2. Kapitel

Wir hockten einander gegenüber, und sie wirkte mehr denn je wie eine misstrauische Krähe.

»Ich passe nicht in dein Programm, nicht wahr?«, fragte sie.

»Nicht doch, nicht doch«, wehrte ich ab. »Wir werden uns schon vertragen.«

»Ich bleibe nicht lange«, stellte sie leicht eingeschnappt fest. »Wir klären die Sache mit der Erbschaft und ich verschwinde wieder.«

»Du bist ja kaum hier«, widersprach ich. »Ich lebe allein, ich habe keine Familie, ich …«

»Bei mir ist das genauso«, unterbrach sie. »Ich kenne das. Mein Leben lang war ich allein und …«

»Nicht verheiratet?«

»Nein«, sie lächelte. »Also es gab Anwärter und solche, die es sein wollten. Aber ich wollte nicht. Nix mit Männern.«

»Wie heißt du eigentlich?«

»Lange. Wie deine Mutter. Annemarie Lange. Also eine ordnungsgemäße Tante bin ich nicht. Ich bin ein Waisenkind. Mein Vater starb im Ersten Weltkrieg, meine Mutter holte sich in Ostpreußen beim Holzmachen im Wald die Tbc und starb daran. Ich kam in ein Waisenhaus. Ich wurde dann adoptiert, von der Familie deiner Mutter, ich heiße seitdem Lange. Ich habe dich zum letzten Mal gesehen, als du ein kleiner Junge warst. Zwei oder drei Jahre alt. Damals hieß das Sommerfrische, und es war auf Norderney.«

»Wieso hat meine Familie nie etwas darüber erzählt?«

»Ich glaube, die mochten mich nicht besonders«, sagte sie und starrte aus dem Fenster, irgendwohin. »Es war wohl deshalb, weil dein Vater eigentlich mich haben wollte, nicht deine Mutter.« Sie tupfte mit einem spitzen Zeigefinger auf einem Stück Brot herum und bedachte mich mit einem schnellen Blick. »Wir waren verlobt, dein Vater und ich. Damals in Berlin. Na ja, das ist lange her.« Sie lächelte flüchtig.

»Wie alt bist du eigentlich?«

»Sechsundsiebzig.«

»Hättest du ihn geheiratet?«

»Ich denke schon, na sicher.«

»Und wie kommen wir jetzt an den verdammten Bauernhof?«

»Das ist kompliziert. Ich bin durch Adoption ein normales Mitglied der Familie Lange. Von denen bin ich die letzte. Von Seiten deines Vaters bist du der letzte. So einfach ist das.«

»Wieso habe ich nie von diesem blöden Rittergut erfahren?«

»Weil ich beim Amtsgericht in Berlin bekannt war und wusste, wo du bist. Ich habe immer gewusst, wo du bist.«

»Weil ich sein Sohn bin?«

»Sicher.« Wieder dieser schnelle Blick. »Den Erbschein hast du ja jetzt.«

»Ich will ihn nicht.«

»Wie lebst du eigentlich?«

»Das siehst du ja. Ich bin Redakteur oder Journalist oder Reporter, ganz wie du willst. Ich arbeite von hier aus. Frei.«

»Und davon kann man leben?«

»Ja, manchmal.«

»Und Familie? Ich meine Frau und Kinder?«

»Habe ich, habe ich gehabt. Sag mal, wieso weißt du eigentlich etwas von Schaumstoffen, die man verschießen kann?«

»Weil ich zeit meines Berufslebens bei der Kripo war, mein Lieber.«

»Und was hast du da gemacht?«

»Alles. Angefangen hab’ ich neunzehnhundertfünfunddreißig beim Sittendezernat in Stettin. Das war eine böse Zeit. Und manchmal hatte ich nicht genug zu essen. Und jetzt möchte ich ein Stündchen schlafen.« Mehr wollte sie jetzt offenbar nicht erzählen.

Sie stand auf, sah mich an und setzte hinzu: »Ich glaube, wir kommen ganz gut miteinander aus. Bis nachher. Und wenn ich störe, dann sagst du es einfach.« Damit ging sie hinaus.

Meine Katze Krümel saß auf der Fensterbank und sah mich an, als habe sie eine Frage.

»Ich weiß nicht«, sagte ich, »ich weiß es noch nicht. Vielleicht ist sie ganz in Ordnung. Würdest du gern auf einer Art Rittergut in der Mark Brandenburg wohnen?«

Meine Katze Krümel ist eine kluge Katze, sie antwortete nicht. Ich ging zu Fuß in die Kneipe von Mechthild und Markus und süffelte trübe einen Apfelsaft vor mich hin.

Erwin kam gutgelaunt vom Golfplatz her und fragte dröhnend: »Wie nennt man einen Schäfer, der seine Schafe prügelt?«

Höflicherweise sah ich ihn fragend an.

