Zweites Kapitel
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.« Wilmas Stimme brach mit einem hohen Kiekser.
»Das ist sein Ernst«, erklärte ich. »Du redest selbst dauernd davon, dass der Mörder irre sein muss. Irre verfolgen eine eigenartige Logik, aber eine, die in sich funktioniert. Also kannst du Nummer drei sein.«
Sie musterte den Asphalt zu ihren Füßen. »Ich werde mal diesen Kischkewitz fragen, was er denkt.«
»Das Gleiche«, nickte Rodenstock lächelnd. »Wann sollte denn mit dem Bau dieser Windanlage begonnen werden?«
»In zwei Jahren«, antwortete sie. »Es gibt jede Menge Auflagen. Der Wald muss gerodet werden, eine Riesenfläche. Und wahrscheinlich wird sich ein Verein auftun, der gegen die Anlage kämpft. Der Verein wird vor Gericht marschieren, wahrscheinlich wird auch der BUND vor Gericht marschieren und so weiter.«
»Und wann lohnt sich so eine Anlage, wann wirft sie Gewinn ab?«, fragte ich.
»Nach fünf bis sechs Jahren«, erwiderte sie. »Da gibt es Erfahrungen aus anderen Regionen. Nach fünf bis sechs Jahren schreibst du schwarze Zahlen, dann ist das Gröbste durchgestanden.«
»War Jakob Driesch persönlich beteiligt? Ich meine, hat er Geld in das Projekt gesteckt?« Rodenstock beobachtete den Waldrand.
»Dazu war es zu früh, das war noch gar nicht möglich.« Sie warf die Haare zurück. »Und Sie glauben wirklich, dass ich auf der Liste stehen könnte?«
»Ja«, nickte Rodenstock. »Aber besprechen Sie das mit meinem Kollegen Kischkewitz. Er wird das Notwendige veranlassen.«
Etwa hundert Leute bevölkerten die triste Szene. Ihre Köpfe ruckten wie auf einen scharfen Befehl herum, als ein schwerer Toyota Landcruiser von der Bundesstraße her mit viel zu viel Gas den schmalen Weg hochkam.
»Ihr Vater!«, sagte Wilma tonlos.
Der Mann raste auf die Zuschauer an der Absperrung zu, als wäre er ein Amokläufer.
»Lieber Himmel!«, stöhnte Rodenstock angstvoll.
Die Neugierigen spritzten zur Seite, der Wagen schlingerte ein wenig. Nun hatte es den Anschein, als käme der Mann hinter dem Steuer zu sich. Er ließ den Wagen quer in ein Stoppelfeld rollen und hielt dann. Er stieg aus und zögerte, er schwankte, er drehte sich ab, er wusste, dass er das nicht ertragen konnte.
»Abfangen!«, zischte Kischkewitz scharf.
Ein paar seiner Leute gingen dem Mann entgegen.
»Ich will sie sehen!«, sagte Manfred von Hülsdonk heiser. »Ich will Annette sehen!«
»Das geht nicht«, widersprach Kischkewitz entschieden.
»Ich ... sie ist meine Tochter«, beharrte der Mann.
»Das geht trotzdem nicht«, wiederholte Kischkewitz. »Das müssen Sie verstehen. Es ist ein Tatort. Sie müssen in gehöriger Entfernung bleiben. Sie können sie sehen, wenn wir mit der Untersuchung fertig sind.«
Der Mann stand da und strich sich über die Stirn, als verweigere sein Gehirn die Realität. »Was ist denn passiert?«
»Auf sie wurde geschossen«, sagte Kischkewitz.
»Ich war nicht hier«, stammelte Manfred von Hülsdonk. »Ich war nicht hier, ich war in Düsseldorf. Wenn ich hier gewesen wäre ...«
»Das hätte nichts geändert.« Kischkewitz' Stimme war sanft, aber eindringlich. Er machte ein paar Schritte auf Annettes Vater zu, fasste ihn am Arm und drehte ihn herum. »Sie müssen jetzt... Doc, komm mal her.«
Ein hagerer Mann löste sich aus der Gruppe, die die Leiche umstand, und trat zu Kischkewitz.
»Bernard, mein Koffer«, verlangte der Doc. »Haben Sie irgendwelche Kreislaufschwierigkeiten oder Herzprobleme?«
»Wie bitte?« Annettes Vater starrte den Doc verwirrt an.
»Sind Sie gesund oder haben Sie gesundheitliche Probleme?«
»Ich bin gesund.«
»Na gut. Dann setzen Sie sich mal auf den Grasflecken da.« Der Arzt wirkte kühl, er wollte ein Problem aus der Welt schaffen. »Ziehen Sie das Jackett aus, ich brauche Ihren rechten Arm.«
»Ja«, murmelte von Hülsdonk verwirrt. »Sie war nicht mehr zu retten?«
»Leider nein«, sagte der Doc und kramte in seiner Tasche.
»Hat sie, ich meine, hat sie ...«
»Sie hat nicht gelitten«, gab Kischkewitz Auskunft. »Wenn Sie das meinen.«
»Ich fahre mal, ich muss noch nach Monschau«, sagte Rodenstock. Er wandte sich an mich. »Wir sehen uns.«
»Ja, gut«, sagte ich. »Ich fahre jetzt heim. Wilma, du solltest mit Kischkewitz abklären, was zu tun ist.«
»Na klar«, murmelte Wilma, »na klar.« Aber sie war nicht bei der Sache. »Also, ich glaube nicht an die Windräder als Motiv.« Sie meinte mich gar nicht, sie sprach mit sich selbst.
Darauf hatte ich keine Antwort. Ich ging zu meinem Auto und fuhr los. Plötzlich war ich todmüde und hatte nur noch den Wunsch, mich hinzulegen und einzuschlafen.
Es muss gegen sieben Uhr abends gewesen sein, als ich auf meinen Hof rollte und zufrieden feststellte, dass meine kleine Welt noch in Ordnung war. Meine drei Kater standen vor der Haustür und miauten um die Wette, drückten sich an meine Beine und taten so, als seien sie kurz davor zu verhungern.
Ich legte eine CD des Jazzgeigers Stephane Grapelli auf und ließ es ordentlich dröhnen. Wahrscheinlich habe ich gedacht, ich müsse etwas gegen die Bedrückung tun, die sich in mir breit gemacht hatte.
Auf das Tonband des Telefons hatten vier verschiedene Redakteure gesprochen, die anfragten, ob ich etwas über den Tod des Bundestagsabgeordneten Jakob Driesch machen könnte. Ich rief sie der Reihe nach zurück und sagte zu, dass ich am nächsten Tag einen Text schreiben würde.
Sonja Rheinheimer, meine Steuerberaterin aus Loogh, bemerkte auf dem Anrufbeantworter mit berechtigter Ungeduld: »Sie sollten bei mir vorbeikommen, dem Finanzamt fehlen immer noch gewisse Angaben. Und wenn die böse werden, wird das richtig teuer!« Jemand von der Firma Minninger erklärte, das Heizöl koste zurzeit soundso viel. Emma teilte mit, sie mache sich doch noch heute auf den Weg. Die nächste Aufnahme stammte wieder von Emma, die nun mitteilte, sie führe nach Absprache mit Rodenstock erst einmal in ihre Wohnung an der Mosel. Und noch einmal Emma mit dem spitzen Satz: »Ihr zwei seid wirklich wie Kinder ohne Hirn.« Zuletzt meine Bank mit dem Hinweis, mein Konto sei in beträchtliche Bodenlosigkeit gesunken.
Alles in allem fand ich also nichts Besonderes vor, entschied mich gegen jede Form von Arbeit und hockte mich oberhalb des Teiches an die Mauer im Garten. Dann geschah die Sache mit dem Wildentenpaar.
