Zehntes Kapitel

Als ich in Deudesfeld vor dem Haus hielt und ausstieg, kam auch Vera gerade an.

»Ich kann so schlecht allein sein.«

»Das ist schon in Ordnung«, nickte ich. »Das kommt mir sehr entgegen. Ich brauche eine Menge Haut, um all den Tod zu vergessen. Wann geht es los?«

»Morgen früh um neun im Aukloster. Gleich ist es eins, wir haben also noch sechs Stunden, um auszuruhen. Ich brauche auch Haut, Baumeister. Die Million stammte von Annettes Vater, nicht wahr?«

»Ja. Was ist mit der Winchester?«

»Drieschs Onkel hat bestätigt, dass es seine Waffe sein könnte. Er ist ein sehr alter Mann, der kein Gewehr mehr halten kann und der auch nicht mehr sicher weiß, wie viele Gewehre er besitzt. Ich habe sie gesehen, drei Schränke voll. Der alte Mann hat gar nicht mitbekommen, dass die Winchester fehlte. Und jetzt schämt er sich.«

»Cisco, komm!«, rief ich. »Ich muss unter die Dusche. Kannst du Bratkartoffeln mit Spiegelei machen?«

»Klar«, sagte sie. »Wenn du die Kartoffeln schälst.«

»Wenn Alwin Kartoffeln hat.«

Wir bekamen Kartoffeln und ein halbes Dutzend Eier und verzogen uns in mein Reich.

»Ich verstehe nur die Sache mit Wilma nicht«, sagte sie.

»Ich auch nicht. Und es hat jetzt keinen Sinn, zu spekulieren. Schneide den Speck, ich schäle die Kartoffeln.«

Eine halbe Stunde später war die Herrlichkeit den Weg alles Irdischen gegangen und wir lümmelten uns auf den Sofas. Sie setzte sich neben mich und wir hörten Herbert Grönemeyer zu, wie er ›Ich drehe mich um dich‹ sang. Es folgte Elvis mit ›Blue Hotel‹ und es ging mir auf den Geist; ich drückte die Fernbedienung.

Als wir nebeneinander im Bett lagen, fragte Vera: »Glaubst du, ich kann in deinem Arm einschlafen?«

»Wenn du das willst, kannst du das.«

»Und wirst du mich nicht zur Seite schubsen?«

»Nein. Warum sollte ich das?«

»Und du brauchst auch nicht ganz automatisch ...«

»Nein, ich brauche gar nichts ganz automatisch. Und jetzt komm hergekrochen, zier dich nicht, sei ein großes Mädchen, ich rühre dich nicht an.«

»Warum eigentlich nicht?«

Wir verschliefen um eine halbe Stunde und mühten uns dann in der qualvollen Enge des kleinen Bades ab. Ich verzichtete auf eine Rasur, sie verzichtete auf die Dusche. Wir hetzten hinunter zu den Autos und für Cisco war das Ganze ein herrlicher Spaß, den wir nur um seinetwillen erfunden hatten.

»Mein Gott, Kischkewitz schlägt mich tot.«

»Wir schaffen es, wenn du zügig fährst.«

»Und wenn ich mit Sirene und Blaulicht... Ach nein, das macht nur die Leute verrückt.«

Wir schafften es, wir erreichten fünf Minuten vor neun das Parkdeck oberhalb des Auklosters.

»Gibt es eigentlich Regieanweisungen?«, fragte ich.

»Ja. Kischkewitz und Rodenstock stellen die Fragen, alle anderen schweigen und lächeln höflich. Was machst du, wenn die Geschichte hier vorbei ist und du dein Manuskript geschrieben hast?«

»Vielleicht Bodensee, vielleicht Tessin.«

»Ist es vorstellbar, dass ich mich am Benzin beteilige?«

»Das ist vor stellbar.«

Im Kloster war es merkwürdig still. Gleich auf der rechten Seite befand sich der große Vortragssaal, den man als Kulisse ausersehen hatte. Es waren viele Leute da, einige kannte ich vom Sehen, andere waren mir fremd. Vera entschwand und wenig später hockte sie brav mit einem Stenoblock an einem kleinen Tisch.

Komisch, dass immer die Frauen die Protokolle schreiben müssen.

