10. Kapitel
Moment mal«, schaltete Marga sich ein, »das ist doch völlig irre. Kanter holte sich Spione für die DDR ins Haus?«
Sauter lächelte müde. »Ich war dabei, ich habe zugesehen, wie es sich entwickelte. Kleine Mädchen für ihn, Schmuck für die Frau, Eisschrank, Fernseher, Tiefkühltruhe. Sie verabredeten zunächst ganz normale Geschäfte. Die Geschäfte, die ihnen persönlich wirklich Geld brachten, die konnten sie nicht abschließen. Die DDR-Mark taugte nichts, oder die DDR konnte bestimmte Dinge nicht liefern, oder in der Bundesrepublik waren sie zu teuer. Aber wissenschaftliches Know-how, das konnte man vergolden. Und zwar jeweils dort, wo es gebraucht wurde. Die DDR-Leute hatten eine Idee, aber keine Möglichkeit, die Maschine zu bauen, die dazu gebraucht wurde, um diese Idee umzusetzen. Dann wurde entweder die Maschine hier gebaut und rübergeschafft, oder aber die Idee war plötzlich Kanters Idee und ließ sich weltweit in Bargeld umsetzen. Aber das war unheimlich gefährlich. Denn irgendjemand konnte ja auf die innige Verbindung der beiden stoßen. Also haben sie beschlossen, dass die DDR einen Spionagering bei Kanter installiert …«
»Und Grenzow, Sahmer und Schulze hatten keine Ahnung«, begriff ich aufgeregt.
»Richtig«, nickte er. »Sie wurden von Beginn an benutzt. Der Weg war so, dass Bleibe nach einer Konferenz mit Kanter diesem Volker sagte: ›Ich brauche dringend Kenntnisse über zum Beispiel eine bestimmte Kunststoffmasse.‹ Volker instruierte den Spionagering, der dann den Auftrag erledigte. Auf diese Weise konnten weder Kanter noch Bleibe in Gefahr geraten. Alles lief wie am Schnürchen. Wenn Bleibes Leute irgendeine interessante technische Neuerung erfanden, gaben sie sie Volker, der sie wiederum an den Ring weitergab. Auf diese Weise stieg Kanters Ansehen im Konzern. Und Bleibe bekam von Honecker einen Orden nach dem anderen. Dann kamen sie auf die Idee, fremde Märkte anzuzapfen. Dabei arbeitete wechselweise Kanter für Bleibe oder Bleibe für Kanter. Als Sub-Agent sozusagen. Sie gaben technische Verfahren preis und kassierten dafür Vermittlerhonorare für den jeweils anderen.«
»Die wurden richtig reich, nicht wahr?«, fragte Marga.
»O ja«, sagte er. »Es läpperte sich.«
»Und wie viel haben Sie kassiert?« fragte ich.
Er spitzte den Mund. »Nichts«, sagte er. »Ich bekam mein Beraterhonorar, wie immer. Ich kassierte keinen Pfennig.«
Es war sehr still. Dann klirrte eine Fensterscheibe, gleich darauf eine zweite. Marga sprang auf und schlug die Hände mit einer abrupten Bewegung vor das Gesicht.
»Ruhe!«, sagte ich scharf. »Wer von Ihren Freunden kennt diese Kneipe?«
Er war sehr verunsichert, seine Hände fuhren fahrig durch die Luft. »Kanter war mit mir schon mal hier, Bleibe auch. Natürlich alle ihre Begleiter auch. Ich Idiot!«
»Kann man sagen. Marga, wo ist ein Telefon?«
»Zwei Zimmer weiter. In meinem Schlafzimmer.«
Dann fiel grell und peitschend ein Schuss. Jemand rannte eine Treppe hinauf oder hinunter. Dann wieder Stille. Ich reichte ihr den Zettel. »Rufen Sie diese Nummer. Sagen Sie nur Herbstrose, sonst nichts. Und Ihre Adresse hier. Und leise, so leise wie möglich. Schnell. Ziehen Sie die Schuhe aus.«
Ich ging an das Fenster. Es war die Westseite des Gebäudes. Unter mir gab es nur einen kleinen Blumengarten.
Rittersporn stand leuchtend blau, Kapuzinerkresse wucherte hellgrün hoch.
»Sauter, legen Sie sich unter das Bett. Schnell.«
»Das ist doch Wahnsinn«, flüsterte er. »Die finden mich doch.«
»Unter das Bett«, sagte ich. »Wenn jemand in das Haus kommen will und den Vordereingang nicht benutzen kann – woher kommt der?«
»Auf der anderen Seite des Hauses ist ein Nebeneingang. Das ist der einzige Weg. Aber die Jungens kommen doch durch die Fenster.« Er bückte sich und sah unter das Bett.