Die beiden waren den ganzen Sommer über frühmorgens und gegen Abend auf meinen Teich geflogen, hatten sich quakend wohl gefühlt und waren in der Regel eine Stunde geblieben. Sie hatten an den Algen gezupft, ein paar Blätter der Wasserpflanzen angefressen und waren dann, Schnabel im Gefieder, eingeschlafen, um sich endlich, mit kraftstrotzendem Start flach über die Mauer hinweg, wieder auf den Weg zu machen.
Ich stellte mir das sehr menschlich vor: Unten am Bach hatten sie ihre Jungen, warteten vermutlich, bis die schliefen, hatten ihnen vorher eingebläut: Seid ruhig, sonst kommt der böse Mäusebussard! Und kamen dann, um ihr Eheleben zu pflegen, zu Baumeisters Teich. Sie hatten tatsächlich vier Junge, so viel hatte ich herausfinden können.
Meine drei Kater hatten bisher nicht auf die Besuche des Vogelpaars reagiert. Hin und wieder ein schräger Blick, aber kein Angriff. An diesem Abend aber wollten sie es wissen.
Der Erpel umschwamm sein Weibchen, war äußerst liebevoll und wahrscheinlich besagte sein beständiges Schnattern: »Du siehst heute Abend wieder entzückend aus, meine Liebe!« Wahrscheinlich antwortete sie: »Du bist so fürsorglich, tatsächlich fühle ich mich scheußlich, weil meine Federn so flach liegen!« oder so was in der Art.
Derweil formierten sich meine drei Kater Satchmo, Willi und Paul. Sie bildeten das klassische Dreieck. Satchmo hatte die Aufgabe, frontal anzugreifen, Willi deckte die linke Flanke, Paul die rechte. Ich nahm an, dass Paul als der Schnellste und Hinterlistigste den direkten Schlag führen sollte. Satchmo und Willi waren ablenkende Dekoration.
Natürlich geriet ich als normaler Mitteleuropäer in eine nervenzerfetzende Krise. Sollte ich die Katzen verfluchen und verscheuchen? Oder sollte ich ihnen die Chance lassen zu gewinnen? Sollte ich die Enten verscheuchen, um sie zu retten? Baby-Enten ohne Eltern? Das klang sehr grausam, unerträglich.
Aber meine Katzen waren geborene Raufbolde und Jäger. Und irgendwie gehörten sie zur Familie und irgendwie musste ich mich solidarisch zeigen. Und wann immer ein Mensch maßgeblich in tierisches Schicksal eingreift, bekommt er eine Lektion erteilt.
Meine Katzen und das Wildentenpaar hätten sich wahrscheinlich totgelacht, wenn sie meine Gedanken hätten lesen können.
Die strategische Mitte namens Satchmo krallte also die Läufe in meinen Rasen, wackelte mit dem Arsch, um den notwendigen Halt zu gewinnen, und schoss dann raketengleich nach vorn. Der Angriff galt dem Erpel, der seine Frau abdeckte. Mit einer einzigen Bewegung seiner Ruderfüße glitt der Erpel aus der Flugbahn meines Jungkaters. Satchmo schoss mit einer geradezu irren Geschwindigkeit über den Teichrand hinaus und landete neben Frau Wildente im Wasser. Die Dame drehte gelangweilt ab, machte zwei- oder dreimal »Quak, quak«, während sich mein Kater verzweifelt bemühte, festen Boden unter die Füße zu kriegen. Etwas war schiefgegangen, er hatte das Wasser vergessen. Endlich erreichte er Boden, aber hier war schlammige Moorerde und Satchmo sackte ein und quiekte erbärmlich.
Inzwischen hatte sich Willi raffinierterweise auf die Moorerde am Rand getraut und war nur noch etwa dreißig Zentimeter von dem Erpel entfernt. Der blieb vollkommen gelassen, machte sogar ein freudig erregtes »Quak, quak« nach dem Motto: Ich heiße Detlev und wie heißt du? Dann aber glitt der Entenmann zur Seite und machte seiner Frau Platz, die mit majestätischer Ruhe heranschwamm und auf die Moorerde watschelte. Auch sie machte »Quak, quak«, aber durchaus nicht friedfertig. Sie tat einen plötzlichen Hupfer zur Seite und landete auf dem Rücken des wackeren Willi. Der duckte sich, so tief er konnte, und rutschte ab. Die Entendame hackte auf sein Genick ein und Willi begann augenblicklich wie ein Menschenbaby zu schreien. Ich war empört. Was bildeten sich diese gottserbärmlichen Enten eigentlich ein, diese miesen, watschelnden Weihnachtsbraten?
Willi entkam, indem er sich so flach wie möglich in den Modder drückte. Jetzt herrschte Krieg.
Satchmo war nun auf rettendes Gelände geraten, aber Willi steckte noch immer im Schlamm. Das Entenpaar schwamm derweil dermaßen arrogant vor meiner Mannschaft herum, dass einem elend werden konnte.
Paul, du musst uns retten!
Paul befand sich immer noch auf der rechten Flügelposition und verfiel auf einen einleuchtenden Trick. Da gab es einen Königsfarn, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft die Erde relativ fest war. Und das Wasser unter dem Kiel der Enten war nur einen Hauch weit entfernt. Paul, da war ich ganz sicher, würde nicht den Fehler machen, ins Wasser zu gehen oder sich auf Moorerde zu verlassen. Und ich behielt Recht. Paul tat das einzig Vernünftige: Er blieb stur und bewegungslos hinter dem Farn hocken.
Willi eilte ihm zu Hilfe. Moorerde hin, Moorerde her, Willi griff an. Tatsächlich kam er auf Prankenlänge an den Erpel heran, richtete sich hoch auf und ließ sich nach vorn fallen. Ins Leere, weil der Erpel wieder elegant zur Seite geglitten war. Diesmal musste Willi schwimmen. Und das mochte er gar nicht. Er kiekste angstvoll und machte Lärm wie eine Horde Affen.
In diesem Moment sprang Paul die Mutter der Kompanie an. Er erreichte sie auch am Bürzel, wie man den Hintern nennt, erwischte einige kleine Federn, war aber weit davon entfernt, Sieger zu werden, denn die Dame machte eine kurze Drehung nach backbord und hatte ihn frontal vor sich. Die Entenfrau benutzte ihren Schnabel, als sei er ein Küchenmesser. Paul bekam eine Tracht Prügel, wie sie vollkommener nicht sein konnte.
Satchmo näherte sich erneut heldenhaft. Er wollte Paul helfen, wogegen der Erpel entschieden etwas hatte.
Mit Schaudern bemerkte ich die eigentliche Strategie der Wildenten. Hauptsache, die Kater waren im Schlamm und im Wasser. Und jetzt waren sie alle drei dort und wurden genüsslich und erbarmungslos verwalkt.
Als die Schlacht endlich vorbei war und meine drei Kater das rettende Ufer erreicht hatten, besaß die Entenmutter auch noch die Frechheit, ans Ufer zu watscheln, sich auf einen Umrandungsstein zu stellen und sich landfein zu putzen. Und der Erpel musste nicht einmal aufpassen, meine Katzen standen für irgendwelche Aktivitäten einfach nicht mehr zur Verfügung, sie hatten sich verzogen. Wahrscheinlich hockten sie irgendwo im hohen Gras und pfiffen sich eins oder murmelten: »Also, richtige Lust auf eine Prügelei hatte ich sowieso nicht!«
Katzen sind eben auch nur Menschen.
Ich marschierte ins Haus, holte mir ein paar Kissen für die Liege und richtete mich unter dem Eifelhimmel ein. Es war jetzt acht Uhr, ich wollte den Tag gemütlich ausklingen lassen, vielleicht ein wenig über Jakob Driesch nachdenken, über Annette von Hülsdonk, über Windräder, über Menschen, die vom Wind lebten, und über die, die dagegen waren, dass andere vom Wind lebten. Wieso war dieser Ökobauer namens Tenhoven verschwunden? Und wohin? Und wo war das Auto des Bundestagsabgeordneten? Rodenstock hatte Recht: Es war nicht wichtig, wie Driesch in die Rur geraten war, wir mussten herausfinden, wo er die neun Stunden verbracht hatte, bis ihn jemand tötete.