Rodenstock strich an mir vorbei, nahm mich aber zunächst nicht wahr.

»Viel Glück«, sagte ich.

Er drehte sich halb zurück und lächelte, sagte aber nichts.

Emma tauchte auf und rauchte einen ihrer fiesen holländischen Zigarillos. »War es gut, heute Nacht?«

»Es war sehr gut«, grinste ich. »Sie ist ein wirklich guter Typ.«

»Das ist wahr«, nickte Emma.

Wir gingen in den Saal hinein und quetschten uns in der letzten Reihe auf zwei Stühle, dicht am Fenster.

Kischkewitz und Rodenstock betraten den Raum und setzten sich an einen kleinen Tisch nebeneinander, legten Blocks und Kugelschreiber bereit. Dann stand Kischkewitz wieder auf.

»Liebe Leute«, begann er gemütlich, »wir haben eine Anhörung vor uns. Ich sage bewusst Anhörung und vermeide das Wort Verhör. Wir haben es mit einer Frau zu tun, die nach meinem Dafürhalten sehr gelitten hat. Und das seit mindestens einem Jahr. Es ist die Geschichte eines Verlustes, es ist auch die Geschichte des Verlustes von Identität. Die Dame hat angedeutet, dass sie dankbar wäre, wenn ihr keine Handschellen angelegt würden. Ich bitte um Höflichkeit und um die strikte Einhaltung der Regel, dass die Fragen nur von Rodenstock und mir kommen. Ich darf dann bitten, Ewald.«

Anna trug wieder ein langes, schwarzes Kleid. Sie bewegte sich voll Würde auf den Stuhl zu, den man ihr hinter einem kleinen Tisch bereitgestellt hatte. Sie setzte sich, sie wirkte ungezwungen und schaute Kischkewitz und Rodenstock offen an.

»Wir können auf die Personalien verzichten«, eröffnete Kischkewitz. »Frau Driesch, dies ist eine Anhörung, bei der Sie freundlicherweise die Anwesenheit der Kommission dulden und gleichzeitig zunächst auf einen eigenen Rechtsbeistand verzichten, den Sie selbstverständlich frei auswählen können. Wenn Sie an einen Punkt geraten, an dem Sie lieber einen Anwalt neben sich haben möchten, dann brauchen Sie das nur zu sagen und die Anhörung wird beendet sein. Haben Sie das verstanden?«

»Das habe ich verstanden«, sagte sie mit ihrer klaren Altstimme.

»Wir haben bereits ein erstes Gespräch geführt«, erklärte Rodenstock freundlich. »Da ich durchaus begreifen kann, dass Sie unter erheblichem Druck gestanden haben und wir den Druck nicht verstärken möchten, schlage ich vor, dass Sie zu erzählen beginnen. Fangen Sie an dem Punkt an, der für Sie wichtig ist. Wenn wir eine Zwischenfrage für notwendig halten, dann melden wir uns zu Wort. Sind Sie einverstanden?«

»Ja, das bin ich«, sagte sie. »Ist es erlaubt zu rauchen?«

»Selbstverständlich«, nickte Kischkewitz. »Einen Aschenbecher, bitte«

»Und Zigaretten, bitte«, setzte sie hinzu. Sie lächelte leicht.

Im Hintergrund schwoll Gelächter an, verebbte aber sofort wieder, als sie sich eine Zigarette angezündet und sich aufrechter hingesetzt hatte.

»Ich weiß aus schlechten Filmen, dass die Mitglieder dieser Kommission besonders auf einen Satz warten. Auf den Satz nämlich, dass ich meinen Mann erschossen und Wilma Bruns umgebracht habe. Ich sage ihn also direkt zu Anfang und bin mir durchaus bewusst, was das bedeutet. Da mein Leben sowieso kaputt ist, kann ich das ruhig einräumen. Ich habe getötet.

