Sechstes Kapitel

Wir fuhren gegen acht Uhr abends mit Emmas Wagen los, Emma, Vera, Rodenstock und ich.

Hinter Höfen nahmen wir die schmale alte Landstraße nach Büllingen durch den endlosen Wald des belgischen Naturparks und folgten dann der Route Fagnes et Lacs nach Faymonville.

Das Anwesen hockte wie ein Haufen schneeweißer Klötze auf einem Hügel hinter dem Westende des Ortes. Als wir näher kamen, war zu erkennen, dass alle diese Klötze durch Gänge aus Glas miteinander verbunden waren. Ganz ohne Zweifel war es ein eindrucksvolles architektonisches Ensemble und wirkte dabei nicht abweisend, eher wie ein sehr großer Landgasthof. Das gesamte Gelände umgab ein schwerer, drei Meter hoher Stahlzaun, auf dem alle zwanzig Meter eine Fernsehkamera installiert war.

»Wir wollen keine Unruhe stiften«, murmelte Rodenstock. »Die Waffen lassen wir im Kofferraum. Und nicht vergessen, der Mann empfängt uns freiwillig. Also äußerste Höflichkeit, bitte. Es ist ein rein informatives Gespräch, was immer er auch sagt.«

Das Tor glitt zu beiden Seiten weg und wir folgten der Asphaltbahn, die in einem weiten Bogen vor den Haupteingang führte. Es gab keine Bodyguards, es gab nur einen mittelgroßen Mann um die fünfzig, der aus dem Eingang trat und uns anlachte. Er trug ein weißes Hemd mit kurzem Arm und eine einfache graue Hose zu Sommerslippern.

»Quint«, sagte Rodenstock.

Wir stiegen aus, Rodenstock stellte uns der Reihe nach vor. Quint reichte jedem die Hand und musterte uns dabei aufmerksam. Er sprach ausgezeichnet Deutsch und sagte: »Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen.«

Es ging durch eine Eingangshalle in einen sehr großen Raum mit Wollteppich in Grüntönen. Darauf stand eine Sitzgruppe, die sicherlich zwanzig Leuten Platz bot, aus typisch grünem Knautschleder, wie die Belgier sie gern haben. In der Mitte befanden sich drei kleine Tische, auf denen allerlei angerichtet war: Kaffeekannen, Teekannen, Porzellan, Schüsseln mit Backwaren und Konfekt.

»Bedienen Sie sich bitte«, sagte Quint freundlich. »Ich habe mein Personal weggeschickt, weil ich denke, dass die Themen, die wir zu besprechen haben, sehr heikel sind.«

»Wir danken Ihnen«, erwiderte Rodenstock höflich.

»Tja, mein Freund Jakob Driesch«, begann Quint nachdenklich. »Das tut mir aufrichtig Leid um ihn. Und natürlich um seine wunderbare Frau Anna, die ich auch kenne. Wie ich den Zeitungen entnehmen konnte, ist der Fall sehr kompliziert. Aber diese Annette von Hülsdonk ist nicht mehr als ein Teil des Falles zu betrachten?«

»Das ist richtig. Annette von Hülsdonk war das Opfer eines verwirrten jungen Mannes, den sie ihr ganzes Leben lang kannte. Bleiben Jakob Driesch und Wilma Bruns, immerhin zwei Abgeordnete, was dem Fall eine hohe Brisanz gibt.« Rodenstock sprach so bedächtig, als habe er endlos Zeit. »Darf ich fragen, wie Ihre Freundschaft zu Jakob Driesch aussah?«

»Selbstverständlich«, nickte Quint und griff nach einem Riegel Schokolade. »Wahrscheinlich sind Sie über meine unternehmerischen Aktivitäten informiert. Wenn ich mich recht erinnere, kam ich vor vier Jahren zum ersten Mal mit regenerativen Energien in Berührung. Mit Windkraftanlagen. Das war in Holland und das faszinierte mich. Ich dachte, die Menschheit sollte mehr Möglichkeiten suchen, den Wind zu nutzen, um Strom zu erzeugen.« Er lächelte. »Dann wurde ich auf das benachbarte Deutschland aufmerksam und damit auf Jakob Driesch. Er war der Mann mit den meisten Erfahrungen auf diesem Sektor. Ich bat ihn um ein Treffen und er sagte sofort zu. Wir trafen uns bei ihm daheim und redeten einen ganzen Abend und die halbe Nacht. Ich bin, wie Sie sicherlich wissen, Kaufmann und Finanzier, und selbstverständlich handele ich nicht nur aus der Absicht, die Menschheit zu beglücken. Ich dachte, da steckt ein gutes Geschäft drin. Driesch bestätigte das vorbehaltlos. Er besuchte mich hier, übrigens zusammen mit seiner ganzen Familie. Ich habe in Vorbereitung auf dieses Gespräch einmal nachschauen lassen. Ich habe Jakob Driesch insgesamt vierzehnmal getroffen. Und mit wenigen Ausnahmen fast immer privat.« Jetzt war unverkennbar Spott in seiner Stimme. »Ich muss nicht betonen, dass wir uns niemals heimlich trafen. Ich ziele damit auf das Geschreibe der Zeitungen, die berichten, dass man noch keine Ahnung hat, wen Driesch vor dem Mord treffen wollte.«

»Das ist richtig«, bestätigte Rodenstock. »Wir wissen nicht, was er in der Mordnacht tat, wen er traf, wo er sich aufhielt und so weiter. Das ist rätselhaft und letztlich sind wir deswegen hier.«

Quint nickte und strich sich durch sein spärliches, langes graues Haar. »Ich sage Ihnen offen heraus: Ich habe ihm die eine Million Mark nicht gegeben. Mir eine derartige Transaktion zu unterstellen, ist für mich beleidigend. Ich würde es intelligenter machen, so dass niemand davon erfährt. Und niemals in Mark, immer in Dollar. Und niemals in Europa, immer im fernöstlichen oder im karibischen Raum. Und niemals gleich in bar, bestenfalls über zehn Korrespondenz-Banken in 48 Stunden, so dass niemand den Transfer rekonstruieren kann.« Er seufzte. »Es hat tatsächlich etwas Beleidigendes, zu hören, dass ich darin verwickelt sein soll.«

»Aber Sie sind verwickelt«, sagte ich höflich. Ich kannte diesen Typ des ungeheuer harten und cleveren Einzelgängers, der mit Pokergesicht daherredet und nicht zu fassen ist. Quint erinnerte mich an einen Menschen, der mit einem Betrugsverfahren zu tun hatte, in das auch die Weltbank involviert gewesen war. Ich war damals im Auftrag einer Redaktion zu einem Interview nach New York geflogen. Sechs Stunden lang hatte ich mich mit dem fraglichen Mann unterhalten. Und 24 Stunden später hatte dieser Mann in einem Brief geleugnet, mich zu kennen, mich jemals gesehen, geschweige denn je ein Wort mit mir gewechselt zu haben.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er ebenso höflich.

»Nun, Sie bauen doch jetzt hier in dieser Gegend eine Windkraftanlage, die eigentlich in Hollerath hätte gebaut werden sollen. Deshalb sind wir hier. Als cleverer Unternehmer haben Sie die Chance genutzt, als Driesch aus uns unbekannten Gründen plötzlich zum Lahmarsch wurde. Entschuldigung.«

Emma stieß sofort nach: »Monsieur Quint, Sie haben gesagt, Sie seien ein Freund von Jakob Driesch. Da besteht doch die Möglichkeit, dass Sie wissen, weshalb er seit Monaten das Projekt in Hollerath so halbherzig vorangetrieben hat.«

Quint nickte. »Aber ich habe keine Ahnung, gnädige Frau.«

Ich sah, dass Emma zusammenzuckte und Vera ein amüsiertes Lächeln unterdrückte.