Ich entschied mich für Kischkewitz, ich musste mit meinen Überlegungen irgendwie weiterkommen, und Rodenstock mochte ich nicht sprechen. Also rief ich Kischkewitz an: »Ich störe ungern, aber ich muss stören, wenn ich mitdenken will. Was ist mit Drieschs Auto?«
»Wir haben es«, antwortete er mit einem kleinen Triumph in der Stimme. »Wir haben es gefunden. Abgeschlossen, unversehrt, kein Kratzer dran.«
»Und wo, bitte?«
»In Heidgen. Sagt dir das was?«
»Hilf mir.«
»Du kommst von Schieiden, fährst durch Höfen. Dieses Bundesgolddorf 1987, das mit den haushohen Buchenhecken. Du bist auf der B 258. Unmittelbar hinter Höfen teilt sich die Straße. Nach links geht es weiter auf die Umgehungsstraße, die rund um Monschau führt. Die B 258 biegt aber nach rechts ab und geht steil ins Tal. Landet unten am Aukloster. Mitgekommen?«
»Mitgekommen.«
»An der Stelle, wo die Umgehungsstraße beginnt und später zur B 399 wird, geht es in eine Siedlung. Kleine Neubauten. Das ist Heidgen. Die Hauptstraße dieser Siedlung heißt ebenfalls Heidgen, führt dann auf das Sträßchen Am Grindel. Und das liegt praktisch im Himmel von Monschau, also steil über der Stadt. Wenn du dort parkst, hast du drei Möglichkeiten, in die Stadt zu laufen. Über den Unteren Mühlenberg, den Oberen Mühlenberg und das Sträßchen Auf den Planken. Wenn Driesch in die Stadt hineinwollte, ohne gesehen zu werden, dann war das eine gute Parkplatzwahl.«
»Irgendwelche Spuren am Fahrzeug?«
»Die erste Untersuchung hat absolut nichts ergeben.«
»Wie geht es denn deiner Seele?«
Er zögerte. »Ehrlich gestanden, beschissen. Wir haben jede Menge mögliche Spuren, jede Menge Hinweise aus der Bevölkerung. Aber absolut nichts, was uns eine echte Spur beschert. Ich weiß immer noch nicht, was einer der bekanntesten Männer dieser Region neun Stunden lang getan hat. Wir haben nun Fotos von dem Wagen gemacht und reichen sie herum wie saures Bier.«
»Kannst du mir eins faxen?«
»Kommt sofort. Was hältst denn du von der Windenergiegeschichte?«
»Ziemlich viel«, antwortete ich. »Da steckt verdammt viel Geld drin. Europäische Gelder, Gelder des Landes, Gelder der Bundes, weiß der Himmel, viel, viel Geld. Und es gibt immer Zoff. Es gibt schon Zoff, wenn sie einen Wald abholzen müssen. Und diesmal ist es gleich ein Riesenwald und ausgerechnet in der stillen Heimat deutscher Wanderer. Verlass dich drauf, da gibt es Motive wie Sand am M^eer.«
Er wurde aggressiv. »Verdammt noch mal, dann nenn mir ein einziges Motiv. Nenn es mir!«
»Also gut. Nimm mal an, ich besitze ein Stück Wald. Sagen wir zwanzigtausend Quadratmeter. Das hat normalerweise einen Wert von vierzigtausend bis einhunderttausend Mark, je nach Lage. Jetzt ist es plötzlich zweihunderttausend Mark wert, weil jemand darauf einen Windkraftpark anlegen will. Meinetwegen liegt mein Grundstück in der geplanten Mitte der Windkraftanlage. Mit anderen Worten: Wenn ich nicht verkaufe, können die das Ding nicht durchziehen. Verstanden?«
»Verstanden. Und weiter?«
»Jemand kommt zu mir und sagt: Ich möchte deinen Wald kaufen. Ich gebe zu verstehen, dass der bereits einem anderen versprochen ist. Macht nichts, sagt der Käufer. Ich zahle das Doppelte, egal, was der andere Käufer zu zahlen bereit ist. Ich beginne zu schwanken, weil ich in diesem Fall nicht zweihunderttausend Mark bekommen kann, sondern vierhunderttausend Mark. Da sagt der Käufer: Hunderttausend von den vierhunderttausend können schwarz und cash über den Tisch gehen. Nun schwanke ich ernsthaft. Beim nächsten Treffen sagt der Käufer: Ich gehe auf eine halbe Million. Davon die Hälfte cash und ohne Quittung. Aber es muss sofort laufen, nicht in vier Wochen. Kannst du dir vorstellen, was dieser Käufer will?«
»Einfluss gewinnen auf die Anlage, politischen Einfluss.«
»Möglich. Er kann aber genauso gut der Vertreter eines bisher nicht involvierten Herstellers von Windrädern sein. Drittens: Vielleicht will er etwas nicht. Nämlich die Windenergieanlage. Er kann sie verhindern. Das hätte wiederum zur Folge, dass die Strombezieher dieser Region beim alten Stromhersteller bleiben müssen. Und noch etwas ist denkbar: Leute, die nach außen hin die Anlage begeistert begrüßen, kaufen sich heimlich ein und verhindern sie – gegen zehn oder zwanzig Prozent der Kaufsumme des gesamten Geländes – schwarz natürlich.«
»Jetzt fängt der Journalist aber an zu spinnen.«
»Es geht noch weiter«, beharrte ich. »Nehmen wir an, Driesch war pleite und die kleine Annette von Hülsdonk auch. Sie lassen sich mit einem der großen Stromerzeuger ein und sagen: Für eine Million killen wir das gesamte Windanlageprojekt. Das wäre für sie nicht schwer. Hier ein bisschen Unfrieden säen, dort ein bisschen Unfrieden. Schließlich sind sechzehn Waldbesitzer leicht gegeneinander aufzubringen, da spielen uralte Familienfehden eine Rolle.«
»Das kannst du von Driesch nicht ernsthaft glauben«, meinte er empört.
»Ich glaube es nicht, ich spiele es doch nur durch, Kischkewitz. Mir fällt noch eine Variante ein: Nehmen wir an, der Hersteller der Windräder will auf Nummer Sicher gehen. Er plant den Windpark zweimal. Einmal im schönen Deutschland und ein zweites Mal zum Beispiel im schönen Belgien, also ein paar tausend Meter weiter. Er wartet, wer ihm die besseren Bedingungen und die besseren Subventionsgelder besorgt. Oder denken wir an Wilma Bruns mit ihrem chronischen Geldmangel. Sie könnte für den Rest ihres Lebens in Saus und Braus auf Hawaii leben, wenn sie einen Windradhersteller favorisiert oder in die Pfanne haut – je nachdem, was besser bezahlt wird. Du musst dich von den tatsächlichen Menschen befreien, sieh es als Denkspiel, Kischkewitz. Motive wie Sand am Meer, weil unheimlich viel Geld im Spiel ist.«
»Ja«, sagte er etwas unglücklich, widersprach aber nicht mehr. »Das wird ja ein chaotisches Puzzle. Weißt du eigentlich irgendetwas über das private Leben dieser Annette von Hülsdonk?«
»Nicht das Geringste. Was habt ihr denn bis jetzt ausgegraben?«
»Wir sind noch dabei«, antwortete er vorsichtig. »Scheint kein Kind von Traurigkeit gewesen zu sein.«
»Das hoffe ich doch«, sagte ich knapp. »Ich komme morgen mal nach Monschau. Was machen meine Kollegen von den Medien?«
»Die saugen sich die wildesten Storys aus den Fingern und haben nicht die geringste Mühe, diese auch noch zu verkaufen.«
»Da gibt es doch in Roetgen diesen Rechtsanwalt, diesen...«
»Doktor Ludger Bensen. Unangenehmer Typ. So viel Arroganz auf einmal lässt mich am Abendland zweifeln. Es ist aber nicht sichtbar, dass er irgendwie drinhängt. Wir haben ein Riesenfeuer unter seinem Arsch entzündet, aber leider ist da nichts. Er hätte allerdings gepasst wie die Faust aufs Auge.«
»Er hat einmal das Gerücht in die Welt gesetzt, Jakob Driesch habe eine Geliebte.«
»Das weiß ich längst, Baumeister. Aber er behauptet, er hätte das nur mal aufs Blaue angetippt, weil er so sauer auf Driesch war. Driesch war Bensens Karrierestopp. Na ja, dafür hat er jetzt freie Fahrt und wir bekommen einen Christlichen in Berlin, der sich dauernd selbst feiert. Noch was, mein Lieber?«
»Danke, mir reicht das erst einmal. Und viel Glück für dich.«
»Das werde ich brauchen«, ahnte er düster. »Und falls du etwas herausfindest, was wichtig ist, erinnere dich an mich.«
»Ich werde mit dir teilen«, sicherte ich ihm zu.