Wie das alles eigentlich begann, ist sehr schwer zu rekonstruieren, weil zu Beginn dieser schrecklichen Zeit kein Wissen vorhanden war, sondern nur eine diffuse, blöde, angstmachende riesige Welle von Gefühlen, die mit Unruhe verbunden sind, mit Angst, ja, mit Todesangst. Es gibt keine Realität, an der man diese Gefühle festmachen kann. Dein Mann kommt jeden Abend nach Hause, schläft jede Nacht in dem Bett neben dir, schläft mit dir, spricht mit dir, teilt seine Sorgen mit dir. Und trotzdem bist du dir sicher: Da läuft etwas ab, an dem er dich nicht teilhaben lässt. Du erlebst sein Leben wie sonst auch, aber du weißt, dass dieses Leben plötzlich einen Schatten hat, ein zweites Leben. Und damit beginnt diese Geschichte. Das ist jetzt länger als ein Jahr her.«

Sie setzte sich erneut zurecht und fummelte mit der Zigarette im Aschenbecher herum.

»Mein Mann hat damals zusammen mit Annette von Hülsdonk und Wilma Bruns an der Projektierung eines Windparks gearbeitet. Und ganz plötzlich hatte er kein Interesse mehr daran. Kein Interesse ist vielleicht das falsche Wort, vielleicht wäre das richtige Wort: Er erlahmte. Ich fragte ihn danach, er wehrte ab. Er sagte, er sei erschöpft. Da aber im Zuge der Entwicklung dieses Windparks eine ganze Gemeinde von ihm abhängig war, kam Erschöpfung nicht in Frage, er hatte seine Leute noch nie verraten. Irgendetwas musste geschehen sein, das ihn lähmte. Ich wusste nicht, was. Und er tat etwas, was er bis dahin nie getan hatte: Er ging abends vor das Haus und stand stundenlang am Hang und schaute ins Tal. Ich dachte: Etwas ist mit ihm geschehen. Und ich gebe zu, ich dachte an Wilma Bruns. Die beiden verstanden sich sehr gut, waren durch die politische Arbeit eng miteinander verbunden und machten auch keinen Hehl daraus. Dann fand eine Geburtstagsfeier statt, zu der auch Wilma eingeladen war. Als sie beschwipst war, suchte ich ein Gespräch mit ihr. Einige von Ihnen haben sie gekannt. Sie war immer sehr offen. Sie erklärte mir, dass sie meinen Mann auf eine sehr spezielle Art lieben würde und dass ich mir nicht die geringsten Sorgen zu machen brauchte. Das glaubte ich ihr. Aber der Zustand meines Mannes änderte sich nicht, im Gegenteil. Manchmal kam er mir vor wie ein jugendlicher Träumer, der vollkommen den Boden unter den Füßen verloren hat. Ich kann das nicht einmal an Beispielen festmachen. In Sachen Windpark unternahm er nichts mehr, er sagte, Annette und Wilma würden das regeln. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl seiner Reisen ungemein.

Während dieser Zeit überdachte ich meine Situation und fand zu meinem Schrecken heraus, dass ich mich nur noch über Jakob Driesch identifizierte. Ich war keine eigenständige Anna Driesch, ich war die Frau von Jakob. Das machte mir eine wahnsinnige Angst. Dann passierte einer dieser unglaublich blöden Zufälle. Das war im Januar. Jakob war in Berlin, bereitete für die Fraktion irgendwelche Sitzungen vor, musste bei Ausschüssen zugegen sein, das Übliche eben. Da besuchte mich eine frühere Schulfreundin. Und als ich ihr sagte, leider sei mein Mann in Berlin, antwortete sie ganz verblüfft: Aber den habe ich doch eben in Monschau gesehen. Ich reagierte nach außen gar nicht, lächelte und deutete eine wahrscheinliche Verwechslung an. Aber seit diesem Vorfall begann ich meinen Mann systematisch zu kontrollieren. Etwas, das ich früher nicht im Traum für möglich gehalten hätte. Jetzt wurde mir klar, dass ich ihn verlieren würde und alles in mir wehrte sich dagegen. Ich war verzweifelt.«

Sie endete und zündete sich eine neue Zigarette an. Niemand sonst sprach ein Wort, niemand räusperte sich.