»Ruft man sich unter Freunden nicht an und fragt, wie es dem anderen geht?«, hakte Emma nach.

»Das tut man sogar sicher«, antwortete er. »Das haben wir auch getan. Das letzte Mal sprach ich vor zehn Tagen mit ihm.«

»Um was ging es da?«, wollte ich wissen.

»Um die Frage, wie es ihm geht.« Quint lächelte. »Er sagte, es gehe ihm gut, alles sei im grünen Bereich. Das sagte er oft. Alles ist im grünen Bereich.«

»Haben Sie jemals versucht, ihm einen Gefallen zu tun?«, fragte Rodenstock plötzlich.

Das kam für Quint überraschend und er verstand nicht sofort, was Rodenstock meinte. Dann lächelte er. »Sie meinen wahrscheinlich das, was man in Deutschland immer vorschnell als Bestechungsversuch deklariert. Oder?«

»Genau das«, sagte Rodenstock erheitert.

»Ja, da gab es etwas. Im vorigen Sommer kreierte ein Freund von mir eine neue Möbellinie. Sie sitzen gerade darauf, meine Herrschaften. Ich kaufte ihm für einen Spottpreis die ganze erste Serie ab. Und ich schickte einen LKW damit nach Schieiden und legte einen Brief dabei: ›Lieber Freund, hier habe ich was für Sie. Ich kann es nicht mehr gebrauchen, stellen Sie es auf, wo Sie mögen. ‹« Er lachte in der Erinnerung. »Und was passierte? Anna Driesch rief mich an und sagte, sie sei mir äußerst dankbar, dass ich für eines ihrer Jugendhäuser eine neue Sitzecke gespendet hätte. Und ob ich großzügig genug sei, noch etwas draufzulegen und ihr eine weitere Sitzecke zukommen zu lassen. Sie würde mein Lob singen und mich in den höchsten Tönen preisen. Ich kann Ihnen versichern, dass das die teuerste Ledersitzecke ist, die je in einem Jugendhaus in Deutschland gestanden hat. Die Frau hat meine Hochachtung. Und ich habe ihr eine zweite Sitzecke bringen lassen. Das zu dem Thema Bestechung.«

Rodenstock räusperte sich. »Haben Sie Driesch gefragt, weshalb er das Projekt in Hollerath so schleppend betreibt?«

»Nein, das habe ich nicht. Ich werde Ihnen erzählen, wie das ablief. Ich hatte mich damit abgefunden, mein eigenes Pojekt hier erst in zwei oder drei Jahren bauen zu können. Dann war ich in Brüssel, habe dort mit unseren belgischen Vertretern geredet. Und die sagten mir, Driesch habe die ihm eigentlich zugesprochenen Mittel nicht abgerufen. Ich sollte doch mal einen Antrag stellen. Ich stellte den Antrag, er wurde bewilligt, seitdem baue ich.«

»Wie viele Windräder werden es?«, fragte ich.

»Einhundertzwölf«, sagte er und da war unverkennbar Stolz in seiner Stimme. »Es handelt sich um ein Volumen von ungefähr 150 Millionen Mark. Ich rechne mit etwa sechs Jahren Verlusten, dann werde ich voraussichtlich schwarze Zahlen schreiben. Und ich werde den Strom ins deutsche Netz einspeisen.«

»Haben Sie Gegenwind?«, fragte ich.

Quint lachte, er hatte offensichtlich vergessen, dass er etwas gegen mich hatte. »Ja, natürlich. Auch hier gibt es Naturschützer. Aber ich denke, ich kann mich mit ihnen einigen. Ich werde den Windpark zum Naturschutzgebiet erklären lassen und darüber hinaus alle möglichen Einrichtungen subventionieren, damit dort Biologen arbeiten können. Wir wollen Fauna und Flora erhalten. Und da Vögel und Glockenblumen nicht unter den Windgeräuschen der Räder leiden, wird das Ganze ein echter Naturpark werden.«

»Kommen wir zu Jakob Driesch zurück«, sagte Emma distanziert. »Mich würde interessieren, was Sie gedacht haben, als Sie von seiner Ermordung erfuhren.«

Er wurde arrogant, sie mochte er nicht. »Ich habe gedacht, was Sie wahrscheinlich auch dachten: Das kann nur ein Irrer gewesen sein. Das denke ich übrigens immer noch. Drieschs Tod ergibt keinen Sinn, ich sehe absolut kein Motiv. Er hat die Region hervorragend vertreten, viele, viele Jahre lang. Er hat gut gearbeitet. Und er war meines Erachtens nicht bestechlich.« Er grinste jungenhaft. »Na ja, nur seine Frau, die sich für ihre Jugendlichen jeden Tag zweimal bestechen lässt. Ich habe aufmerksam die Geschichte mit dem Flug nach Mallorca verfolgt. Und wahrscheinlich werden Sie mich fragen, ob er jemals mit mir über diese Insel gesprochen hat. Meine Antwort ist: Nein. Er war auch nicht der Typ, der sich mit Mallorca beschäftigt. Er war jemand, der in den Yukon nach Kanada gehörte oder in die Rockys, aber nicht nach Mallorca. Das alles kommt mir sehr unlogisch vor.«

»Nun ist es aber eine Tatsache, dass er dorthin flog und für eine Million Mark ein spanisches Grundstück mit einem Bauernhaus kaufte. Logik hin, Logik her, genau das ist passiert und stellt uns vor viele Rätsel. Auf was für Phantasien kommen Sie denn, wenn ich nach möglichen Lösungen frage?« Rodenstock war noch lange nicht fertig, er wollte Quint keine Chance lassen, sich hinter höflichen Floskeln zu verstecken.

»Eine Möglichkeit ist, dass Driesch dieses Geld von jemand anders bekam und im Auftrag nach Mallorca flog.«

»Moment mal«, wandte ich ein. »Er kam als Besitzer des Hauses zurück.«

»Lieber Freund«, erwiderte er und streifte mich mit einem Pokerblick. »Ein Auftrag kann durchaus so weit gehen, dass man sich als Besitzer eintragen lässt und als Strohmann fungiert, weil der wirkliche Besitzer nicht in Erscheinung treten will. Wenn Driesch den Eindruck hatte, dass dieser Andere ein sauberes Geschäft machen wollte, dann kann es so abgelaufen sein.«

Emma griff an: »Ich verhehle nicht, dass ich keine Sekunde daran glaube, dass Sie so harmlos sind, wie Sie in Sachen Driesch vorzugeben bemüht sind. Sie wissen mehr, Sie sagen es nur nicht. Und wir haben kaum die richtigen Fragen. Nur eine habe ich noch. Seit etwa einem Jahr lässt Driesch Hollerath schluren, seit etwa einem Jahr stimmt bei ihm etwas nicht mehr. Jetzt ist die Frau, die möglicherweise etwas wusste, mit Sicherheit aber etwas ahnte, ebenfalls getötet worden. Damit hat ein Mörder den letzten Informationsstrang zum Leben des Jakob Driesch durchgeschnitten. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass ich mir sicher bin, dass Wilma Bruns etwas wusste, dass sie aber nicht registrierte, dass sie es wusste.«

Nun lachte Quint zum ersten Mal sympathisch und plötzlich mochte er Emma. Er nickte ihr höchst amüsiert zu. »Jetzt, meine Damen und Herren geraten wir ans Eingemachte, wie die Deutschen und die Belgier sagen. Für mich ist Tatsache, dass da jemand ausgenippt ist. Und es ist möglich, dass Driesch vollkommen ungewollt in eine Sache hineingeraten ist, die eigentlich nichts mit seinem Leben zu tun hatte, in der er plötzlich und unvorhersehbar zum Opfer wurde. Darf ich Ihnen das an einem Beispiel erläutern?«