»Das weiß ich«, sagte er einfach.
Plötzlich viel mir doch noch etwas ein: »Wo ist denn diese Windanlage eigentlich projektiert worden? Ich wollte Wilma Bruns danach fragen, habe es aber vergessen.«
»In Hollerath an der B 265«, erklärte Kischkewitz. »Kurz vor dem Weißen Stein, kurz vor dem Losheimer Graben. Und ich kann die Gegner verstehen. Da habe ich früher Wanderungen mit meiner Frau gemacht, dort habe ich sie gefragt, ob sie mich heiraten will, und vermutlich haben wir da meine älteste Tochter gezeugt. Du siehst, ich bin ein echter Eifler, ich war wirklich im Heu.« Er lachte.
»Moment mal, in der Gegend ist doch auch der Tenhoven zu Hause, der verschwundene Ökobauer.«
»Richtig. Aber das eine muss mit dem anderen nichts zu tun haben. Na ja, ich muss weitermachen.«
»Mach es gut«, sagte ich.
Wer konnte etwas von Annette von Hülsdonk wissen? Wer wohnte in der Nähe, zu wem hatte ich einen guten Draht? Jürgen Hermann Buch, Journalist, die gleiche Altersklasse wie Annette ... Okay, also der.
Er war nicht in seinem Haus in Stadtkyll, seine Frau sagte etwas belegt: »Er ist wieder mal nicht da.« Dann wurde sie zuversichtlicher. »Ich nehme aber an, dass er in der nächsten halben Stunde kommt. Er wird dich anrufen.«
Er rief nach sechzig Sekunden an und erklärte lapidar: »Ich war zu Hause, aber meine Frau hatte mich noch nicht auf der Anwesenheitsliste. Was kann ich für dich tun?«
»Annette von Hülsdonk.«
Er atmete scharf ein. »Mit der habe ich den ganzen Tag verbracht. Die Redaktion in Trier hat beschlossen, dass wir morgen eine ganze Doppelseite ausschließlich über Driesch und von Hülsdonk machen. Ich habe Fotos von ihr gesehen. Mein lieber Mann!«
»Ich sah das Original. Aber ich weiß nichts von ihr, gar nichts. Was hat sie so getrieben, als sie noch lebte?«
»Gute Frage. Was trieb sie so?« Er schnaufte tief. »Ich würde mal sagen, sie war kein Kind von Traurigkeit. Eine ausgesprochen lustige Person.«
»Das hörte ich heute schon einmal, aber das reicht mir nicht.«
»Das kann ich verstehen. Für wen willst du das? Für Hamburg, für München?«
»Nee, nee, das weiß ich noch nicht. Kann sein, dass ich mal ein Buch mache, kann sein, dass ich für Hamburg was mache. Auf keinen Fall etwas Schnelles. Also, keine Sorge. «
»Ich habe keine Sorge«, erwiderte er. »Ich dachte nur, ich kann mich darauf einstellen. Kannst du das Gespräch mitschneiden?«
»Kann ich.«
»Dann los. Ich richte mich hier nach meinen Notizen. Also, sie war siebenundzwanzig, als sie heute Morgen starb. Sie war so eine Art bunter Vogel. Das hat jetzt bei mir keine moralischen Qualitäten, sondern ist eher eine sympathische Beschreibung, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Wo wurde sie geboren?«
»Hier in Hellenthal. Ihre Mutter ist vor sechs Jahren gestorben. Krebs. Das war eine tragische Sache. Annette brach ihre Ausbildung ab und kam nach Hause zu ihrem Vater zurück. Daran erkennt man, was für ein Mensch sie war. Sie war ein echtes Eifelkind. Sie war mit den hiesigen Gleichaltrigen immer verbunden, war keine Einzelgängerin und ziemlich wild. Ich glaube, die hat ihren Eltern manches graue Haar verpasst.« Er lachte leise. »Ich kann mich an die Zeit erinnern, als wir alle so sechzehn bis achtzehn waren, kurz vor dem Abi. Es gab, glaube ich, keinen im Dreieck Blankenheim, Schieiden, Prüm, der nicht davon träumte, mit dem Mädchen ins Heu zu gehen. Mich eingeschlossen. Und wahrscheinlich hatten die Aachener Gymnasiasten den gleichen Wunschtraum.« Er wurde in der Erinnerung fröhlich. »Die hat die ganze Nordeifel aufgemischt und wir entwickelten eine Art Sport. Der Sport hieß: ›Gehen wir bei Manni ein Bier trinken‹. Als ich das heute Morgen hörte, war ich also persönlich betroffen. Scheiße!« Er machte eine Pause.
»Ich will dich nicht quälen, aber war sie hübsch?«
»Ja, war sie. Sehr sogar. Sie war so eine Mischung aus Romy Schneider und Audrey Hepburn, wenn du weißt, was ich meine. Eine Seite romantisches, edles Mädchen, die andere Seite eine vom Lande, deftig, richtig schön. Ich glaube, das, was uns vor allem anmachte, war ihre Figur. Irgendwie war sie ein Traum. Und sie konnte so herrlich lachen.«
»Was war das jetzt mit dem Biertrinken?«
»Ach so, ja. Also, ihr Vater heißt Manfred von Hülsdonk. Und der hat eine richtig schöne alte Kneipe. Unten am Kreisverkehr in Hellenthal. Etwas weiter zurück liegt im Übrigen sein Hotel. Jedenfalls half Annette manchmal in der Kneipe aus. Deswegen gingen wir bei Manni ein Bier trinken. Oft war es dann so, dass ich mein ganzes Monatstaschengeld an zwei Abenden in Mannis Kneipe ließ und Annette noch nicht einmal gesehen hatte, weil sie gar nicht auftauchte.« Er lachte. »Das Schwierigste war, überhaupt nach Hellenthal zu kommen. Damals war es noch nicht normal, ein Moped zu haben. Wir sind per Anhalter angereist, manchmal mit einem Kumpel, der schon den Führerschein hatte, manchmal aber auch zu Fuß über Neuhaus und Udenbreth. Ich sage dir, die hat die Eifeler Jugend wirklich in Bewegung gebracht.«
»Und wer hat sie letztlich gekriegt?«
»Das ist ja das Verrückte: Keiner!«
»Das gibt's doch gar nicht!«
»Doch, das gibt es. Niemand hatte sie. Außer dem irren Bastian. Aber der zählt ja nicht.«
»Wer ist das nun schon wieder?«
»Bastian heißt eigentlich Sebastian, ist der Sohn eines Installateurs. Ist als Vierzehnjähriger in einem Neubau zwei Stockwerke tief gefallen. Irgendwas in seinem Kopf ist seitdem kaputt. Er hat einen Schaden, nicht schlimm, aber deutlich. Und ausgerechnet er wurde Annettes wirklicher Freund. Ich weiß natürlich nicht, ob sie miteinander geschlafen haben – fast würde ich annehmen: nein. Aber er wurde über die Jahre ihr Vertrauter. Was immer sie ihm sagte, er tat es; was immer sie wollte, er besorgte es; was immer sie plante, er richtete es ein, dass alles klappte. Er hat einen Sprachfehler und eine leichte Lähmung auf der linken Seite, aber sonst ist er körperlich topfit. Er hat das Aussehen eines Engels und er kann niemandem ein Haar krümmen, sagen die Leute. Doch ich befürchte, wenn er erfährt, dass seine Annette tot ist, wird er ausrasten.«
»Sag mal, das alles hast du in deiner Zeitung verarbeitet?« Ich war verblüfft. Das war die Erzählung eines Freundes, nicht der Bericht eines Journalisten.
