meter weit gekommen und einer von ihnen sagte: »Das reicht jetzt! Wir sind jetzt gut drei Meter weiter, als Frau Bruns gekommen ist. Ihr Schuh hing da rechts in der kleinen Weide. Falls sie etwas verloren hat, muss es hier auf dieser Linie liegen. Falls es zu schwer war, werden wir es sowieso nicht mehr finden. Hardy, bitte leg dich mal flach auf das vorderste Brett. Vielleicht kannst du Erhebungen wahrnehmen, die wir von hier aus nicht sehen.«
Kurz darauf lag Hardy mit dem Gesicht zum Ufer flach auf dem Brett.
Als er sagte: »Da ist was!«, kam Bewegung in die Gruppe.
Ein zweiter Mann schob sich Hardy entgegen und der dritte sagte: »Wenn Rolli auf der Höhe dessen ist, was du siehst, gibst du ihm ein Zeichen.«
»Komm, komm, komm«, dirigierte Hardy monoton, und der Mensch namens Rolli schob sich Zentimeter um Zentimeter voran.
»Jetzt ist rechts von deinem Ellenbogen, ungefähr zwanzig Zentimeter querab, ein kleiner Buckel«, sagte Hardy. »Siehst du ihn?«
»Ich sehe ihn«, bestätigte Rolli. »Und was tue ich jetzt?«
Der, der am Ufer geblieben war, überlegte: »Wenn du danach greifst, läufst du Gefahr, dass das Ding tiefer sinkt und verschwindet. Man müsste von der Seite drunterfassen können. Mit... vielleicht mit einem schmalen Brett.«
»Das könnte klappen. Besorg mal eins«, meinte Hardy ruhig.
Der, der am Ufer zurückgeblieben war, ging mit raschen Schritten davon. Rolli, der dem Ufer näher war, sagte gemütlich: »Wenn er eine halbe Stunde braucht, bin ich braun, als wenn ich auf Teneriffa gewesen wäre.«
Hardy vor ihm entgegnete mit unendlicher Ruhe: »Ob du das glaubst oder nicht, mein Brett gleitet seitlich weg. Ich denke, ich habe noch sechzig Sekunden.«
»Um Gottes willen«, hauchte Vera und griff meinen rechten Arm so fest, dass es schmerzte.
»Baumeister, tu was«, befahl Emma kühl und gelassen.
Ich überlegte laut: »Rolli, bleib liegen. Nicht bewegen. Du bist sicher. Kannst du etwas weiter auf Hardy zurutschen?«
»Ja, aber nur, wenn jemand die Brücke macht.«
»Genau«, sagte ich. »Los, Frau, du bist die Leine.«
Vera begriff sofort. Sie legte sich flach auf den Bauch und robbte auf das erste Brett. Sie bekam Rollis Füße zu fassen, ich hielt ihre Füße. Rolli hatte Hardys Füße gepackt.
»Ich fange jetzt an zu ziehen«, sagte ich. »Ihr müsst flach bleiben, nicht aufrichten. Klar?«
»Klar!«, sagte Hardy. »Wer bist du denn?«
»Presse«, sagte ich.
»Ach, du lieber Gott«, stöhnte er.
Ich zog. Es ging unendlich langsam, es ging so langsam, dass ich glaubte, wir hätten keine Chance. Das Brett, auf dem Hardy lag, bekam Schlagseite. Rollis Brett lag noch eben. Zum Teil bewegten sich die Bretter, zum Teil bewegten sich die Menschen auf ihnen, es war nicht genau zu unterscheiden. Um die Bretter herum hatte sich Wasser gesammelt, das jetzt auf die Holzflächen schwappte.
Hardys Brett glitt etwa zur Hälfte in den Morast. Und dann griff dieser Idiot in den Schlamm. Er tauchte mit dem linken Arm bis zur Achsel in die tödliche Brühe, zog ihn mit einem Ruck wieder hinaus, hielt ihn hoch und stammelte: »Es ist ihr Handy, verdammt, ich hab ihr Handy!«
Endlich war Vera auf dem Trockenen, dann Rolli, dann Hardy. Sie keuchten alle drei. Etwa einhundert Meter entfernt tauchte der dritte Spurenmann mit einem schmalen Brett in der Hand auf und rief: »Ich hab eins!«
»Schon gut, schon gut«, murmelte Hardy. »War ja nichts Besonderes. Der Buckel im Schlamm war nur ihr Handy.«
Rodenstock kehrte zurück und sagte: »Wir sollen um 21 Uhr heute Abend in Faymonville sein. Quint steht uns dann zur Verfügung.« Dann nahm er Vera wahr und fragte entgeistert: »Wo warst du denn, Mädchen?«
»Schlammbad«, gab sie Auskunft und dann küsste sie Hardy auf die Stirn.