»Los! Kriechen Sie drunter. Haben die Männer von Marga Waffen?«
»Ja. Sven, tu das doch. Los.«
Sauter schnaufte und fand es wahrscheinlich lächerlich. Aber er machte es. Er war von der Tür aus nicht mehr zu sehen.
»Und jetzt?« Marga hatte Angst, ihr Gesicht war weiß mit sehr roten Flecken.
»Jetzt gehe ich hinunter.«
»Man wird Sie vielleicht erschießen.«
»Das wird man nicht. Die sind doch nicht verrückt. Legen Sie sich auf das Bett. Los.«
In diesem Moment ging die Tür sehr langsam auf. Der Mann, der mir geraten hatte, keine Fisimatenten zu machen, kam langsam hereingewankt und hielt sich den rechten Oberschenkel fest. Durch die Finger sickerte Blut. »Es sind vier. Sie sind jetzt in der Küche«, keuchte er.
»Wo sind Ihre Kollegen?«
»Hinter der Bar. Wenn die aus der Küche raus wollen, müssen sie an der Bar vorbei. Oder die schlagen irgendein anderes Fenster ein. Dann wird es heiter.« Er atmete plötzlich heftig und stoßend und fiel nach vorn.
»Er wird ohnmächtig«, sagte ich. »Legen wir ihn auf das Bett.«
Wieder klirrten Scheiben.
»Und wenn ich die Bullen über 110 rufe?«, fragte Marga.
»Los, mach das.« Ich nahm den Mann unter den Achseln und schleifte ihn zum Bett. Dann wuchtete ich ihn hoch, und er stöhnte und hatte merklich heftige Schmerzen.
Marga ging hinaus, und ich folgte ihr. Ich nahm die Treppe nach unten.
Ich sagte laut: »Ich komme. Und ich habe keine Waffe.«
Ich öffnete die Tür am Fuß der Treppe und sah nach links und rechts. Links hockten Margas Männer hinter der Bar. Sonst war niemand zu sehen. Aber sie sahen mich und deuteten heftig über die Bar hinweg.
»Wer sind Sie denn«, fragte mich jemand. Es war eine überraschend ruhige Stimme.
»Mein Name ist Baumeister, ich bin Journalist. Wahrscheinlich suchen Sie Sven Sauter, aber der ist schon wieder weg.«
»Reden Sie keinen Scheiß«, sagte die Stimme seelenruhig.
»Ich komme jetzt um die Ecke«, sagte ich. »Ich rede keinen Scheiß. Sauter war nur eine halbe Stunde hier. Ich habe ihm mein Auto geliehen, er ist wieder gefahren.«
Ich kam jetzt in die Tür zum Restaurant. Links hinter der Bar waren Margas Figuren, ihre Feinde rechts.
»Ich komme jetzt aus der Deckung«, sagte ich.
Direkt vor meiner Nase summte eine dicke Schmeißfliege. Wahrscheinlich ist es das ungetrübte Bewusstsein eigener Unsterblichkeit, das einem solch dämliche Schritte diktiert. Als ich frei im Raum stand, schlug mir die Kugel das linke Bein weg. Erst dann kam der Schuss, oder gleichzeitig, ich weiß das nicht mehr genau.
Ich erwischte die Ecke der Bar, konnte mich aber nicht festhalten, weil das Holz vollkommen glatt war. Ich schlug hin, und ich war wütend.
»Ihr Scheißgangster«, sagte ich in die Stille.
Ich sah sie jetzt. Sie hockten links und rechts von einem zertrümmerten Fenster hinter Tischen und Stühlen. Ich hörte nicht auf, sie zu beschimpfen. Ich nannte sie kleinkarierte Angsthasen, Revolverhelden, Stasi-Ochsen und ähnliches. Ich sagte: »Das Einfachste ist, Ihr geht mit der Artillerie einmal durchs Haus. Wenn ihr Sauter findet, gebe ich einen aus.«
Dann verlor ich das Bewusstsein.
Es kann nur Sekunden gedauert haben, denn als ich die Augen aufschlug und den stechenden Schmerz im linken Oberschenkel spürte, war die Situation unverändert. Sie hockten immer noch hinter ihren Deckungen. Zuweilen zerreißt die Sonne sehr plötzlich den Nebel. Das ist ein schneller, berauschender Vorgang. Genauso berauschend waren jetzt die Polizeisirenen, die sich zu einem gleichbleibenden Geheul steigerten. Da mussten gut und gern drei oder vier Streifenwagen heranrauschen.