»Nichts von dem«, murmelte er. »Ich habe dem Trierischen Volksfreund einen sanften Essay hingelegt, etwas zum Nachdenken. Was sollte ich auch sonst tun? Ich weiß eben zu viel, ich war dabei.«
»Kannst du dir einen Grund vorstellen, warum sie jemand erschossen hat?«
»Ja und nein«, sagte er tonlos. Dann wiederholte er es langsam, fast genüsslich. »Ja und nein.«
Wir schwiegen eine Weile, bis ich fragte: »Sie hat doch das Leben geliebt, oder?«
»Hat sie«, bestätigte er.
»Dann ist es unvorstellbar, dass sie sich auf niemanden einließ, dass sie keinen Freund hatte.«
»So war sie eben. Und ich hab ja auch nicht behauptet, dass sie sich auf niemanden einließ. Sie meinte mal zu mir, in der Eifel würde zu viel geredet, zu viele Gerüchte. Und ihre Ausbildung hat sie ja im Ausland gemacht und dort hatte sie Freunde und manchmal auch einen Mann fürs Bett. Ein komisches Mädchen, vielleicht, oder ein seltenes Mädchen. In der Eifel fange ich nichts an, sagte sie immer. Und ich habe selbst die Sache in Wales erlebt. Das war herb.« Er überlegte. »Du wirst eh nachfragen, also erzähle ich es dir gleich. Wir sind vom Verein aus nach Großbritannien gefahren. Gemütliche Tour über vierzehn Tage. Die Küsten abgetingelt. Ich weiß nicht mehr, wie das Städtchen hieß, aber es gab dort ein edles Hotel. Und da arbeitete unsere Annette im Empfang. Ich habe sie nicht wieder erkannt, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Offenes, langes Haar, ein Ausschnitt, dass dir die Augen übergingen, ein Rock, der nicht mal für den Arsch reichte. Ein ganz anderer Mensch. Und sie genoss es, angestarrt zu werden. Eindeutig hatte sie was mit mindestens zwei Kellnern. Komisch, es hat mich irgendwie enttäuscht. Sie wirkte billig, nicht mehr so ... so souverän, wenn du verstehst, was ich meine. Wenn sie uns in der Lobby etwas servierte, beugte sie sich so weit vor, dass man ihren Slip würdigen konnte. Irgendwie, na ja, das war nicht mehr unsere Annette.«
»Und was sagte Bastian zu dieser Annette?«
»Ich denke, er hat sie nie so erlebt. Und als sie nach dem Tod der Mutter zurückkehrte, war sie wieder die alte Annette. Zurückhaltend, seriös und so weiter. Und sie verfolgte ihren alten Plan.«
»Was war das?«
»Ein Hotel. Sie wollte immer ein eigenes Hotel haben. Sie sagte: Ich will ein Hotel, in dem sich Verliebte verkriechen können. Keine Namen, nur Zimmernummern und endlos Luxus. Ihr Vater wollte ihr dabei helfen. Das weiß ich sicher.«
»Du kannst dir ja und nein vorstellen, dass jemand sie erschießt. Kannst du das näher erklären?«
»Tja, in ihrem Privatleben sehe ich wirklich keinen Grund. Aber bei den Windrädern fallen mir gleich mehrere ein. Es gibt Leute, die sind auf hundertachtzig, wenn sie nur das Wort Windkraft hören. Und nun kommt Annette daher, plant eine Rodung und mindestens vierzig Windräder. Und sie zieht die Waldbesitzer auf ihre Seite. Das muss Hass erzeugen.«
»Du meinst also, dass jemand, der Natur pur will und alles, was nicht dazugehört, hasst, sie erschossen haben könnte?«
»Richtig, das nehme ich an.«
»Wie viele Leute kämen da denn in Frage?«
»Mindestens ein Dutzend. Und das sind nur die, die mir sofort einfallen. Es gibt nun mal Leute, die sich als Naturschützer ausgeben und dabei so fanatisch sind, dass sie ... na ja, dass sie über Leichen gehen.«
»Noch was anderes: Kanntest du Jakob Driesch? – Blöde Frage. Wie gut kanntest du Driesch?«
»Wir waren Freunde. Schon lange. Ich habe mich immer geweigert, über ihn zu schreiben. Jetzt muss ich eine Doppelseite über seinen und Annettes Tod machen. Ganz schöne Sauerei, elitäre Sauerei.« Er schwieg eine Weile. »Da ist etwas ... Das wird sowieso rauskommen, aber das wird Driesch schwer belasten. Ich will, dass du das weißt.«
»Das ist ja sehr nett«, entgegnete ich unsicher. »Aber behalt es doch für dich, wenn es so brisant ist.«
Er schwieg wieder, ich hörte, dass er sich eine Zigarette anzündete und mehrere Male heftig und wild »Scheiße!« sagte. »Bist du noch da, Siggi?«
»Natürlich. Also, was ist los?«
»Jakob war vor acht Monaten auf Mallorca. Allein. Er hat dort eine Finca gekauft, so ein mallorquinisches Bauernhaus mit ein paar tausend Quadratmeter Grund drum herum. Er hat bar gezahlt, Siggi. Eine Million Mark in bar.«
»Und? Woher kam das Geld? War das irgendwie illegal?«
»Ich kenne ihn, er war nicht käuflich. Ich habe das nur durch einen saublöden Zufall mitbekommen.«
»Erzähl!«
»Ich war in seiner Sprechstunde. Rein beruflich. Ich wollte wissen, welche öffentlichen Projekte von der EU gefördert werden und wie man an die Gelder kommt. Darin war er Spezialist. Er hatte unten in Schieiden in der kleinen Fußgängerzone ein Büro im ersten Stock. Ich war also da und er hatte Zeit für mich. Wir redeten miteinander, da schellte es. Der Postbote brachte ein dickes Kuvert, eingeschrieben. Aus Spanien, von einem Notar auf Mallorca. Driesch sollte irgendwelche Dokumente unterschreiben und sagte zu dem Postboten: Du kannst warten, das tüten wir gleich wieder ein. Ich hockte da und wartete, während er die Dokumente abzeichnete. Er tütete sie wieder ein, adressierte den Umschlag, klebte Briefmarken drauf. Dann wollte er das Ding zukleben, dabei rutschte ihm der ganze Papierkram aus dem Kuvert. Ich bückte mich und hob das Zeug auf. Die Geschichte war eindeutig, denn es gab zu jeder Seite eine deutsche Übersetzung. Kauf eines Hauses in Sowieso auf Mallorca/Spanien. Vielleicht wollte Driesch das Haus ja Anna schenken, wahrscheinlich war das eine stinknormale Sache. Doch da gab es ein Blatt mit vier Zeilen, auf Spanisch und auf Deutsch. Wir bestätigen, hieß es da, den Betrag von DM 1.000.000,- erhalten zu haben. Unterschrift Dr. Sowieso. Driesch war blass geworden und bat: Schweig bitte darüber. Das ist für ganz schlimme Zeiten. Und er wiederholte die Bitte, als wir später unten im Cafe saßen und einen Kaffee tranken. Das war etwas komisch, denn er hätte wissen müssen, dass ich nie über so etwas rede. Zu niemandem. Und wahrscheinlich hat das ja auch nichts zu bedeuten.«
»Aber du hast ein mieses Gefühl dabei, stimmt's?«
»Ja, das habe ich. Todsicher wird jemand aus unserer Branche auf die Idee kommen, zu behaupten, Driesch habe sich bestechen lassen. Glaubst du das nicht auch?«
»Darauf kannst du dich verlassen. Warum hat er so einen Blödsinn gemacht?«
»Ich vermute, weil der Verkäufer Bargeld haben wollte. Und weil Driesch so den Preis drücken konnte. Aber das ist wahr: Wieso baut er plötzlich so einen riskanten Scheiß? Er hätte doch wissen müssen, dass er sich damit verdächtig macht.«