Rodenstock nickte. »Wir würden uns freuen.«

»Nun gut, vielleicht hat jemand von Ihnen den Film ›Notting Hill‹ gesehen, in dem dieser Londoner Stadtteil sehr sympathisch geschildert wird. Für mich wurde dieser Stadtteil Schauplatz eines Alptraums. Ich bin seit mehr als dreißig Jahren mit meiner Frau verheiratet, wir haben fünf Kinder, ich habe keine Affären. Dabei fällt mir ein, dass ich auch das an Jakob Driesch so mochte: keine Affären, eine richtig gute Ehe. Jedenfalls kam die Polizei vor drei Jahren zu mir und sagte, ich solle auf meine Familie achten, sie hätten Hinweise, dass der Name meiner Familie von internationalen Terrorgruppen auf einer Liste mit lohnende Entführungen geführt werden würde. Ich solle meine Bodyguards verstärken. Tatsächlich stellte ich vier weitere ein, mittlerweile verfüge ich über acht. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, dass ich jemand bin, der imstande ist, von einer auf die andere Stunde zwanzig Millionen Dollar und mehr hinzulegen, wenn tatsächlich etwas so etwas geschehen sollte. Ich solle keine Auslandsbesuche machen, meine Familie möglichst nicht aus den Augen lassen und so weiter. Seitdem lebe ich in einem kafkaesken Zustand. Denn mit dem Anwachsen meines Vermögens erhöht sich natürlich die Gefahr, Opfer solcher Gruppen zu werden. Sollte im Übrigen jetzt einer von Ihnen mich bedrohen, hätte er keine Chance, dieses Haus lebend zu verlassen, denn...«

»... die Schlitze in den Wänden«, nickte Rodenstock gemütlich. »Ich habe sie bemerkt.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Quint trocken. »Passen Sie auf.«

Er bewegte sich nicht, aber der ganze Raum schien sich plötzlich zu bewegen. Wandteile schwangen herum und boten plötzlich nackte Metallflächen dar. Zwischen den Wandteilen klafften Lücken und dahinter standen Männer mit Waffen im Anschlag. Die Männer grinsten, aber ich mochte mir nicht vorstellen, was sie im Ernstfall zu tun bereit waren. Dann wurde der Zustand wieder zurückgefahren und uns allen kam es so vor, als hätten wir schlecht geträumt.

»Sie können mir glauben, dass ich auf diese technische Spielerei und auf eine derartige Armada nicht stolz bin. Meine Frau beschwerte sich mal bitter, sie könne nicht einmal mehr in Ruhe mit mir schlafen, ohne dass jemand auf unser Bett stiert. Aber zurück zu meiner Geschichte. Damals bin ich auch vor Auslandsaufenthalten gewarnt worden. Richtig ernst genommen habe ich das alles nicht. Besonders London solle ich meiden, erklärte die Polizei. Doch ich erhielt die Gelegenheit, Diamanten aus Russland zu kaufen. In London. Genauer gesagt bei einem Zwischenhändler in Notting Hill. Die Preise waren verlockend, ich sah die Chance einen hohen Gewinn einzufahren, wenn ich in Bombay an dortige Händler weiterverkaufte. Ich wollte mir das Geschäft nicht entgehen lassen. Ich sagte zu niemandem ein Wort, ich flog Linie nach London, Business-Class. Ich machte das Geschäft mit dem Mann in Notting Hill. Dann ging ich zu Fuß in mein Hotel zurück. Ich hatte nicht einmal eine Aktentasche bei mir. Plötzlich sind hinter mir zwei junge Männer, wilde Gestalten, Irokesen-Haarschnitt, militärische Tarnklamotten. Sie fassen mich rechts und links. Sie redeten kein Wort. Ich dachte: Jetzt bist du dran! Und verfluchte mich, dass ich keinen meiner Beschützer mitgenommen hatte. Ich sagte: Ihr könnt eine Million haben oder zwei oder drei. Sie antworteten nicht, kein Wort. Sie griffen nur fester zu. Ihr könnt auch zehn Millionen haben, sagte ich. Keine Antwort. Sie stießen mich in einen Hauseingang, dann eine Treppe hoch. Oben ging es in ein Zimmer, in dem viele Matratzen herumlagen. Da drauf lümmelten sich Jungen und Mädchen und rauchten und alle waren high. Grauenhaft abgerissene Gestalten, sie sahen aus wie Todkranke. Dann forderten die beiden, die mich aufgegriffen hatten: ›Geld raus!‹ Ich hatte gerade einen Scheck über 54 Millionen Dollar ausgestellt, aber ich hatte kein Pfund in der Tasche, absolut nichts. Ich erklärte: ›Ich habe Plastikgeld, sonst nichts.‹ Sie schlugen mich, ich wurde ohnmächtig. Sie müssen mich durchsucht haben. Als ich aufwachte, lag ich auf einer dieser stinkenden Matratzen und sie sagten, sie würden mit mir zum Geldautomaten gehen und ich solle nicht versuchen, sie zu verarschen, denn dann sei ich eine Leiche. Mittlerweile war mir klar, dass das keine Entführer waren, das waren einfach billige, hilflose Kleinkriminelle. Ich ging mit ihnen zu einem Geldautomaten, zog ein paar hundert Pfund und gab sie ihnen. Dann schlugen sie mich zusammen und ließen mich liegen.« Quint hielt die Hände vor das Gesicht gefaltet. »Frage: Kann es Driesch nicht ebenso ergangen sein? Er geriet in irgend so eine Szene und wurde so zum Opfer?«

»Möglich«, sagte Vera. »Aber seit Wilmas Tod glaube ich nicht mehr daran.«

»Was glaubst du denn?«, fragte Emma.

»Ich schließe mich deinem Gedankengang an und setze ihn fort«, erwiderte sie. »Wilma muss darauf gekommen sein, dass sie etwas wusste, was sie bisher einfach nicht in Betracht gezogen hatte. Und das muss dazu geführt haben, dass ihr plötzlich klar wurde, wer Jakob Driesch erschossen hat. Und da der Mörder das ebenfalls ahnte oder begriff, hat er sie eingeladen und sie getötet.«

»Wilma hat die Einladung des Mörders zu einem Spaziergang angenommen?«, fragte ich irritiert.

»Warum denn nicht?«, fragte sie aggressiv zurück. »Überleg doch mal: Wilma glaubte doch, dass der Mörder nicht wusste, dass sie auf seiner Spur war. Es war zwar riskant, aber wer Wilma kannte, weiß, dass sie auf so eine Einladung eingegangen wäre.«

»Also kein Irrer«, murmelte Rodenstock in die Stille.

»Kein Irrer!«, stimmte Vera zu. »Beziehungsweise, der Täter kann schon irre sein, sogar unter Schüben leiden. Aber innerhalb des Bildes handelt er konsequent und logisch.«

»Was die junge Dame sagt, könnte richtig sein«, meinte Paul Quint mit sanfter Ironie. »Wir sollten vielleicht überlegen, ob nicht ein Windkraftgegner in Frage kommt, so ein Typ, der Leserbriefe an Zeitungen schreibt, der sich aufregt über jedes einzelne Rad, der es ungeheuerlich findet, weil es die Natur zerstört.«

»Gibt es viele davon?«, fragte ich.

»Erstaunlich viele. Noch mehr Menschen haben allerdings was gegen Windkraftanlagen, weil sie Häuser in der Nachbarschaft besitzen und meinen, der Wert ihres Eigentums würde dadurch gemindert. Denken Sie doch mal an Richard Norden, diesen Oberstudienrat bei Ihnen. Das ist doch wirklich ein eklatanter Fall.«

»Wer ist das?«, fragte Rodenstock verwundert.

Jetzt war Quint an der Reihe zu staunen: »Haben Sie Norden etwa nicht vernommen?«

»Ich weiß auch nicht, wer das ist«, gab Vera zu.