Der Mann, dessen dunkle Silhouette ich unmittelbar unter dem zertrümmerten Fenster sehen konnte, versuchte mit einem einzigen Sprung in Freiheit zu kommen. Es gelang nicht wie geplant, denn er stieß gegen den oberen Querholm des Fensters. Aber er schaffte es dennoch irgendwie und war verschwunden. Dann folgte der zweite. Nummer drei und vier liefen geduckt zum Fenster. Die Streifenwagen waren jetzt sehr nahe, dann gab es widerlich kreischende Bremsgeräusche.
»Jungens, versteckt die Waffen«, sagte ich.
Nummer drei und vier waren jetzt durch das Fenster verschwunden. Neben mir rumorte die Truppe von Marga hinter der Bar herum. Wahrscheinlich versteckten sie ihre Knarren unter leeren Flaschen.
»Sie sind weg«, sagte ich.
Dann tauchten sie bleich wie Handkäse wieder auf und schnauften vor Erregung und Angst. Einer von ihnen, ein schwitzender kleiner Dicker, meinte: »Also zwei Sekunden später, und ich hätte durchgezogen.« Dann sah er mich auf dem Boden liegen und bemerkte anerkennend: »Also, das war wirklich eine korrekte Leistung.« Dann sah er die zerschossene Jeans und das Blut und fragte leichthin: »Was meinste, brauchste ’n Arzt?«
»Das wäre sehr gütig«, sagte ich.
»Der hat einen Baller am Bein«, sagte der kleine Dicke fast stolz für mich zu den anderen.
Der Polizist war ein gütiger Vatertyp. Er kniete neben mir nieder, sah sich meinen Oberschenkel an und meinte: »Schwein gehabt, Streifschuss.«
»Beruhigend«, sagte ich.
»Wer sind Sie denn?«
»Baumeister, Siggi Baumeister. Journalist.«
Irgendwo in der Ferne waren Schüsse zu hören, Männer schrien, aber wir konnten sie nicht verstehen.
»Brauchen wir also einen Arzt«, sagte der Polizist. »Das wäre nett«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Er machte bedenkliche Geräusche mit der Zunge. Dann sagte er kopfschüttelnd: »Dass Ihr Journalisten euch aber immer da herumtreiben müsst, wo es gefährlich ist.« Er war richtig lieb.
Ich wachte wieder auf, als jemand mein Bein energisch zurechtrückte und dann sagte: »Schneiden Sie dem mal die Hose auf.« Es war ein junger, sachlicher Mensch, der verblüffend schnell arbeitete. Er setzte rund um die Wunde Spritzen, er verband sehr geschickt, er hörte Herztöne und Atmung ab und entschied: »Ab in den Wagen. Röntgen und das Übliche in der Intensiv.«
»Moment, Moment«, sagte ich. »Ich entscheide: Ich bleibe hier.«
Der junge, sachliche Mensch sah frustriert aus und seufzte tief. Dann stellte er schlicht fest: »Ich haue ab.« Er ging tatsächlich.
Irgendwo im Hintergrund sagte Marga: »Darauf öffnen wir jetzt eine Pulle! Sofort! Ich muss mich besaufen!«
Der väterliche Polizist sah mich eindringlich an und schüttelte besorgt den Kopf.
Dann stand Marga direkt vor mir und strahlte: »Junge, du bist wirklich klasse!«, und ich glaube, ich errötete sanft.
»Wo ist denn der Urheber von diesem Chaos hier?«
»Hier«, sagte Sauter neben mir. »Wollen Sie mal versuchen aufzustehen?«
»Helfen Sie mal.«
Wir versuchten es, aber der Erfolg war bescheiden. Ich war so wackelig, dass er mich schnell auf einen Stuhl verfrachtete, bevor ich ihm aus den Händen glitt.
»Das wird Kunden bringen!«, sagte Marga hell und zufrieden. »So was zieht immer! Vier Wochen ist die Bude voll!«
Drei der Polizisten, die auf die Verfolgung gegangen waren, kamen mit hochzufriedenen Gesichtern zurück. Einer meldete: »Wir haben sie alle.« Ein zweiter sagte: »Da hat irgendso ein dusseliger Wanderfreund seinen japanischen Jeep so dämlich geparkt, dass er jetzt sechs Einschüsse im Blech hat. Der wird sich wundern.«
»O nein!«, sagte ich, aber das ging im allgemeinen Siegesgetaumel vollkommen unter.
Sauter sagte: »Wir bringen Sie jetzt hinauf. Sie gehören ins Bett.«
Dann schleppten Margas Jungens mich die Treppe hoch und verfrachteten mich auf ein Gästebett. Ich hörte sie unten im Restaurant lärmen, und irgendwer sang sogar ›So ein Tag, so wunderschön wie heute‹.
Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich wach wurde, stand Marga neben dem Bett und sagte: »Wenn du Schmerzen hast, sollst du diese Pillen nehmen, hat der Arzt gesagt. Er ist zurückgekommen und sagte: ›Du stirbst noch nicht.‹«
Ich nahm sicherheitshalber zwei Tabletten. »Ist Müller vom Bundeskriminalamt schon da?«
»O ja. Der hat noch mal acht Leute mitgebracht. Sechzehn Bullen in meinem Haus. Das hältste im Kopf nicht aus. Soll ich dir eine Hühnerbrühe machen?«
»Nein. Aber ein Telefon hätte ich gern.«
Sie brachte eines an einer sehr langen Schnur, und ich rief bei mir zu Hause an. »Es ist in Ordnung, Anni, alles ausgestanden. Jetzt haben wir an langen Winterabenden viel zu erzählen. Vor morgen kann ich nicht da sein. Kannst du Kartoffeln kochen und ein Schnitzel braten, mit einer ganz dicken, braunen Zwiebelsoße? So richtig fettig?«
»Das mache ich, mein Junge. Clara ist weg. Sie sagte, sie will sich nach einem neuen Job umsehen.«
»Ja. Ach übrigens, sag dem Autovertreter bitte, er soll mir einen neuen Wagen bestellen. Der neue ist schon wieder hin.«
»So? Na ja, wenn’s denn sein muss. Bis bald. Moment mal. Hat schon wieder wer auf dich geschossen?«
»Ja, ja, aber ich war nicht im Auto.«
»Na, dann ist ja gut. Tschüss.«
Müller kam und sagte mir, ich sei wirklich ein Held, große Klasse, und ich bremste ihn und bat: »Schicken Sie mir bitte den Sauter, ich habe noch eine Frage.«
»Aber sicher«, sagte er und verschwand.
Sauter kam, hockte sich neben das Bett und wollte in Lobhudeleien ausbrechen. Aber ich sagte ihm, dass ich genug davon bekommen hätte. »Sagen Sie mal, wollen Sie mir nicht den Rest erzählen?«
Er sah mich an. »Welchen Rest?«
»Bis jetzt habe ich die Geschichte des westdeutschen Managers, der sich zum Vorteil aller Beteiligten einen DDR-Spionagering ins Haus holt. Was die Spione so getrieben haben, weiß ich auch. Dass die meisten von ihnen tot sind, müssen wir leider akzeptieren. Mir fehlt aber noch eine ganze Menge. Also los.«
»Sie ahnen etwas, nicht wahr?« Er lächelte schwach, fast melancholisch.
»Ja, ja, mir fehlt der ganze Teil, den man mit Sauter überschreiben kann.«
»Also gut. Vor vier Jahren wurde mir die Sache zu heiß. Ich bin schließlich Bundestagsabgeordneter, ich kann nicht beratend für jemanden tätig sein, der über Spione abkassiert. Also wendete ich mich an den Bundesnachrichtendienst.«
»Und die fanden die Geschichte richtig gut, nicht wahr?«
Er nickte. »Sie sagten mir, ich hätte alles genau richtig gemacht, und sie würden an dem Arrangement mit der DDR auch gar nichts ändern wollen, solange sie genau im Bilde wären, was läuft.«
»Aber dabei blieb es nicht.«
»Nein. Sie zogen im Schatten der DDR-Gruppe in Düsseldorf ein Gegennetz auf. Wenn Grenzow und Konsorten zum Beispiel Fernseher an Dr. Bleibe in Chemnitz lieferten oder Maschinen oder was weiß der Teufel, schleusten sie eigene Leute als Fahrer und Beifahrer durch. Auf diese Weise war die militärische Lage der Ostdeutschen und der Russen im Großraum Chemnitz die im Westen am besten bekannte. Der BND erfuhr ja auch genau, wie Wirtschaftsspione arbeiten. Wenn er seine im Osten arbeitenden Zuträger und Spione mit irgendwas beliefern wollte, ging das über die prächtige DDR-Truppe in Düsseldorf.«
»Aber der BND konnte doch nicht dulden, dass Kanter und Bleibe daraus ein Privatgeschäft machen«, sagte ich.
»Warum denn nicht?« fragte er ganz unschuldig. »Was andere machen, ist doch dem BND egal. Hauptsache, sie bekamen, was sie wollten. Also, es war ganz schlicht so: Ein westdeutscher Manager kreierte bei sich einen ostdeutschen Spionagering, der vom Bundesnachrichtendienst kontrolliert wurde.« Dann begann er haltlos und hysterisch zu lachen, bis er weinte.