»Ich habe eine Frage, Anna«, sagte Rodenstock dann. »Was dagegen?«

»Nein, fragen Sie nur.«

»Sie schildern sehr anschaulich, wie Sie merkten, dass Sie Ihren Mann langsam zu verlieren drohten. Aber dieser Mann lag jede Nacht, wenn er denn zu Hause war, in dem Bett neben Ihnen. Haben Sie noch miteinander geschlafen? Oder hat er sich dabei anders verhalten als üblich? Entschuldigung, das könnte man als indiskrete Frage bezeichnen, aber wir sind Praktiker, verstehen Sie?«

Es gab ein leises Gelächter, Emma zischte: »Ruhe, verdammt!«

Anna nickte bedächtig. »Da hatte sich unmerklich etwas verändert. Wir sind ... sehr offen sexuell miteinander umgegangen. Ja, und es hat Freude gemacht. Aber nun wurde es immer monotoner. Ich hatte das Gefühl: Er bedient mich, weil er mich bedienen muss. Kein Herz mehr dabei, verstehen Sie?«

»Das verstehe ich gut«, bestätigte Kischkewitz. »Und dieser Vorgang verstärkte das Gefühl, ihn verloren zu haben.«

»Ja, so war es. Ich habe alles Mögliche gedacht und geplant. Ich dachte sogar daran, ihn von einem Privatdetektiv überwachen zu lassen. Denn mittlerweile war glasklar, dass er mich belog. Und zwar massiv. Er hatte bereits eine komplette Bürobesatzung in Berlin.

Ich bin dorthin geflogen und habe mich mit denen angefreundet. Von da an konnte ich anrufen und nach Jakob fragen, ohne dass sie ihm das gesagt hätten. So erfuhr ich, wenn er offiziell in Berlin war, aber sich in Wahrheit ganz woanders aufhielt. Das geschah nicht einmal, das geschah mehr als zwanzig Mal.«

»Haben Sie sich denn nie einer Freundin anvertraut?«, fragte Kischkewitz.

»Habe ich nicht«, antwortete sie einfach. »Das ist nicht mein Ding, so wurde ich nicht erzogen. Ich bin es mein Leben lang gewohnt gewesen, meine Probleme selbst in den Griff zu kriegen, und die Aussprachen mit der besten Freundin sind doch, wie wir alle wissen, von höchst zweifelhaftem Charakter, weil die beste Freundin unter Umständen auch den Mund nicht halten kann. Nein, ich sprach mit niemandem darüber.«

Niemand außer Anna hatte sich bisher zu rauchen getraut. Nun räusperte sich Rodenstock: »Ich denke, auch für uns Beamte gilt kein Rauchverbot.« Damit zog er eine seiner fürchterlichen Stinkbomben aus der Innentasche seines Jacketts und grinste faunisch in die Runde. Ich stopfte mir eine Crown Viking von Winslow.

Dann fuhr Rodenstock fort: »Sie sind ein hochintelligenter Mensch. Warum sind Sie nicht auf die Idee gekommen, mit Jakob offen zu sprechen? Es wenigstens zu versuchen?«

»Ich versuchte es. Vielleicht zehnmal, vielleicht öfter. Er wich aus, er ließ sich auf nichts ein. Einmal habe ich sogar deutlich gesagt, dass ich vermuten würde, er habe eine Geliebte. Da hat er mich angesehen, als ob er mich verprügeln wollte. Dann schlief ich nicht mehr mit ihm, ich sagte, es würde mich anöden. Er reagierte überhaupt nicht, er wirkte erleichtert. Mein ganzes Leben war kaputt, das Leben meiner Töchter bis zu einem gewissen Grad auch. Plötzlich begriff ich: Da gab es gar nichts mehr zu reparieren, die Ehe war zu Ende, gescheitert. Jakob Driesch hatte mich verlassen.«

»Aber Sie wussten noch nichts von Annette von Hülsdonk?«, fragte Kischkewitz.

»Doch, davon wusste ich seit Februar. Ich bin von meiner Ausbildung her systematisches Arbeiten gewohnt. Verreiste mein Mann, kontrollierte ich Wilma Bruns, der ich in meiner Verwirrung und Angst zuweilen immer noch nicht traute. Und irgendwann begann ich Annette zu kontrollieren. War mein Mann angeblich in Berlin und in Wirklichkeit woanders, war auch Annette nicht erreichbar. Also konzentrierte ich meine Nachforschungen ganz auf Annette. Sie ist ... nun ja, sie war kindlich unaufmerksam und nicht im Geringsten vorsichtig. Zu Beginn des Jahres trafen sie sich im alten Forsthaus, das zuweilen an Jäger vermietet wird. Sie zündeten sich ein Feuer im Kamin an, sie machten sich Brote, meistens Weißbrot mit Salami und Käse. Und sie tranken Wein, einen trockenen Wehlener...«

»Moment«, Rodenstock wedelte mit der rechten Hand. »Heißt das, Sie haben ihnen zugeschaut?«

»Ja.«

Wieder herrschte Stille, bedrückende Stille.