»Driesch hat mir von ihm erzählt«, sagte Quint. »Vor fünf Jahren muss Norden zum ersten Mal aufgetaucht sein. Ich denke, man kann das Handeln dieses Mannes nur verstehen, wenn man seine Lebensgeschichte kennt. Driesch hat mir empfohlen, die Geschichte des Mannes zu lesen, weil die typisch ist für Fundamentalisten auf dem Gebiet. Norden lebte mit seiner Familie ursprünglich in Prüm. Seine Fächer waren Deutsch und Geschichte, später kam noch Sport hinzu. Das Ehepaar lebte in einem schönen kleinen Haus, hatte drei Kinder. Eines Tages begann Norden sich für das alternative Leben zu interessieren. Er wurde von heute auf morgen ein Müslifresser, aß kein Fleisch mehr, kaufte nur noch beim Bauern ein und so weiter. Und er versuchte, seinen Schülern die gleiche Lebensweise aufzudrücken, was ihm erhebliche Schwierigkeiten einbrachte. Die Eltern wehrten sich. Er stellte zum Beispiel seiner Klasse mit Sechzehnjährigen das Aufsatzthema: ›Warum ich keine industriell gefärbten Kleider tragen sollten Und er tyrannisierte seine Familie, die sich irgendwann von ihm löste. Seine Frau erzwang mit einem Gerichtsbeschluss seinen Auszug aus dem Haus. Mehrere Male wurde Norden zum Schulrat zitiert, dann sogar zum Kultusminister. Doch er machte weiter und wurde schließlich an eine Schule nach Euskirchen versetzt. Etwa zu der Zeit muss er begonnen haben, sich mit Windkraft auseinander zu setzen. Er gehört zu den Leuten, die sagen, dass Windräder die Natur verschandeln und absolut nicht integrierbar sind. Das Bild der schönen Eifel werde zerstört. Bei einer öffentlichen Anhörung, die Driesch veranstaltete, griff Norden Driesch tätlich an und schlug ihm ins Gesicht. Daraufhin wurde er vom Dienst suspendiert. Driesch war der festen Überzeugung, dass dieser Norden auch der Mann ist, der vor zwei Jahren ein Windrad mit zehn Eierhandgranaten in die Luft sprengte. Zu beweisen war Norden allerdings nichts. Wieso wissen Sie nichts von ihm?«

»Das verstehe ich auch nicht«, brummte Rodenstock. »Nun, Sie erlauben, dass ich eben die Kommission anrufe?«

»Aber sicher doch«, sagte Quint.

Rodenstock ging in eine Ecke des Raumes, um zu telefonieren.

»Ich sehe es Ihrem Gesicht an, dass Sie noch eine andere Linie durchdacht haben.« Emma zündete sich einen ihrer stinkenden Holland-Zigarillos an und nebelte sich ein.

»Ja«, sagte Quint. »So ist es. Ich habe eine politische Begründung gesucht. Selbstverständlich liegt es nahe, dass Windkraftgegner hinter den Morden stecken. Vielleicht zu nahe. Denn es gibt ja auch Leute in der Politik, die von Drieschs Tod profitieren.«

»Denken Sie jetzt an den Anwalt in Roetgen, dem Driesch im Weg stand und der ihn jetzt beerben wird?«, fragte ich.

»Richtig«, nickte er.

»Dr. Ludger Bensen scheint aber nicht der Mann zu sein, der so etwas selbst durchzieht. Man sagt, er macht sich die Hände nicht schmutzig. Setzen wir voraus, dass der junge Mann irgendwelche Profis mit dem Mord beauftragt hat. Das wäre sehr gewagt, zumal der Mord absolut nicht profimäßig durchgezogen wurde. Das waren auf keinen Fall Profis, nein, das können wir ausschließen.«

Quint grinste matt. »Vielleicht waren es besonders schlaue Profis, die den Anschein von Amateuren erwecken wollten.«

»Nicht doch!«, sagte Vera erschrocken.

»Sie wissen etwas nicht, Monsieur Quint«, erklärte Emma. »Der Mord an Driesch dauerte viel zu lange, um auf das Konto von Profis zu gehen.«

Quint war verblüfft. »Zu lange?«

»Ja. Driesch wurde um vier Uhr morgens in der Rur getötet. Aber schon eine halbe Stunde vorher wurde er gejagt. Und zwar durch die Straßen Monschaus. Da wurde bereits auf ihn geschossen. Es muss also ein quälend langer Vorgang gewesen sein. Da deutet nichts auf Profis hin, auf intelligente Profis schon gar nichts.« Emma verzog den Mund. »Es ist wirklich einer der vertracktesten Fälle, mit denen ich bisher zu tun hatte.«

»Sie greifen sich Norden.« Rodenstock kehrte zur Sitzecke zurück.

»Tja, ich habe ja kaum weiterhelfen können«, sagte Quint vorsichtig und linste auf seine Armbanduhr.

»Im Gegenteil, derartige Diskussionen helfen oft mehr, als Sie sich vorstellen können. Wir danken Ihnen jedenfalls, wir danken Ihnen für Ihre Mühe.«

Wir verließen das Haus und machten uns auf den Heimweg.

Vera sagte: »Es wäre ja auch zu schön gewesen.«

»Trotzdem glaube ich, dass er nicht alles sagte.« Emma seufzte.

Das war alles, was wir auf den dreißig Kilometern sprachen. Sie setzten mich an meinem Wagen ab, den ich unten in Monschau auf einem Parkplatz stehen gelassen hatte.

Vera fasste mich am Arm: »Es wäre ganz schön ...«

»Ich gehe jetzt zu Kischkewitz«, sagte Rodenstock. »Sehen wir dich morgen?«

»Wahrscheinlich, aber erst spät am Tag. Die Leute von den Versicherungen wollen mich sprechen. Denen muss es mittlerweile vorkommen, als sei ich in den Flammen umgekommen.«

»Also bis dann«, sagte Emma. Sie sah zu Vera hinüber.

»Ich will mich nicht aufdrängen«, murmelte Vera.

»Steig ein«, sagte ich. »Oder nein, willst du fahren? Du magst doch das Auto.«

»Danke«, sagte sie erleichtert.

Wir krauchten erst die B 258 zurück, dann durch das Ahrtal bis Dollendorf, Hillesheim, nach Pelm und über Gees, Neroth, Oberstadtfeld ins Tal der kleinen Kyll.

»Normalerweise«, erklärte ich, »ist das eine meiner Lieblingsstrecken. Aber bei mir ist im Augenblick nichts normal. Ich hasse Straßen und ich hasse dieses Auto. Und manchmal vergesse ich, dass mein Haus zerstört ist. Ich bin zu atemlos, um zu trauern. Meine Katzen wissen nicht mehr, wie ich aussehe, und meine Goldfische werden sich einsam fühlen. Das ist doch kein Zustand.«

Sie war eine kluge Frau, sie antwortete nicht.

Auf dem Tisch in der Essecke hatte Alwin ungefähr zehn Zettel aufgereiht, die allesamt mit dicken roten Ausrufezeichen versehen und also wichtig waren. Auf dem ersten Zettel stand: Die Bank will dich unbedingt sprechen! Auf dem zweiten: Der Bausachverständige braucht deine Unterschrift! Auf dem dritten: Da hat jemand von der Hausrat-Versicherung angerufen. Er erwartet deinen Rückruf! Auf dem vierten: Die Kripo braucht deine Unterschrift unter dem Vernehmungsprotokoll! Den fünften nahm ich gar nicht mehr zur Kenntnis.

»Ich will raus hier! Das hält doch kein Pferd aus.«

»Geh duschen, das hilft.«

»Duschen hilft nicht gegen Banken. Duschen hilft auch nicht gegen Versicherungen. Gegen Versicherungen hilft gar nichts.«

»Aber deine Versicherungen zahlen doch«, erinnerte Vera.