Aber sie wurde sofort wieder sachlich und fragte: »Was ist, Vater Rodenstock, wenn ich darum bitte, zu diesem Belgier mitgenommen zu werden?«
»Wenn Kischkewitz dich freigibt, gerne«, nickte er.
»Hast du Vater Rodenstock gesagt?«, fragte Emma.
»Wir nennen ihn so. Es ist ein Ehrentitel.«
»Bin ich dann Mutter Emma?«, fragte Emma.
»Nein«, sagte Hardy. »So weit gehen wir nicht.«
Wir lachten alle und Emma war sichtlich stolz auf den Vater.
»Wann ist denn der Laborwagen mit den Ergebnissen so weit?«, fragte Vera. »Ich meine, entweder warte ich noch, oder ich fahre eben nach Monschau und ziehe mich um.«
»Fahr mal«, sagte Rodenstock. »Wir vergessen dich nicht.«
Wir lungerten herum, bis gegen 17 Uhr endlich die beiden Laborärzte aus dem Wagen kletterten und bleich und übel riechend verkündeten, sie seien sich einig. Sie könnten nun einiges über Wilma Bruns erzählen. Aber erst einmal wollten sie etwas zu trinken haben, bevor sie Auskunft geben würden. Jemand brachte ihnen zwei Flaschen Bier. Sie tranken genüsslich und berieten sich, wer den Vortrag halten sollte.
Der Belgier begann und wie alle Menchen aus dem Grenzgebiet sprach er ein leicht fehlerhaftes, aber fast akzentfreies Deutsch.
»Wir können der Kommission Folgendes mitteilen: Das Blut der Toten hatte einen Alkoholspiegel von 1,9 bis 2 Promille. Das bedeutet, die Frau war ziemlich betrunken. Nach Angaben von Zeugen war sie an den Konsum von Alkohol gewöhnt. Wir nehmen daher an, sie war betrunken, konnte aber durchaus noch gehen, lallte nicht, sondern war ihrer Natur gemäß – und dies beruht wiederum auf Schilderungen – eher angeregt heiter. Ob sie nun allein den schmalen Pfad um das Moorgebiet herumging oder in Begleitung war, können wir nicht entscheiden, wir nehmen aber an, dass die Spurenleute dazu etwas sagen werden. An dem Punkt, an dem der Wildhüter sie entdeckte, ist sie auch in das Moor gestiegen, indem sie sich unter dem Geländer hindurchbückte und dann einige Schritte tat. Wenn sie diese Schritte schnell getan hat, dann konnte sie durchaus den Punkt im Moor erreichen, an dem sie entdeckt wurde. Das war gegen acht Uhr am Morgen. Zu diesem Zeitpunkt war der Tod seit mindestens einer Stunde eingetreten. Wir weisen darauf hin, dass dies durch Wasseransammlung in ihren beiden Lungenflügeln beweisbar erscheint. Nun wissen Sie, dass aus der Masse des in der Lunge angesammelten Wassers darauf geschlossen werden kann, in welchem Zustand sich die Frau befand, als sie in das Wasser eintauchte. Und da haben wir einen äußerst interessanten Befund. Sie können sich vorstellen, dass ein erheblicher Unterschied zwischen einem nüchternen Menschen, einem betrunkenen Menschen und einem nahezu oder vollständig bewusstlosen Menschen besteht. Der nüchterne, wache Mensch nimmt mit den Atemzügen erheblich mehr Wasser auf als zum Beispiel ein Bewusstloser. Klaus, machst du an der Stelle mal weiter?«
Klaus war der Deutsche. Er sagte spöttisch: »Du drückst dich vor dem interessantesten Punkt, du Belgier. Na gut, dann heimse eben ich die Meriten, Orden und Ehrenzeichen ein. Wir fanden heraus, dass Wilma Bruns mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnmächtig war, als sie in das Wasser geriet. Die Wassermenge in ihrer Lunge war erstaunlich gering. Das bedeutet automatisch, dass sie nicht aus eigenem Antrieb in das Moor hineingehen konnte. Sie konnte sich auch nicht selbst unter dem Geländer durch bücken, sie konnte im Grunde gar nichts mehr. Der Zustand ihrer Organe lässt nur den Schluss zu, dass sie durch fremden Einfluss in das Moor geraten ist. Jemand muss sie getragen oder gestoßen haben. Zumindest geriet sie ruckweise unter Wasser, das sagt der Lungenbefund. Nun gibt es natürlich ein Problem: Da ist eine ziemlich betrunken und spaziert am Rand eines Moores entlang. Auf keinen Fall wird sie getragen, denn sonst hätten die Spurenleute entsprechende Fußeindrücke finden müssen. Und plötzlich soll sie bewusstlos geworden sein. Nun, das passiert einer gesunden Frau auch bei dieser Alkoholkonzentration im Körper nicht so einfach. Und nach dem Zustand der Organe zu schließen, war sie sehr gesund. Wir stehen also vor einem Rätsel. Die Frau erreicht die Stelle, an der sie ins Moor gegangen sein soll, und ist plötzlich bewusstlos.« Klaus grinste faunisch und sagte: »Mach weiter, Rene, du bist der Bessere.«
Die Zuhörer lachten, es war fast wie Theater.