»Mähdrescher!«, strahlte er und bestellte sich ein Bier. Dann sah er mich listig an und fragte: »Was hältst du denn von der Leiche?«

»Was soll ich davon halten? Sie antwortet ja nicht auf Fragen.«

»Eine komische Sache«, murmelte er. »Ich hab mal rumgefragt, kein Mensch kennt den Menschen. Niemand hat ihn je gesehen. Da fragst du dich doch: Wie kommt der ausgerechnet mitten in den Bruch? Und wieso hat der das Schaumzeug im Leib?«

»Vielleicht werden wir das eines Tages wissen, vielleicht nicht.«

»Da ist heute Nachmittag eine Frau gewesen. Im Windbruch. Sie kam an, parkte den Wagen, ging rein, soweit sie konnte, und sah sich einfach um. Dann fuhr sie wieder.«

»Was für eine Frau?«

»Was weiß ich. So um die dreißig, vierzig. Rotes Kleid, braune Lederjacke. Eine Stadt-Tussi. War ein Golf, ein weinroter Golf.«

»Wer hat sie denn gesehen?«

»Mattes. Der hat da Holz vermessen. Sagte, es wäre so um vier Uhr gewesen.«

»Was hatte der Golf für eine Nummer? Woher kam die Frau?«

»Was weiß ich? Mattes hat nichts gesagt.«

»Hat die Frau Mattes auch gesehen? Hat sie ihn entdeckt?«

»Soweit er gesagt hat, hat sie ihn nicht gesehen.«

»Und wo ist Mattes jetzt?«

»Zu Hause, denke ich. Kümmerst du dich vielleicht beruflich um die Leichen?«

»Eigentlich nicht, aber eigentlich doch.«

»Du hast ja auch Besuch«, grinste er.

»Komm bloß nicht auf den Hof«, warnte ich ihn, »die heißt Anni und hat Haare auf den Zähnen.«

»Da sollen sich ja angeblich Geheimdienste drum kümmern«, sagte er so leise, als würden wir beobachtet. »Also, ich meine um die Leiche, nicht um deine Tante Anni.«

»Das ist mir egal«, sagte ich. »Geheimdienste sind geheim, also gehen sie mich nichts an.« Ich zahlte meinen Apfelsaft und ging.

Mattes war zu Hause und bastelte an seinem Trecker. Er sah mich und grinste, schüttelte den Kopf und brummte: »Ich weiß nichts.«

»Wenn du sagst, du weißt nichts, dann hast du dir garantiert die Autonummer aufgeschrieben.«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht aufgeschrieben. Ging mich ja nichts an.«

»Wenn du sie nicht aufgeschrieben hast, dann hast du sie im Kopf.«

»Das könnte sein«, gab er zu.

»Was kostet das?«

»Na ja, du könntest auf dem nächsten Kameradschaftsabend vom Musikverein einen Kasten Bier schmeißen. Oder warte mal: einen Kasten Bier und eine Flasche Pflaumengeist. Oder warte mal: Einen Kasten Bier, eine Flasche Pflaumengeist und eine Flasche Aufgesetzten.«

»Wenn ich noch drei Minuten hierbleibe, kostet mich das den Inhalt einer ganzen Kneipe. Also gut, die Nummer?«

»Ich war für das Forstamt unterwegs, weil die da den Windbruch saubermachen wollen. Ich sollte das Holz grob vermessen. Die Frau kam gegen zehn vor vier. Sie kam direkt von der Schnellstraße her, parkte den Golf, weinrot war der, also dunkelrot. Dann ging sie langsam erst um den ganzen Bruch herum, kam dann zurück und wollte von der Weggabelung aus in den Bruch hinein. Das klappte nicht. Wenn du das nicht gewöhnt bist, kommst du da keine zehn Meter rein. Sie stand auf einem Stamm und sah sich um. Ganz langsam und ganz ruhig. Dann kletterte sie die paar Meter raus, ging zu dem Wagen und haute ab.«

»Blond, braun, dunkelhaarig?«

»Dunkelhaarig. Ziemlich langes Haar, würde ich sagen. Ein Kleid, dunkelrot, sage ich mal, jedenfalls dunkel. Dann eine Lederjacke, dunkelbraun. Dann blaue Jeans und Turnschuhe. Sah so aus wie die Wochenendtouristen immer aussehen.«

»Wie alt schätzt du sie?«

»Dreißig, würde ich sagen.«

»Und sie hat dich nicht gesehen?«

»Nein. Konnte sie gar nicht.«

»Und die Nummer vom Auto?«

»D wie Düsseldorf, dann KL, dann 6789.«

»Sonst noch irgendwas?«

»Nein, aber nachgedacht habe ich. Das Foto von dem Toten war ja in allen Zeitungen. Aber es stand nicht genau dabei, in welchem Wald er gefunden wurde. Wenn sie also wegen der Leiche in den Windbruch gekommen ist, dann muss sie vorher irgendwo gewesen sein und gefragt haben, wo man den Toten gefunden hat. Oder?«

»Das ist richtig, der Kandidat hat neunundneunzig Punkte. Wenn sie wegen der Leiche hier war, kannst du dir vorstellen, wen sie gefragt hat?«

»Die Polizei?«, fragte er dagegen.