»Bei Versicherungen erliege ich dem allgemeinen Misstrauen. Solange ich kein Geld kriege, zahlen sie nicht. Und solange will ich nörgeln dürfen.«

»Irgendjemand sollte dir den Arsch versohlen.«

»Immer nur Gewalt.« Ich verschwand im Bad.

In gewisser Weise bietet das Leben ab und zu Wiederholungen. In diesem Fall zwängte sich Vera fünf Minuten später neben mich unter die Wasserstrahlen der Dusche und erklärte mit einem panzerbrechenden Augenaufschlag: »Ich bin wirklich nicht mitgekommen, weil ich mit dir schlafen will.«

»Das habe ich auch gar nicht angenommen«, säuselte ich gegen das Rauschen des Wassers.

»Dann ist es ja gut.«

Wenig später, präzise nach sechzig Sekunden, änderten wir unsere Ansicht. Das ist der Vorteil von Menschen, schwere Irrtümer sofort korrigieren zu können.

Bereits um sechs Uhr, Dienstagmorgen, waren wir wieder hellwach, weil eines der provisorisch aufgestellten Regale in der Küche seinen Geist aufgab und seine Ladung, im Wesentlichen Porzellan und Glas, auf dem Fußboden verstreute. Das Ganze wurde natürlich von einem lauten Geschepper begleitet und nach wenigen Sekunden standen Ute und Alwin mit großen Augen in der Tür und erklärten, sie hätten etwas gehört und wollten nur mal nachsehen. Es wurde eine gemütliche morgendliche Runde mit vier spärlich bekleideten Mitteleuropäern.

Der Tag begann mit Regen, aber der Regen war warm. Der Radiosender SWR gab kund, es sei damit zu rechnen, dass ab Mittag die Sonne wieder scheine. Tom Schroeder, Redakteur bei diesem Sender, kündigte das Blues-Festival in Lahnstein an und ließ einfließen, dass Christian Willisohn, Pianist und Sänger, ebenfalls erscheinen werde. Das trieb mich dazu, in einer Plastikbox nach CDs von Willisohn zu suchen. In der Box stand das Löschwasser mehrere Zentimeter hoch. Irgendjemand von meiner geliebten Rettungsmannschaft hatte wohl dem Bedürfnis nachgegeben, das Nass zu konservieren.

Vera lärmte im Bad herum und sang, übel krächzend, das Küchenlied vom Sabinchen, das ein Frauenzimmer war, ließ sich zwischendurch einen Kaffee servieren und entschied, sich von einem Kollegen abholen zu lassen, damit ich nicht gezwungen war, zu unchristlicher Stunde Monschau anzusteuern.

So geschah es denn auch.

Ich fuhr zu meiner Ruine, fütterte die Fische bei strömendem Regen, versammelte die Katzen um mich, stand mit ihnen gemeinsam im Schlamm meiner ehemaligen Küche, sprach liebevoll zu ihnen und spürte das große und ungemein erhebende Gemeinschaftsgefühl einer geschlagenen Sippe. »Wir sollten vielleicht in eine Lavahöhle ziehen, uns Felle umhängen und um das Feuer tanzen. Ich bin euer Schamane und weissage uns eine gloriose Zukunft aus den kleinen Knochen der Mäuse, dir ihr mir fangt und die ich brate.«

Im Anschluss an diese Verbrüderungsaktion traf ich drei Sachverständige, die mir mitleidvoll versicherten, das Haus sei ja wohl »total hinüber« und müsse entkernt und wieder hochgezogen werden. Sie stapften mannhaft durch den Dreck, starrten lange und eingehend in jeden Raum, und einer von ihnen, ein blasser Hellblonder, wurde abrupt etwa fünfzig Zentimeter kleiner, als er zusammen mit einem großen Brocken des Fußbodens nach unten durchsackte. Er sah mich an und sagte mit den Augen eines Gestrandeten: »Tut mir Leid.«

Wir zogen ihn wieder hoch und er war untröstlich über seine versaute Hose und eine leichte Schramme an der linken Wade. Runde zwanzig Minuten lang sinnierte er darüber, ob ihm seine Versicherung die Hose ersetzen würde.

Gegen Mittag landete ich in Daun, gönnte mir im Cafe Schuler Reibekuchen mit Apfelmus und rief dann Anna an. Ich fand, sie war mir eine Erklärung schuldig.

»Ich verstehe dich nicht so ganz. Du gibst mir Auskunft über Jakob und vergisst dabei zu erwähnen, dass er in den letzten Monaten die Arbeit an dem Projekt in Hollerath schleifen ließ.«

Sie antwortete nicht sofort. Endlich sagte sie langsam: »Das stimmt, aber ich habe das gar nicht so mitbekommen. Und ich denke auch, dass das überhaupt keine Rolle mehr spielt.«

»Das ist nicht wahr. Paul Quint hat das Projekt indirekt abgeschossen. Er baut die Anlage jetzt in Belgien. Wie kann das keine Rolle spielen?«

»Ach Gott, Baumeister. Jakob ist tot, er ist gegangen, er hat mich allein gelassen. Glaubst du im Ernst, derartige Kleinigkeiten berühren mich? Was weiß ich, weshalb er Hollerath schluren ließ!«

»Willst du denn nicht, dass sein Mörder gefasst wird?«

Sie seufzte. »Ich denke, zurzeit ist mir das ... scheißegal, um die Wahrheit zu sagen. Aber ich kenne dich ein bisschen, du bist hartnäckig. Also, komm her und wir reden darüber.«

»Danke. Ich fahre sofort los.«

Diesmal fuhr ich nicht schnell, nicht einmal zügig, ich rollte dahin, ich hatte alle Zeit der Welt. Jakob Driesch, Annette von Hülsdonk, Wilma Bruns, eine traurige Bilanz. Jemand hatte Rache genommen. Rache für was? Hatte jemand Angst gehabt und getötet? Angst wovor, vor wem? Es war unklar, alles in dieser Geschichte war unklar. Fiel Annette von Hülsdonk aus dieser Serie heraus? Weil Bastian sie erschossen hatte, als er begreifen musste, dass sie ihn längst verlassen hatte? Und wieso hatte ausgerechnet diese junge Frau sich für Windkraftanlagen eingesetzt, leidenschaftlich verteidigt, ihre ganze Energie in ein solches Projekt gesteckt? Was hatte Wilma plötzlich begriffen? Dass Paul Quint die Anlage in Belgien baute, dass Hollerath gewissermaßen gestorben war? Wie abhängig war Wilma von dem Projekt in Hollerath gewesen?

Ich fuhr rechts ran, ich war schon im Ahrtal. Links von mir die wunderschöne Flussaue, vor mir die Einmündung der Straße, die von der Ripsdorfer Höhe herunterkommt aus der einsamen und glücklicherweise noch nahezu unberührten Schönheit einer großen Wacholderheide.

Ich rief Kischkewitz an und hoffte, dass ich nicht allzu sehr störte.