»Weiß sonst noch jemand davon?«
»Nein, glaube ich nicht. Aber die Sonderkommission wird es natürlich entdecken, und geheim halten können sie es nicht. Mein Gott, wenn ich an seine Frau denke, wird mir ganz schlecht.«
»Wie sind überhaupt die finanziellen Verhältnisse der Familie?«
Er antwortete, ohne zu zögern. »Solide.«
»Ich hoffe, wir können die Mallorca-Story zu seinen Gunsten recherchieren. Kann ich mich melden, falls ich noch Fragen habe?«
»Natürlich«, versicherte er. »Jederzeit.«
»Und ich muss dich darauf aufmerksam machen, dass ich die Sache mit der Million weitergeben muss. Erstens an meinen Freund Rodenstock, der ehemaliger Kripomann ist und jetzt für den Bundesnachrichtendienst die Untersuchung beobachtet. Und zweitens an Kischkewitz, den du ja kennst. Ich garantiere, dass die mit diesem Wissen vorsichtig umgehen werden. Doch je eher die davon wissen, desto schneller bekommen wir Klarheit. Einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete er und legte auf.
Ich erlebte das nicht zum ersten Mal, dass Journalisten ganz persönlich in ein Kaleidoskop aus Gefühlen verstrickt waren, die sie beim Schreiben einer Geschichte störten. Die meisten versuchten es trotzdem und scheiterten – auch mir selbst war das passiert. Buch hatte einen guten Weg gefunden, er hatte um Hilfe gebeten und sein Wissen einfach weitergegeben.
Ich legte eine CD auf, die in der letzten Zeit mein Favorit war: ›The streets of New Orleans‹. Das war einfach fröhliche Musik, wenngleich ich Fröhlichkeit nicht suchte. Ich stopfte mir die Spitfire von Lorenzo und schmauchte vor mich hin.
Der Abend war gekommen, das Licht ein wenig dunstig, die Hitze des Tages wich allmählich. Ich schlurfte im Haus herum, gab den Katzen etwas zu fressen, hockte mich wieder an den Teich und entdeckte sieben oder acht winzige Goldfische im Flachwasser, nicht einmal einen halben Zentimeter lang. Eine große blaue Königslibelle zog ihre schnellen Kreise, setzte sich auf den alten Baumstumpf im Wasser, bohrte scheinbar den Hinterleib in eine Holzfalte und bildete einen prächtig schillernden Bogen. Zwei Mauersegler stürzten vom Kirchturm her auf die Wasserfläche hinab, glitten darüber hinweg, nahmen einen Schnabel voll Wasser auf und verschwanden wieder. Die beiden fetten Koikarpfen knabberten an der Englischen Minze herum, die in voller, malvenfarbener Blüte stand. Dann jagten sich die Fische um einen Busch wilden Reis, verschwanden in der Tiefe, um irgendwo aufzutauchen und die Jagd von vorn zu beginnen. Und die Goldbrasse dackelte gemächlich hinterher wie ein Gouvernante.
In der Luft lag ein Hauch von Herbst, ein Hauch jener Jahreszeit, die in der Eifel am schönsten ist, weil alle Farben dieser Welt auftauchen, leuchten und dann vergehen, wenn die Natur sich schlafen legt. Wahrscheinlich würde am nächsten Morgen Tau auf dem Gras liegen und in den scharf eingeschnittenen Tälern würde Nebel wie ein Tuch das Land bedecken. O Herr, der Sommer war sehr groß. Hätte irgendjemand gesagt, in dieser Nacht würde etwas Entscheidendes geschehen, hätte ich mit Sicherheit gegrinst und keinen Gedanken daran verschwendet. Nein, ich war nicht im Geringsten vorbereitet, die Ankunft einer Katastrophe erschien mir gänzlich unmöglich.
Gegen 23 Uhr war es dunkel und ich wollte ins Haus zurückgehen, um noch einige Passagen einer Reportage zu korrigieren. Doch das Handy fiepste, und ehe ich das Gespräch angenommen hatte, war ich mir sicher, dass es Emma war.
»Hör mal, ihr müsst miteinander reden. Rodenstock hat es nicht so gemeint, er misstraut dir nicht, im Gegenteil. Und du weißt das. Jetzt hockt er hier und es geht ihm beschissen.«
»Ich kann nichts dafür. Es war wie eine Ohrfeige für mich, es ist noch immer so. Er hat zwei Tage recherchiert, ohne ein Wort zu sagen, er hat anderen versprochen, mich nicht einzubinden. Verdammte Hacke, Emma, warum hat er den Arschlöchern beim Bundesnachrichtendienst nicht deutlich gemacht, dass ich nicht einfach drauflos veröffentliche? Warum akzeptiert er, dass der BND aus mir einen Unsicherheitsfaktor macht?«
»Er wollte die Leute schnell loswerden. Das war alles.«
»Das war nicht alles, das stimmt so nicht. Er hat recherchiert.«
»Du bist eifersüchtig, Baumeister.«
»Das bin ich nicht. Und du solltest nicht als Kuppelmutter fungieren, das passt nicht zu dir.«
»Ihr seid wie Kinder.«
»Das ist ja sehr hilfreich!«, höhnte ich. »Erst schaltet er mich weg wie ein Relais, und dann muss ich mir anhören, er habe das alles nicht so gemeint. Scheiße, verbiege doch nicht die Wahrheit.«
»Du machst dir etwas nicht bewusst, Baumeister. Du solltest mir zuhören. Und unterbrich mich nicht, ich erzähle das nicht zweimal. Rodenstock hat mal gesagt, dass er es furchtbar findet, ganz langsam im Morast des Altseins zu versacken. Und die Dinge, die wir mit dir treiben, sind sein Leben, ein sehr lebendiges Leben. Wir sind doch in deinem Haus mehr zu Hause als hier an der Mosel. Wir sind doch so was wie eine Familie ...«
»Und in der Familie, die ich meine, verlässt man sich aufeinander!«, brüllte ich. »Ach, verdammt, entschuldige, ich hab dich unterbrochen. Mach schon weiter.«
»Rodenstock hat immer davon geträumt, dass sich irgendwer noch einmal sich an sein Gehirn erinnert. Jetzt stirbt dieser Driesch und was geschieht? Jemand erinnert sich an Rodenstocks Gehirn. Genauer gesagt, der Chef des BND erinnert sich daran. Du kannst dir nicht vorstellen, wie aufgeregt Rodenstock war. Da ruft der BND-Chef an und sagt: Ich brauche dich! Weißt du, was passiert ist? Er hat mich mitten aus einer Vorlesung herausholen lassen, in der FBI-Akademie. Rodenstock sagte: Es ist passiert, Liebling, sie brauchen mich. Das war viel mehr wert als Orden und Ehrenzeichen, das war absolut die Krönung seines Lebens. Und als sie verlangten, lassen Sie den Baumeister aus dem Spiel, hat er jawoll gesagt, weil ihm in diesen Sekunden alles scheißegal war. Du, ich, alles war ihm scheißegal. Jemand hatte sich an ihn erinnert, jemand hatte gesagt: Ich brauche dich! Was verlangst du von Rodenstock, Baumeister? Ständige menschliche Perfektion auf höchstem moralischen und ethischen Standard? Bist du verrückt? Bist du der liebe Gott? Nun hockt er da in diesem schäbigen kleinen Garten und möchte es dir erklären, aber er findet die Worte nicht.«
»Und wie soll das jetzt, bitte schön, weitergehen?« Ich war immer noch zutiefst sauer.