Sie räusperte sich und blies den Rauch ihrer Zigarette nachdenklich in den Raum. »Es war demütigend, es war selbstzerstörerisch, es war irgendwie mein Tod.«

»Haben Sie das oft getan?«

»Dreimal«, sagte sie seltsam klar. »Das war dreimal zu viel. Sie gingen dann nicht mehr in das Forsthaus. Ich konzentrierte mich auf Annette, sobald mein Mann sagte, er müsse verreisen. Und wenn ich ihr folgte, traf ich ihn. Ich habe es aufgeschrieben, wo sie miteinander ... wo sie es trieben. Bis dann die Sache mit der Million passierte. Anfangs wusste ich nicht, was ich davon halten sollte.«

»Das heißt, Sie haben das alles von Beginn an gewusst?«, fragte Rodenstock. »Das mit Annette, das mit dem Projekt auf Mallorca?«

»Natürlich«, erklärte Anna. »Wenn man Annette folgte, musste man auf diese Geschichte stoßen. Ihr Vater kaufte ihr das große Bauernhaus. Drei Monate später bot er es selbst zum Verkauf an. Und er verkaufte es. Und ich habe von dem Banker erfahren, dass er sich das Geld hat bar auszahlen lassen. Ich bin Jakob Drieschs Frau, mir erzählt man so was. Dann ist mein Mann nach Mallorca geflogen. Von Berlin aus. Eine der Damen in seinem Büro erwähnte das so ganz nebenbei und ließ auch eine Bemerkung von einem Koffer voll Geld fallen. Ich brauchte dann nur noch Annette zu folgen, von der sicher anzunehmen war, dass sie ihren Mund nicht halten würde. Und sie erzählte in einem Cafe einer Freundin ganz aufgeregt, sie habe soeben ein Hotel auf Mallorca geschenkt bekommen. Es war so simpel, mein Gott, war das simpel. Und Jakob hatte das Geld transportiert. Und sein Name stand in der Besitzurkunde. Ich wusste: Er würde mich bald verlassen und ich würde nur noch ein Schatten sein. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich ihn für diese finanzielle Banalität gehasst habe. Er nimmt sich eine Junge, er denkt nur noch an seine und ihre Rente. Meine Kinder würden keinen Vater mehr haben und ich würde in Not geraten, weil ich nicht erklären kann, wieso das Schwein uns sitzen lässt.« Ihre Stimme war jetzt hart und ohne den Hauch eines Gefühls.

»Und Sie haben ihn in der Monschauer Wohnung überrascht und dann getötet?«, fragte Kischkewitz.

»Ja. Ich wollte, dass er stirbt. Er hatte nicht das Recht, mich auf den Müllberg seines Lebens zu werfen und meine Töchter gleich mit. Ich holte mir das Gewehr von seinem Onkel. Der hatte genug davon. Dieses Gewehr kannte ich genau, denn damit hatte ich schon auf Blechdosen geschossen und mich darüber gewundert, wie zielgenau diese Dinger funktionieren. Es hat auch so ein Gerät über dem Lauf, das ein rotes Signal sendet, das man auf dem Ziel sehen kann. Das funktioniert idiotensicher. Die beiden trieben in Monschau immer ein geschicktes Spiel. Er fuhr auf irgendeinen Parkplatz, auf dem sie schon wartete. Dann stieg er um in ihren Wagen und sie fuhr an diesem Haus vorbei. Er sprang hinaus, hatte meistens einen Mantel an, den Kragen hoch, eine Sonnenbrille, schloss auf und war verschwunden. Ich habe das oft genug verfolgt.«

»Etwas will mir nicht in den Kopf«, polterte Kischkewitz los. »Ist den beiden denn nie aufgefallen, dass sie verfolgt wurden?«

»Nein. Sie hielten ihr Spiel für absolut undurchschaubar und waren sich sehr sicher. Und mir traute man derartige Verfolgungen überhaupt nicht zu, ich kam gar nicht in Frage. Ich beschloss jedenfalls, ihn zu töten. Nicht sie, ihn.«

Sie ließ in der Stille die Finger ihrer rechten Hand auf die Tischplatte klacken.