»Nein, du störst nicht«, erwiderte er. »Weißt du, wir sind wie vernagelt, wir kommen nicht weiter. Ich überlege schon, ob Wilmas Mörder mit dem Mörder von Jakob Driesch vielleicht gar nichts zu tun hat. Vielleicht sind das zwei getrennte Tatvorgänge.« Er seufzte tief. »Es ist zum Kotzen. Also, Mann, was ist dein Begehr?«

»Hast du schon geprüft, wie wichtig das Windkraftprojekt in Hollerath für Wilma gewesen ist? Ich meine politisch.«

Wie aus der Pistole geschossen antwortete er: »Sehr wichtig. Wahrscheinlich war es das wichtigste Projekt ihres Lebens. Ich habe einen meiner besten Leute nach Mainz geschickt, der dort mit der Fraktion der Grünen konferiert hat. Wilma hat seit anderthalb Jahren fast nur noch für dieses Projekt gelebt. Dadurch hat sie bundesweit Einfluss gewonnen. Sie ist sogar von Joschka Fischer eingeladen worden, ihn nach New York zur UNO-Vollversammlung zu begleiten. Das ist merkwürdigerweise gar nicht durch die regionale Presse gegangen, wahrscheinlich, weil man es nicht an die große Glocke hängen wollte. Und es war sogar im Gespräch, dass Joschka Fischer sie als Staatssekretärin platzieren wollte. Hat sie dir davon nichts erzählt?«

»Nicht eine Silbe. Und das erstaunt mich. Schließlich hätte das doch ihrem Eifeldasein ein Ende gesetzt, denn als Staatssekretärin hätte sie nach Berlin gehen müssen, oder?«

»Korrekt, genau das. Sitzt du?«

»Ja, ich sitze in meinem blöden Auto und stiere in die Landschaft. Wieso?«

»Weil ich dir noch erzählen kann, dass Wilma Bruns einen Busunternehmer aus Stadtkyll gefragt hat, ob er nicht ihr Elternhaus kaufen wolle. Und er wollte.«

»Habt ihr den ausgegraben oder hat er sich gemeldet?«

»Weder noch. Ich habe die wirtschaftliche Lage von Wilma durchleuchten lassen. Und ein Mann von der Volksbank in Stadtkyll hat ausgesagt, Wilma hätte ihn um eine Beratung gebeten, was sie für ihr Haus für einen Verkaufspreis ansetzen könnte. Und es geht weiter: Nach Kenntnis dieses Mannes war Wilma kürzlich in Berlin beziehungsweise in der Mark Brandenburg. Sie hat dort mit einem Makler über den Kauf eines alten Bauernhauses gesprochen. Wir haben diesen Makler kontaktiert. Er ist gegenwärtig auf dem Weg hierher. Die Verhandlungen waren schon ziemlich weit gediehen. Das heißt auf gut Deutsch: Wilma war auf dem Absprung. Aber sei nicht sauer, dass sie nichts erzählt hat. Sie hat mit niemandem darüber gesprochen. An der Stelle sind Politiker immer schweigsam.«

»Hast du bedacht, dass Wilma dann in Berlin gewesen wäre, wo auch Jakob Driesch arbeitete?«

Er lachte. »Ja, das ist uns sofort eingefallen. Und der Verdacht, dass sie doch etwas miteinander hatten. Aber das erscheint nach Lage der Dinge nach wie vor unwahrscheinlich. Sie mochten sich einfach. Doch sie hätten dann zusammen an anderen großen Projekten arbeiten können. Und eines steht fest: Sie waren ein gutes Team.«

»Aber wieso, um Gottes willen, haben sie Hollerath vernachlässigt? Das hätten sie als Krönung ihrer Zusammenarbeit doch locker zum Ende führen können.«

»Normalerweise würde ich dich jetzt wieder fragen, ob du sitzt. Wir haben recherchiert, dass beide, also Jakob Driesch und Wilma Bruns, je zwei Windräder zeichnen wollten. Das heißt, sie wollten jeder zwei Millionen in die Windkraftanlage Hollerath stecken. Das ist nicht illegal, das ist im Gegenteil wahrscheinlich als beispielbildend zu verstehen. Aber seltsam ist es doch. Sie waren in dieser Sache bei derselben Bank. Und die Bank hatte ihnen die Kreditierung zugesichert. Für beide wäre es das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie in eine politische Entwicklung investierten. Warum sie Hollerath vernachlässigten, ist vor diesem Hintergrund noch unverständlicher.«

»Was sagt denn Drieschs Frau dazu?«

Er zögerte einen Augenblick. »Weißt du, sie ist nun die einsame Witwe. Sie sagt, sie habe von den zwei Windrädern in Hollerath nichts gewusst. Sie hat auch nicht gewusst, dass Wilma Bruns nach Berlin gehen wollte. Anna Driesch muss nun leider schmerzhaft begreifen, dass sie von ganz entscheidenden persönlichen Entschlüssen ihres Mannes abgeschnitten war. Es gab eben doch ein geheimes Leben des Jakob Driesch.« Kischkewitz seufzte. »Jetzt muss nur noch so eine Berliner Marlene-Dietrich-Type auftauchen, die Jakob Driesch den Griff in die oberen Bereiche ihrer Netzstrümpfe erlaubt und ihn um den Verstand gebracht hat.« Er meinte das durchaus nicht so lustig, wie es klang. »Aber Jakob Driesch und Netzstrümpfe – das passt nicht so ganz.«

»Du sagst es. Sag mal, habt ihr den durchgeknallten Studienrat aufgetrieben, der Jakob Driesch verprügelt hat?«

»Haben wir. Er scheidet als Beteiligter aus. Er hat vor ungefähr sechs Wochen seinen Bruder bei Stuttgart besucht, hat dort einen schweren Schub bekommen und wurde in die Psychiatrie irgendwo im Schwarzwald eingeliefert. Er war also gar nicht hier. Und du, mein Alter, was hast du jetzt vor? Wahrscheinlich deinen Brandschaden bekämpfen, oder?«

»Da kann ich wenig tun, da kann ich nur Formulare unterschreiben, Protokolle absegnen und Absprachen mit den Versicherungen treffen. Nein, nein, ich kümmere mich leidenschaftlich um die Toten. Ich bin auf dem Weg zu Anna, ich will von ihr hören, was sie dazu zu sagen hat, dass Driesch und Wilma nicht mehr an Hollerath interessiert waren.«

»Das kannst du dir sparen, das ist ausgelutscht. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Spar das Thema aus. Sie hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das einen Scheißdreck interessiert. Übrigens noch was. Deine Kollegen von einer dieser widerlich bunten Illustrierten wollen herausgefunden haben, dass Wilma Bruns schwanger war. Im dritten Monat, nach Auskunft eines in dieser Gegend bekannten Frauenarztes, der nicht genannt sein will. Der Mann hat gegenüber dem Blatt behauptet, dass Bruns gesagt habe, ihr Baby sei das Baby von Jakob Driesch. Scheißjournalisten kann ich da nur sagen! Also, lass Anna Driesch in Ruhe.«

»Aber ich liebe Originalzitate, Kischkewitz. Ich werde sie schonen. Mach's gut.«

Ich fuhr wieder los. In der engen Rechtskurve vor der Ampel in Blankenheim stand mitten auf der Fahrbahn ein PKW mit belgischem Kennzeichen. Das Paar darin studierte in tiefer Versunkenheit den Autoatlas, um herauszufinden, wo es sich gerade befand. Ich wartete zwei Minuten, dann ging es weiter. Das Regengrau des Himmels wurde ein wenig heller, und als ich mich Schieiden näherte, guckte eine zögerliche, fast scheue Sonne durch die Wolken und malte freundliche, gelbe Striche in die Landschaft.

Anna erschien in der Haustür. Sie trug wieder das lange schwarze Kleid, einen tiefroten Seidenschal um den Hals und lächelte.

Ich war verlegen und sagte: »Ich werde dich doch nicht danach fragen, wieso die Bruns und dein Mann Hollerath versaut haben. Ich hab's kapiert, das ist nicht wichtig.«

»Das ist nett, Baumeister. Aber lass dir sagen, dass Jakob nach vielen, vielen Jahren wahrscheinlich zeitweilig die Nase voll hatte von der Windkraft. Und ich kann es ihm nicht übel nehmen. Dass Wilma Bruns auch nach Berlin gehen wollte, habe ich nicht gewusst. Aber muss ich so was wissen? Komm rein, ich habe einen Tee für uns. Lapsang Souchong, chinesischen Räuchertee.«

»Das ist irre. Den liebe ich.«

»Ich habe mich daran erinnert.«

Wir gingen in das Esszimmer und hockten uns an einen uralten Tisch aus Walnussholz, ein Geschenk ihres Vaters, auf das Anna immer stolz gewesen war.