»Redet miteinander, räumt das aus. Und geht an die Arbeit. Kischkewitz braucht euch doch auch, er kann jeden gebrauchen.«
Ich überlegte eine Weile. »Sag Rodenstock, wir sehen uns morgen früh. Entweder hier oder bei euch. Und sag ihm noch etwas: Jakob Driesch ist vor ein paar Monaten nach Mallorca geflogen und hat ein spanisches Bauernhaus gekauft. Für eine Million Mark, die er bar auf den Tisch gelegt hat.«
»Das ist nicht wahr!«
»Doch, das ist es. Und Rodenstock soll das auch an Kischkewitz weitergeben.«
»Bist du dir im Klaren darüber, dass das ein Motiv sein kann?«, fragte sie etwas schrill.
»Das habe sogar ich verstanden«, erwiderte ich arrogant. »Wenn ihm jemand eine Million zusteckte, zum Beispiel damit seine Windräder platziert werden, dann musste dieser Jemand Driesch töten, als er erfuhr, dass Driesch mit den Geldkoffern nach Mallorca geflogen ist. So einfach kann das sein.«
»Bleib mal dran, ich hole Rodenstock.«
»Nein, bitte nicht. Ich kann das jetzt nicht, ich brauche eine Pause.«
»Gut, ich erzähle ihm alles. Und ich sage ihm, dass du verstehst, was da bei ihm abgelaufen ist.«
»Du bist ein Gauner!«, schimpfte ich und unterbrach die Verbindung.
Endlich ging ich ins Haus, schaltete den Computer ein, stopfte ein paar Pfeifen, bereitete mir einen Tee und begann mit der Arbeit. Später rekonstruierten wir mit Hilfe des Computers, dass es exakt um 1.23 Uhr begann. Wie beschreibt man eine Katastrophe?
Ich versuchte gerade, einen Satz in zwei Sätze zu teilen, um den Gedanken verständlicher zu machen, als ich plötzlich im Dunkeln saß. Der Computer knackte, der Rechner gab einen Seufzer von sich. Heute erinnere ich mich, dass ein oder zwei Minuten vorher alle drei Katzen, die hinter mir im Zimmer auf dem Teppich gelegen hatten, blitzschnell verschwunden waren.
Ich saß also im Dunkeln und stand auf. Von irgendwoher kam ein Lichtschimmer. Ich tastete mich vorsichtig aus dem Raum durch die offene Tür in das Treppenhaus. Der Lichtschimmer kam von unten. Ich ging die Treppe hinunter. Merkwürdigerweise brannte in der Küche noch Licht.
Dann hörte ich ein leises Knallen, das immer heftiger wurde. Und ich roch den Rauch. Automatisch dachte ich: Da brennt etwas auf dem Dachboden, nahm einen Plastikeimer und ließ ihn voll Wasser laufen. Mit dem Eimer in der Hand lief ich die Treppe wieder hoch. Ich öffnete die Tür zum Dachboden und versuchte, das Licht einzuschalten. Es funktionierte nicht.
Etwa zwei Meter vor mir brannte auf dem Fußboden ein kleines, lustig flackerndes Feuer. Ich goss das Wasser darauf. Eine Wolke stinkenden Qualms erwischte mich und ich bekam keine Luft mehr. Taumelnd bewegte ich mich zurück in die Richtung, in der ich die Tür vermutete. Ich ertastete den neu eingebauten Schaltkasten des Hauses, dann den Türrahmen. Und als ich mich herumdrehte, sah ich, dass hoch über mir der Firstbalken brannte – lichterloh.
Intuitiv rannte ich hinunter, so schnell das in der Dunkelheit möglich war. Nun war auch in der Küche das Licht aus. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich erst nach links zu Andrea und Günther Froom rannte oder nach rechts zu Maria und Rudi Latten. Ich weiß nur, ich klopfte an beide Fenster und Türen und schrie: »Ich brauche die Feuerwehr!«
Noch eines ist mir deutlich in Erinnerung geblieben: Ich nahm das alles nicht sonderlich ernst. Das würde irgendwie in den Griff zu kriegen sein. Katastrophen treffen bekanntlich immer nur andere Menschen, niemals einen selbst.
Ich lief wieder zurück ins Haus. Mein Verhalten folgte keinen Überlegungen. Weder wollte ich den Computer herausholen, was angesichts der gespeicherten Texte wirklich vernünftig gewesen wäre, noch wollte ich irgendwelche wichtigen Unterlagen und Papiere retten. Tage später habe ich mit meinen Freunden diskutiert, was man in so einem Fall wirklich in Sicherheit bringen muss. Sie wussten es genauso wenig wie ich. »Man schafft die Kinder raus. Der Rest ist scheißegal«, sagte Günther kurz angebunden.
Da erschienen junge Männer in Feuerwehruniformen im Flur und auf der Treppe. Jemand sagte: »Auf den Dachboden kommen wir nicht mehr.« Ein anderer legte mir eine Hand auf die Schulter und fragte: »Was muss raus? Schnell!« Ich konnte nicht antworten. Dann war ein älterer Mann an meiner Seite, der ganz gemütlich wie bei einem Kaffeeklatsch sagte: »Also, Jung, nun musst du hier aber mal raus und uns machen lassen.« Männer kamen an mir vorbei, die etwas trugen. Computerteile, einen Arm voll Aktenordner, Bücher. Als würde ich aus einer Ohnmacht erwachen, nahm ich nun neben dem Knallen des Feuers auch das Rauschen des Wassers wahr, das durch die schweren Rohre der Feuerwehren gepumpt wurde. »Wir haben höchstens noch fünf Minuten«, rief jemand. »Dann ist zappendüster.«
Ich ging auf den Hof und stellte mich zu den anderen Zuschauern. Es war immer noch so, als ginge mich das Ganze nichts an. Ich dachte hilflos: Das kriege ich in den Griff.
Wir starrten auf das Dach und beobachteten, wie die Glut sich wie eine Blase hochblähte, wie zwischen den Dachpfannen grellrote Flammen sichtbar wurden. Einer meiner Nachbarn sagte: »Das schafft keine Feuerwehr!«
Von den folgenden vier Stunden, in denen wohl an die fünfzig Feuerwehrmänner mit Kran und schwerem Gerät ein scheinbares Durcheinander schufen, blieben nur bestimmte Sekunden haften. Wortfetzen, ein Fluch, der Ruf nach Wasser, Befehle, die ich nicht verstand. Ich hatte das Gefühl, auf einer Insel zu stehen und zu niemandem zu gehören. Langsam kroch Entsetzen in meine Seele, machte sich breit wie eine Kältewelle.
»Andreas Haus können wir retten!«, hörte ich jemanden zuversichtlich sagen. »Baumeisters Haus ist im Eimer.«
Dann bemerkte ich Udo Froom. Es war sein Vaterhaus, das da verbrannte, das Haus seines Lebens. Seine Frau Doro hielt seine Hand.