»Ich kam an die Tür, die zum Laufenbach führt. Annette öffnete mir, Jakob verschwand gerade durch den Hauseingang. Ich bin hinter ihm hergelaufen. Ich habe geschossen, aber nicht getroffen. Dann habe ich gewartet. Ich wusste genau, er würde zu Annette zurückkehren. Und er kehrte zurück. Ich sah ihn im Fluss. Ich sah ihn etwas zu spät, aber immerhin war ich nahe genug, ihn zu treffen.«

Sie atmete ganz laut aus. »Sie werden fragen, ob es mir Leid tut. Nein, tut es nicht.«

»Aber Annette muss Sie doch erkannt haben«, sagte Rodenstock. In seiner Stimme war Verblüffung.

»Konnte sie nicht. Ich trug ein Kopftuch, ganz eng um mein Haar, und eine dick wattierte Winterweste mit hochgeschlagenem Kragen. Sie konnte mich nicht erkennen.«

»Aber wieso, um Gottes willen, ist Annette denn nach dieser furchtbaren Nacht nicht sofort zur Polizei gelaufen oder hat wenigstens ihren Vater alarmiert?«, fragte Kischkewitz aggressiv.

»Ich habe sie angerufen, gleich als ich zu Hause war. Frühmorgens. Ich wusste, sie würde geschockt sein. Und ich hasste sie, ich hasste sie von ganzem Herzen. Ich habe ihr gesagt: Du kleines widerliches Balg hast meinen Mann zerstört, mich zerstört, meine Kinder zerstört. Jetzt werde ich dich zerstören.« Anna kniff die Lippen zusammen. »Das hätte ich auch getan, ganz bestimmt. Aber Bastian hat es mir abgenommen, das arme Schwein.«

»Kommen wir jetzt, bitte, zu Wilma Bruns.« Rodenstocks Stimme klang munter, als ginge es darum, ein Dessert zu beschreiben. Dabei kam er jetzt erst zum eigentlichen Kern der Geschichte, denn der Tod der Wilma Bruns war nach wie vor rätselhaft. »War das geplant? Ich meine, haben Sie Punkt für Punkt im Voraus bedacht?«

»Ja und nein. Sie rief mich in der Nacht an. Mir war sofort klar, dass sie betrunken war, ihre Sprache klang so nuschelig. Sie kicherte, sie war so ... so schrill. Sie war einfach Wilma. Da war etwas in ihrer Stimme. Sie hatte eine Stimme, als hätte sie einen Millionengewinn im Lotto gemacht ... irgendwie abartig. Sie sagte: Dieser Scheißmännerhaufen überlegt rum, wer aus dem Lager der Windkraftgegner deinen Jakob umgelegt hat. Arschlöcher, die sie sind. Du warst es, Frau, du warst es! Tatsächlich, das überlegte ich später, hätte man eigentlich schnell auf die Idee kommen können, dass nur ich es getan haben konnte, nicht wahr?«

Sie genoss ihren Auftritt, sie genoss ihn sehr. Sie betrachtete uns alle langsam und gelassen nach dem Motto: Ihr Idioten habt nicht zwei und zwei zusammenzählen können!