Der Belgier kniff die Lippen zusammen und wurde ernst. »Nach Lage der Dinge ist Mord nicht auszuschließen. Das führten wir uns vor Augen. Und wir fanden dann den Einstich einer Kanüle im Oberschenkel rechts. Wahrscheinlich eine Achter-Nadel. Wir machten bestimmte Untersuchungen des Mageninhalts und überprüften noch einmal das Blut. Und wir konnten schließlich eindeutig Diazepam nachweisen, ein stark beruhigender Wirkstoff. Jetzt wussten wir, warum die Frau plötzlich bewusstlos wurde. In Verbindung mit Alkohol kann die Einnahme eines Mittels, das Diazepam enthält, lebensgefährlich sein. Das bekannteste Mittel mit diesem Wirkstoff ist Valium. Ob der Frau tatsächlich Valium gespritzt wurde, ist so einfach nicht feststellbar und wird später im Laborversuch genau ermittelt. Mehr können wir hier im Wagen nicht tun. Unseren ausführlichen Bericht werden Sie in etwa drei bis vier Tagen auf dem Tisch haben. Nach unserer Überzeugung wurde sie getötet, also ermordet. Damit stehen wir vor der Frage: Wie gelangte sie in den Sumpf? Ihr Körper wurde vom festen Ufer aus etwa fünf Meter entfernt gefunden. Und jetzt kommt Charlie, unser Indianer, an die Reihe.«
Es gab zwei oder drei Mitglieder der Kommission, die klatschten, die Leistung der beiden jungen Ärzte war hervorragend.
Charlie, der Indianer, wie sie ihn nannten, war eine schmale, nörgelig wirkende Figur, nicht größer als einssechzig, ungefähr vierzig Jahre alt, mit dem faltigen Gesicht eines Magenkranken. Er bewegte sich nicht im Geringsten, als er zu sprechen begann, trat keinen Schritt vor, sah niemanden an, konzentrierte sich auf das, was er herausgefunden hatte, und machte alles in allem den Eindruck, als sei es ihm wurscht, ob ihm jemand glaubte oder nicht.
»Ich musste mich also fragen, wie die Tote fünf Meter weit in das Moor hineingeraten konnte. Wenn sie es selbst bewerkstelligt hätte, wäre es leicht erklärbar gewesen. Man muss nur, wie schon erwähnt, die ersten zwei, drei Schritte sehr schnell machen und sich dann nach vorne werfen. Anders sieht die Sache aus, wenn ein Zweiter dafür zu sorgen hatte, dass sie so weit im Moor lag. Nun, wir haben gehört, dass die Frau vor ihrem Tod bewusstlos war. Wie kriegt man eine Bewusstlose so weit in das Moor? An dieser Stelle, an der das geschah, tritt die Moorkante, das heißt die flüssige Schicht, besonders nah an das Ufer heran. Ich habe das Geländer untersucht, die Stelle auch sofort gefunden. Meiner Meinung nach hat der Mörder sehr bewusst eine Spritze mitgenommen. Das setzt kaltblütige Planung voraus. Der Mörder muss dieses Moor und diese Stelle im Moor genau kennen. Er machte Folgendes: Er nahm einen stinknormalen Strick, wie ihn Landwirte benutzen, wenn sie Kühe anseilen. Den Strick legte er um den oberen Querholm des Geländers. Dann hob er Wilma Bruns so hoch wie möglich und stemmte sie mit Hilfe beider Arme so weit wie möglich Richtung Wasser. Er verließ sich darauf, dass der Strick hielt und er sich daran zurück auf das Land ziehen konnte. Ich habe die Stelle gefunden, wo er den Strick um den Holm gelegt und festgezurrt hat. Da ist eine Blankscheuerung des Holzes zu erkennen und selbstverständlich waren da Mikrofasern, die von einem Strick stammen.« Unvermittelt beendete er seine Rede und atmete ein paar Mal durch, als sei er es leid, seinen Kollegen Auskunft zu erteilen.
»Dann war es ein kräftiger Mann?«, fragte Rodenstock.
»Was heißt da kräftig?«, fragte der missgelaunte Indianer. »Wenn du es lange genug übst, kannst du es auch.«
Er hatte die Lacher auf seiner Seite. Als Ruhe eingekehrt war, sagte Kischkewitz kühl: »Leute, machen wir uns nichts vor. Wir haben immer noch keine Ahnung, wer Jakob Driesch getötet hat. Und Wilma Bruns? Auch das wird uns noch beschäftigen, Freunde. Wir gehen jetzt ins Hotel und treffen uns nachher wieder zur üblichen Konferenz. Abmarsch!«