Der Arzt Detlef Horch, der als Notarzt des Deutschen Roten Kreuzes mit einem Krankenwagen hergekommen war, sprach mich an: »Komisch. Heute Mittag wollte ich dich noch besuchen, um ein Schwätzchen zu halten. Und jetzt das.« Dabei legte er den Arm um meine Schulter. Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Das half.
Mehr als hundert Zuschauer hatten sich eingefunden. Das ganze Dorf stand da. Ein Mann nippte gemütlich an einem Glas mit Wodka, und eine Frau jubelte: »Das ist ja viel schöner als fernsehen.«
Eine alte Frau, deren Namen ich nicht kannte und die sich einen schweren Mantel um die Schultern gehängt hatte, machte ebenfalls einen belustigten Eindruck. »Da schläfst du drüber und dann baust du es wieder auf. Ist ja nichts passiert.«
Irgendwann begann ich zu frieren und wollte ins Haus gehen, um mir einen Pullover zu holen. Da fiel mir ein: Pullover habe ich keine mehr.
Langsam kam der Tag, der Schimmer im Osten war kitschig rosa. Ich hatte keine Pfeife und keinen Tabak eingesteckt, ich pumpte mir eine Zigarette von einem Feuerwehrmann, der gerade eine Pause machte.
»Das Haus ist hinüber«, erklärte er ruhig. »Die Decken müssen raus, du musst das ganze Ding entkernen. Du musst dir eine Wohnung suchen. Das dauert bestimmt ein Jahr, bis das wieder steht. Sei froh, dass du nicht geschlafen hast. Da wärst du kaum rausgekommen.«
»Ja«, nickte ich.
Ein junger Feuerwehrmann trat zu uns: »Siggi, da vorne sind die Bullen. Die wollen mit dir reden.«
Sie saßen in grellgelben Schutzanzügen im hinteren Bereich eines Löschfahrzeuges. Der Mann, der mich verhörte, war jung. Er sah mich an und sprach zu mir, als wäre ich ein verwirrter Insasse eines Altenheims. »Erzählen Sie mir doch mal, wie das war.«
»Ich habe es nicht angezündet«, murmelte ich.
Es dauerte eine halbe Stunde, ich wusste nicht viel zu erzählen. Der Polizist schrieb eifrig mit und entließ mich dann. »Wir kommen wieder auf Sie zu.«
Es war mir von Herzen scheißegal.
Ich schaute auf die Szenerie, als sei sie mir fremd, nicht ein Teil von mir. Die Löschfahrzeuge, der Kran, die erschöpften Feuerwehrleute, das immer noch brennende Haus, die kreisenden Blaulichter, die vielen Zuschauer. Ich dachte flüchtig, dass ich jetzt gern Blues hören würde, am besten eine Klarinette im Sound des Mr. Ackerbilk. Es war die Zeit, zu der meine Katzen auf die Jagd gingen. Katzen? Wo waren die Katzen?
Ich drückte mich an ein paar Feuerwehrmännern vorbei in meinen Garten. Hinter dem Haus beobachtete ich Männer, die Schläuche, auf Andreas Dach gerichtet, hielten, andere kühlten die Flüssiggastanks. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn die beiden Tanks der Nachbarn hochgegangen wären. Tote, Verletzte, zerstörte Häuserzeilen – eine schlimme Vorstellung.
Mein Teich lag unberührt im Morgenlicht wie eine Insel, der Menschen nichts anhaben können. Eine rote Teichrose war aufgegangen, die erste, seit es den Teich gab. Die Fische zogen ungerührt ihre Bahnen. Zwischen meinem zerstörten Haus und diesem Idyll lagen nicht mehr als fünfzehn Meter.
Die Katzen hatten sich für einen sicheren Beobachtungsposten entschieden. Sie hockten nebeneinander unter der Buschbirke und blickten über das Wasser hinweg auf das Haus. Sie wirkten nicht sonderlich angespannt, blinzelten und warteten wahrscheinlich darauf, dass alle diese blöden fremden Leute endlich verschwanden, damit sie durch den Keller ins Haus schleichen konnten, um zu ihren Fressnäpfen zu gelangen.
»Macht euch keine Sorgen«, sagte ich. »Ich bin ja noch da.«
Da kamen sie und rieben sich maunzend an meinen Beinen, um schnell wieder unter der Birke zu verschwinden.
Ein Teil der Zuschauer hatte sich verzogen, die ersten Löschzüge rückten nun ab, der Tag war gekommen. Vom Dachstuhl waren nur noch verkohlte Reste übrig geblieben, die Stockwerke darunter hatten tropische Regengüsse verheert.
Andrea sagte milde: »Du haust dich jetzt erst mal auf unser Sofa und vergisst diesen Mist für ein paar Stunden.«
Ich antwortete: »Mir kam eben die Idee, das Wohnzimmer um das Doppelte zu vergrößern und das Schlafzimmer oben einzurichten.«
»Aha!«, nickte sie und lachte.
Ich betrat mein Haus. Es stank entsetzlich, von den Decken regnete es noch immer, alles stand im Wasser. In meinem Arbeitszimmer im ersten Stock schwammen etwa hundertdreißig Pfeifen im Löschwasser, meine Sammlung von John le Carre war ein Sumpf, die Sammlung aller Maigrets konnte ich ebenfalls abschreiben. Endlich heulte ich ein wenig und suchte nach einem Papiertaschentuch, fand keines.
Plötzlich realisierte ich, dass das ganze Haus schon wieder voller Leute war, die pausenlos irgendetwas herausschleppten und dabei unverschämt gute Laune hatten. Eine Frau bemerkte spitz: »Nee, nee, wie kann man nur so viel Bücher haben.«
Emma bahnte sich ihren Weg die Treppe hinauf.
Tränen liefen über ihr Gesicht und atemlos sagte sie: »Es ist so, als wäre dies mein Haus.«
»Na ja, irgendwie war es das ja auch«, antwortete ich und nahm sie in den Arm.
Rodenstock stolperte hinter ihr her. »Scheiße ist das!«, polterte er. »Wie ist denn das passiert?«
»Sie reden von Überhitzung am Firstbalken und von Kurzschluss. Die Götter sind gegen mich, das ist nicht mein Jahr.«
Rodenstock sah mich an. »Dann bauen wir es eben wieder auf. Aufbauen macht Spaß.«
»Ihr seid ekelhaft positiv«, stellte ich fest. »Wie habt ihr überhaupt davon erfahren?«
»Kischkewitz rief uns an. Er hat die laufenden Polizeimeldungen gelesen und uns alarmiert. Willst du bei uns wohnen?« Er schaute sich um. »Das hier dauert, das weißt du.«
»Ich gehöre in die Eifel, nicht an die Mosel. Irgendeine Lösung werde ich finden.«
Andrea schrie: »Dein Handy bimmelt.«
»Wo ist denn das?«
»Na hier, ich habe es in der Küche gefunden, als die noch nicht abgesoffen war.«
Alwin Ixfeld, ein Kollege aus Deudesfeld, war am anderen Ende. »Hör mal«, begann er vorsichtig, »zufällig steht die Wohnung über uns leer. Du könntest sie haben, sie würde erst mal reichen.«
Deudesfeld? Warum nicht Deudesfeld?
»Miete sie. Wurscht, was sie kostet, miete sie einfach.«
Es befanden sich immer noch Feuerwehrleute und Zuschauer hier. Eine Hilfstruppe lud meine Bücher in Gustavs Hänger. Auf einmal ertönte ein merkwürdiges Quietschen.
Maria Latten kam die Straße hoch und schob einen Teewagen vor sich her, bepackt mit Broten, Kaffee und Wasser. Leicht keuchend sagte sie: »Iss erst mal was. Dann sieht die Welt schon wieder etwas besser aus.« Ich lachte, bis mir die Tränen kamen.