»Ich kann mir Ihre Verwirrung, meine Damen und Herren, sehr gut vorstellen. Sie finden eine Tote im Moor, in ihrem Oberschenkel einen Einstich von einer Injektionsnadel. Sie überlegen, wie diese bewusstlose Tote in das Moor geraten konnte. Sie finden heraus, dass der Täter wahrscheinlich einen Strick benutzt hat, aber Sie wissen nicht genau, wie er die Leiche in das Moor bekommen hat. O ja, ich habe mit einiger Erheiterung die Berichte in den Tageszeitungen gelesen.« Ihre Stimme war jetzt der reine Triumph. »Ich kenne die Stelle im Moor sehr gut. Ich war oft mit... mit meinem Mann da. Es war so, dass ich Wilma unterbrochen habe. Sie beschimpfte mich am Telefon, sie hätte liebend gern mit meinem Mann geschlafen und wie ich ihn so brutal töten konnte. Ich stritt es nicht ab. Ich sagte: Wilma, ich muss mit dir darüber reden. Ich wusste genau, dass sie nicht widerstehen konnte. Wir trafen uns mitten in der Nacht in Rott. Es war durch Zufall Rott, weil dort eine alte Schulfreundin von mir wohnt. Wilma stieg in meinen Wagen um und ich fuhr los.« Anna strich sich über das Gesicht. »Ja, einiges war geplant, anderes nicht. Ich habe immer eine gut gefüllte medizinische Bereitschaftstasche bei mir. Die brauche ich für die Jugendhäuser, die ich betreue. Wir haben zum Beispiel ein Haus, in dem in einer Wohngemeinschaft auch Epileptiker leben. Und manchmal muss man eben eine Beruhigungsspritze setzen. Es ist ein Mittel, das den Wirkstoff Diazepam enthält, und kann intramuskulär gespritzt werden. Außerdem wirkt es schnell. Ich habe gar nicht erst versucht, Wilma zu sagen, dass ich es nicht war. Im Gegenteil: Ich gab es zu. Ich sagte sogar: Wenn du an meiner Stelle gewesen wärst, hättest du es auch getan. Sie regte sich auf, sie brüllte und geiferte. Es war widerlich. Kurz vor Monschau fiel mir das Moor ein. Ich war, wie gesagt, schon oft da gewesen, wir haben oft darüber nachgesonnen, wie tief es wohl ist. Wilma zeterte die ganze Zeit, ich wurde vollkommen wirr und hatte nur noch einen Wunsch: Lieber Gott, lass sie endlich mit diesem Scheiß aufhören. Irgendwann habe ich angehalten, eine Spritze aus der Tasche genommen und ihr gesagt, sie müsse sich endlich zusammenreißen und ich würde ihr jetzt eine Beruhigungsspritze geben. Sie widersprach nicht, sie war sogar irgendwie erleichtert, hat mir den Oberschenkel hingehalten. Ich spritzte ihr die volle Dosis und wusste, ich musste es mit ihr bis ans Moor schaffen – nur bis dahin, das würde reichen. Es reichte knapp, sie brach an der Brüstung zusammen und schlief dort ein.«

Sie zündete sich wieder eine Zigarette an und zog einige Male hochkonzentriert. »Der Strick, ja, der Strick.« Sie lächelte. »Ich las in der Tageszeitung, dass die Spuren des Stricks an dem Querholm der Absperrung vom Moor gefunden worden sind. Sie haben allerdings etwas übersehen, meine Damen und Herren. Wenn Sie sich bitte die Wasserfläche des Moortümpels vorstellen: Halb rechts steht eine kleine Gruppe von Pfeifenweiden. Ziemlich starke Stämmchen, die im Wurzelbereich durchaus feste Erde gebildet haben. Ich bin zum Wagen zurück und habe den Strick geholt. So etwas haben wir immer im Wagen, weil meine Töchter vier Schafe haben, die zuweilen auf andere Weiden geführt werden müssen. Diesen Strick, der ziemlich lang ist, habe ich an der Absperrung festgebunden, bin dann mit dem anderen Ende bis zu den Weiden gegangen, was gefahrlos möglich ist, habe den Strick um ein Stämmchen gelegt und dann wieder zum Ausgangspunkt zurückgeführt. Ich habe Wilma den Strick um den Oberkörper gelegt und so festgemacht, dass sich bei heftigem Zug die Schlaufe löst, bei normalem, langsamen Zug die Schlaufe aber hält. Segler wissen, wie das geht. Dann zog ich. Es ging ganz leicht. Später habe ich dann von meinem Fehler gehört: Ich habe ihr Handy nicht beiseite geschafft. Wieso hat Sie das eigentlich nicht schon eher zu mir geführt?«

»Wilma hatte schon seit Tagen nicht mehr damit telefoniert. Sie hat Sie von einem anderen Apparat aus angerufen«, brummte Kischkewitz.

»Aber Ihre Freundin hatte Ihnen doch für die Nacht, in der Sie Ihren Mann erschossen haben, ein Alibi gegeben«, meinte Rodenstock.

Anna lächelte sanft. »Frauensolidarität. Sie wissen doch: Wir Weiber müssen zusammenhalten.«