»Wie geht es den Kindern?«

»Schlimm. Sie leiden. Meine Mutter sagt, sie weinen viel. Ich habe sie in der Schule abgemeldet. Das wäre sonst ein Spießrutenlauf. Wir werden es aber packen, denke ich. Meine Eltern sind rührend.«

»Hast du eigentlich auch Annette von Hülsdonk gekannt?«

»Aber sicher. Gut sogar. Monatelang war sie dauernd hier. Als Hollerath auf der Planungsliste stand. Sie, Wilma und Jakob haben nächtelang diskutiert. Und ich habe sie bekocht. Im Grunde mochte ich das Mädchen nicht. Sie war ein Groupie, verstehst du?«

»Tut mir Leid, nein.«

Sie lächelte schmerzlich. »Das ist ganz einfach. Jakob war der Typ Mann, der den Vater verkörperte, den die meisten jungen Dinger nie hatten oder von dem sie sich einbildeten, sie hätten ihn nie gehabt. Ich hatte am Anfang seiner Laufbahn arge Schwierigkeiten damit. Dauernd tauchten so junge Dinger auf und himmelten ihn an, wobei sie auf mich nicht die geringste Rücksicht nahmen. Ich war halt die Tussi, mit der er verheiratet war. Irgendwann habe ich dann festgestellt, dass Jakob über sie lächelte, aber viel zu höflich war, ihnen seinen Spott offen zu zeigen. Annette von Hülsdonk war eine klassische Vertreterin dieser Spezies. Sie erschien hier aufgetakelt wie eine Buschkriegerin und himmelte ihn an, dass es peinlich war. Meine Töchter haben gegrinst: Da kommt die Tussi, Papa, mit der du ins Bett gehen solltest – ganz schnell! Ja, und dann wurde diese Tussi plötzlich erwachsen, sie setzte sich für Windkraftanlagen ein, sie machte sich schlau, sie wurde richtig wertvoll für Jakob. Dass sie so endete, ist tragisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Vater das so einfach wegstecken wird. Er ist ein Gefühlsbolzen. Ich hoffe, dass dieser Bastian ihm nicht begegnet. Wahrscheinlich würde er den Jungen erschießen ... Ich möchte dir etwas schenken.« Sie stand auf und holte aus einer Schublade eine Kassette. Sie legte sie vor mich hin. »Kannst du was mit W. C. Handy anfangen?«

»O ja, das war doch der, der die alten Blues- und Worksongs aufgeschrieben hat. Zum ersten Mal Noten in der schwarzen Volksmusik. Das Wort Jazz war noch nicht erfunden, Louis Armstrong war ein Kind im Ghetto von New Orleans. Das muss so 1900 bis 1907 gewesen sein. Ragtime-Zeiten. O Mann ...« Ich musste grinsen. »Entschuldige, an der Stelle höre ich nie auf.«

Sie lachte. »Das hat sogar mich interessiert. Der Mann hat viele Songs aus den Baumwollfeldern und von den Mississippidampfern aufgeschrieben. Er hat auch Schlager daraus gemacht und die Bluesform strikter gestaltet. Und er schrieb den berühmtesten Song der Weltgeschichte, wie Jakob immer sagte, den ›St. Louis Blues‹. Jakob hat den Song eingespielt, und zwar sieben Mal und jedes Mal anders. Einmal New Orleans, einmal New York Carnegie-Hall, einmal Louis Armstrong, Sidney Bechet, dann das frühe Chicago und so. Sieben verschiedene Variationen. Ich habe dir eine Kopie vom Original gezogen, weil ich dachte, dass Jakob auf diesem Sektor mit dir ein Herz und eine Seele gewesen ist.«

Ich war gerührt. »Vielen Dank, Anna. Und wenn ich dir helfen kann, ruf mich einfach an. Und wenn du etwas Neues erfährst, dann melde dich, bitte.« Ich nahm sie in den Arm, sie war so steif wie eine Schaufensterpuppe.

Im Auto dachte ich: Sie wird es verdammt schwer haben, aber sie wird es packen. Das war ein tröstlicher Gedanke, und da die Sonne schien, sah der Tag etwas günstiger aus. Ich legte das Band ein und hörte Jakob Driesch zu, wie er spielte.

Doch das Karussell begann sich erneut zu drehen: Jakob Driesch – Wilma Bruns – Annette von Hülsdonk. Drei Menschen, die sich zusammenfinden, um etwas zu planen und durchzuziehen. Drei Menschen, die dann aus einem nicht einsichtigen Grund dieses Projekt im Sand versickern lassen. Drei Menschen, die sterben mussten. Weil sie das Projekt versickern ließen? Wem schadete der Tod des Projektes?

Da waren zunächst einmal sechzehn Waldbesitzer, die nur mit viel Arbeit unter einen Hut gebracht worden waren. Mit ziemlicher Sicherheit hatte ihnen Driesch bindend Preise für das Waldland zugesagt. Sie hatten mit dem Geld gerechnet, sie würden nun keines bekommen, es sei denn, ein neuer Planer würde auf die Bühne treten, was allerdings angesichts des Projektes in Belgien sehr unwahrscheinlich war. Also aus der Traum. Auch für den Hersteller der Windräder war ein Traum zerronnen – falls die Planung so weit gediehen war, dass ein Hersteller schon unter Vertrag war ...

Ich wählte Rodenstocks Nummer und erwischte ihn in irgendeiner Besprechung.

»Zehn Sekunden nur. Hatten die Hollerather sich schon für einen Windradhersteller entschieden?«

»Ja. Es waren insgesamt fünf, die sich den Auftrag teilen sollten. Es waren die gleichen fünf, die vorher eine Studie über die Brauchbarkeit des Terrains und eine Marketing-Untersuchung im Hinblick auf die Stromabnehmer in Auftrag gegeben hatten. Doch allzu großen Schaden kann keiner von den fünfen erlitten haben, denn sie stellen ihre Windräder jetzt in der Anlage von Paul Quint auf. Wo treibst du dich rum?«

»Ich hocke in meinem Auto unterhalb von Drieschs Haus. Mein Zustand ist beschissen, weil der Fall langsam zur Obsession wird und ich keine Lösung sehe.«

»Du beschreibst exakt meinen Zustand. Was tun wir dagegen?«

»Ich weiß nicht. Ich sehe auch keinen Menschen mehr, dem ich mit meinen Fragen auf den Geist gehen könnte. Ich steige vorübergehend aus ... Hallo?«

Rodenstock hielt offensichtlich die Hand über die Muschel und sagte etwas zu jemandem anders. Dann sprach er wieder zu mir. »Emma hatte übrigens dieselbe Idee. Wir haben ein Hotelzimmer hier. Sie liegt auf dem Bett und versucht nicht an den Fall zu denken. Kischkewitz hat eben vorgeschlagen, nur noch eine Notbesetzung im Aukloster zu lassen und alle übrigen Leutchen für drei Tage nach Hause zu schicken. Als Schönheitspflaster gibt es jeden Tag zwei Pressekonferenzen, damit niemand von deiner Branche merkt, dass wir blaumachen.«

»Das ist gut. Also, ich überlege, entweder nach Köln oder Aachen zu fahren. Altstadt, essen gehen, rumsitzen, vielleicht Kabarett, vielleicht Kino ...«

»Aachen. Ich bin für Aachen. Kommst du hier vorbei? Du sammelst mich auf, dann holen wir Emma und verschwinden. Allerdings habe ich eine Bedingung: Wir reden nicht über Driesch und fragen nicht, wieso er in der Rur plantschte und woher er die Million hatte. Und wir fragen uns auch nicht, ob Wilma Bruns vor ihrem Tod den Mörder des Jakob Driesch entdeckte.«

»Das ist ein tolles Programm, geradezu genial.« Ich machte mich auf den Weg nach Monschau, kam allerdings nur bis zu den großen Waldungen des Naturparks in Höfen. Dann meldete sich jemand in der Freisprechleitung.

Scheppernd sagte eine Frauenstimme: »Hier ist die Mutter von Wilma Bruns. Und Ihr Name steht bei mir unter k. m. r. Hätten Sie wohl einen Augenblick Zeit?« »Das habe ich.« Ich hörte einen schweren Nachhall in dem kleinen Lautsprecher, dann war die Stimme verschwunden, tauchte zerhackt mit unverständlichen Wortbrocken wieder auf, verschwand wieder.

»Hören Sie«, schrie ich. »Ich bin unterwegs und fahre auf einen Parkplatz, wo der Empfang besser ist. Rufen Sie doch gleich noch mal an.«

Ich steuerte einen der Parkplätze an, die für die Wanderer bereitgehalten werden. Ich hatte keine Ahnung von der Frau gehabt. Wilma hatte dauernd von ihren Großeltern gesprochen und davon, dass sie sie heiß und innig geliebt hatte. Nie von ihren Eltern. Ich prüfte nur für Sekunden die Bedingungen auf dem Parkplatz. Das Gerät fand sofort ein Netz.

»Ruf an!«, sagte ich. »Ruf, verdammt noch mal, an!« Und sie rief an. »Können Sie mich jetzt verstehen?« »Ja, gut«, sagte ich dankbar. »Von wo rufen Sie an?« »Von Vossenack im Hürtgenwald. Da wohnen wir, mein Mann und ich. Ich meine, mein zweiter Mann, Wilmas Vater ist ja schon lange tot.« Sie hatte eine tonlose Stimme, die gleichmäßig auf einer konstanten Höhe schwebte, so als habe sie Angst, eines ihrer Worte besonders zu betonen. »Also, Wilma hat mir eine Liste gemacht, damit ich weiß, wem ich was sagen kann. Und wenn da k. m. r. steht, dann heißt das, kannste mit reden.«

»Wie bitte?«, fragte ich verblüfft. Dann musste ich lachen. Ach Gott, Wilma!

Tatsächlich lachte auch Wilmas Mutter in kurzen, bellenden Stößen. Drei- oder viermal. Dann weinte sie wohl und schniefte in den Hörer. »Moment mal, muss mir die Nase putzen. Ach Gott, ist das ein Elend.«

Ich schaltete das Band im Radiogerät auf Aufnahme und setzte den Lautsprecher ein wenig günstiger zum Mikrofon. Dann sprach sie mit jemandem im Hintergrund ein paar Sätze auf Platt. Es klang wie eine vollkommen fremde Sprache.

»Das kann was Wichtiges sein. Aber vielleicht ist es ja auch nicht wichtig. Mein Mann meint, ich soll die Polizei nicht mit unwichtigen Dingen von der Arbeit abhalten. Aber ich denke, ich erzähle es Ihnen. Sie können ja weitergeben, was ich gesagt habe, oder?«

»Selbstverständlich gebe ich das weiter. Da brauchen Sie sich keine Sorge zu machen.«

Sie schwieg eine Weile. »Das ist ja ein Dorf hier und die Leute reden viel. Und wir haben der Polizei gesagt, dass wir überhaupt nichts wissen. Weil, wir wollten nicht, dass die Herren dauernd hier sind und die Nachbarn fragen und so.«

»Das kann ich gut verstehen, Frau Bruns.«

»Nein, nicht Frau Bruns. Ich heiße Frau Weltecke. Ach Gott, das fällt mir ja so schwer. Jetzt ist sie tot und wir kriegen sie nie mehr wieder. Ach Gott.«

»Sie wollten Wilma schützen und haben der Polizei nicht alles gesagt. Das ist verständlich, Frau Weltecke, das wäre jedem von uns passiert.«

»Ja? Meinen Sie?«

»Was ist denn nun geschehen?«

»Wilma hat in der Nacht angerufen. Also in der Nacht, bevor sie am Morgen ... also, sie rief hier an. Das hat sie manchmal gemacht. Nicht oft, aber manchmal. Wenn es hart wurde, rief sie an und redete mit mir. In Partnersachen und so. Sie hat mir immer vertraut.«

»Um wie viel Uhr war das denn?«

»Ja, das war komisch. Das ist noch nie passiert. Es war ziemlich genau halb drei.«

»Und Sie haben der Polizei von diesem Anruf nichts erzählt?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Was hat sie gesagt?«

»Na ja, ich bin runtergegangen, weil wir zwei Telefone haben. Dann konnte ich mit ihr reden. In der Küche, wir haben das eine Telefon in der Küche. Sie sagte: Mam, ich muss mit dir reden. Aber frag mich nicht, Mam. Sie sagte ihr ganzes Leben lang Mam. Also, da wäre das mit dem Herrn Driesch passiert und das hätte sie schwer getroffen, weil sie ihn doch mochte. Als Partner im Beruf, sagte sie immer. Sein Tod hätte sie erschüttert. Und es wäre vielleicht ganz gut, dass sie jetzt nach Berlin gehen würde. Zu irgendeinem Amt oder Ministerium. Sie wollte nicht mehr in der Eifel bleiben. Die Eifel ist tot für mich, Mam, sagte sie. Sie hat in einer Tour geweint, sie hörte überhaupt nicht auf zu weinen.«

»Was hat sie noch gesagt, Frau Weltecke?«

»Sie hat gesagt, dass es um viel, viel Geld ging. Um nichts anderes als Geld. Und sie sagte, sie hätte es jetzt erst begriffen und sie müsste sich übergeben, wenn sie nur dran denkt. Menschen wollen immer nur Geld, Mam. Das hat sie gesagt. Und sie sagte, es gibt Leute, die spielen Theater, nur Theater. Und wir merken es nicht. Und Jakob Driesch hat es auch nicht gemerkt. Sie sagte auch, der Herr Driesch sei viel zu anständig gewesen für diese Welt. Und dass sie in der Früh den Menschen treffen würde, der ganz, ganz tief in der Sache drinstecke.«

»Wann wollte sie diesen Menschen treffen? Und wo?«

»Sie sagte, sie würde schon um fünf Uhr aus dem Haus müssen. Aber sie hat nicht gesagt, wo sie den Menschen treffen muss.«

»Hat sie einen Namen genannt?«

»Nein, das hat sie nicht. Sie hat gesagt, den Namen kann ich nicht sagen, Mam. Ich habe nämlich auch gefragt, wer der Mensch wohl sei. Aber es muss ja wohl ein Mann gewesen sein, weil sie sagte: Ich habe keine Angst vor ihm, Mam. Er weiß nicht, was ich weiß, Mam. Ich habe jetzt alles durchschaut, sagte sie noch. Das war alles, Herr Baumeister.«

»Sie haben uns sehr geholfen, Frau Weltecke, das war sehr mutig. Würden Sie denn nach Monschau kommen und der Kommission das so erzählen, wie Sie es mir erzählt haben?«

Sie wirkte erleichtert. »Werde ich auch nicht bestraft, weil ich das verschwiegen habe?«

»Sie werden bestimmt nicht bestraft. Und ich wünsche Ihnen viel Kraft.«

»Ich weiß nicht, ob ich die habe. Man wird ja nicht jünger. Ach ja, das hat Wilma auch noch gesagt. Sie sagte: Mam, da arbeitet man jahrelang bis zum Umfallen und wird dann beschissen. Sie war ja in ihren Worten immer etwas derb. Auf Wiedersehen, Herr Baumeister.«