Ich schüttelte den Kopf und fuhr weiter. Tatsache war, dass Tante Anni schon störte, noch ehe sie richtig angekommen war, denn eigentlich hatte ich keine Minute Zeit für sie – aber eigentlich war sie mein Gast.

Ich fuhr heim, und ein mildes Schnarchen füllte das Treppenhaus. Die Tür zum Gästezimmer schloss nicht richtig.

Ich hockte mich an den Schreibtisch und rief bei der Polizei in Köln an, Waidmarkt. Ich sagte forsch: »Mir ist jemand beim Parken in die Seite gefahren. Was mache ich, wenn ich die Autonummer habe?«

»Sie können Anzeige erstatten, Sie können aber auch dem Halter des Fahrzeugs mitteilen, dass Sie sich gütlich einigen wollen. Oder, warten Sie mal, handelt es sich um Unfallflucht?«

»So dicke nicht«, beruhigte ich ihn. »Es war eine Frau, es war ein weinroter Golf, er hatte eine Düsseldorfer Nummer. Und eigentlich«, ich zögerte ein bisschen, »eigentlich ist die Beule sehr klein, aber die Frau war sehr hübsch.«

Auf so etwas fahren sie alle ab. Er lachte sehr sympathisch. »Sie sind sich im Klaren darüber, dass das Datenschutz ist?«

»Also, diese Frau ist eigentlich unter Datenschutz irgendwie zu schade. Und ich dachte, Sie brauchen doch bloß in den Computer zu schauen, und – peng – bin ich glücklich.«

»Also, geben Sie mir mal die Nummer, Sie sind vielleicht selbst eine Nummer!«

»D-KL 6789.«

Es dauerte eine Weile, dann sagte er: »Die Dame heißt Clara Gütt und wohnt in Düsseldorf, Immermannstraße 55.«

»Ich küsse Sie!«

»Sie meinen hoffentlich die Dame«, sagte er.

Ich legte den Hörer bedächtig auf und beschloss, für diesen Tag Schluss zu machen. Ich rief: »Anni, wir gehen nach Gerolstein zum Chinesen.«

»Du brauchst nicht so zu schreien, Junge«, sagte sie ruhig. Sie stand in der Tür. »Wieso zum Chinesen? Ich dachte, ich kriege hier endlich mal deftige Hausmannskost.«

»Dann fahren wir nach Niederehe, zum Fasen. Willst du Forellen?«

»Forellen?« Sie strahlte. »Junge, das, was ich in Berlin kriege, schmeckt immer ein bisschen nach altem Goldfisch.«

»Du kriegst Forellenfilet zur Vorspeise, dann Forelle blau zum Warmwerden und zum Schluß eine aus der Pfanne statt Pudding.«

»Du hast irgendwie seine Stimme.«

»Meinst du meinen Vater?«

»Ja. Seit ich dich wiedergesehen habe, denke ich darüber nach, was aus meinem Leben geworden wäre, wenn er deine Mutter nicht geheiratet hätte.«

Dann schrillte das Telefon, ich hob ab, und Alfred sagte ohne Punkt und Komma: »Falls dich die Leiche wirklich interessiert: Da kriecht schon wieder einer im Windbruch rum. Diesmal ein Mann.« Er hängte einfach ein.

»Ich muss mal eben aus dem Haus. Ich bin gleich wieder da.« Krümel war sofort an meiner Seite und sprang in den Wagen.

Ich fuhr hinunter ins Dorf, dann die Kölner Straße entlang. Wer immer er war, ich wollte es besser machen, ich wollte ihn nicht warnen. Ich schaltete die Scheinwerfer aus und fuhr den Windbruch von Westen an. Das war schwierig, weil die Holzlader die Waldwege total verschlammt hatten. Die Fahrrinnen waren so tief, dass ich das Gefühl hatte, ein feuchtes Feld zu pflügen. Ungefähr einhundert Meter vor der Südecke des Bruchs ließ ich den Wagen stehen und rannte los. Anfangs war es leicht, weil das Licht noch ausreichte, den Weg klar auszumachen, aber als ich den Weg verlassen musste, um in den Bruch einzudringen, wurde es schwierig. Ich bewegte mich auf den Stämmen, glitt aber ein paarmal aus und konnte mich nur durch einen Sprung retten. Nach etwa fünfzig Metern hörte ich auf, mich strikt nach vorn zu bewegen, ich versuchte, unter den Stämmen durchzukommen.

Flüchtig dachte ich, dass ich vielleicht einen Fehler machte. Wenn hier wirklich ein Mann war, musste er irgendwie gekommen sein. Mit einem Auto wahrscheinlich. Also wäre es besser gewesen, zuerst sein Auto zu finden und einfach zu warten. Ich blieb neben einem zersplitterten Tannenbaum hocken und horchte. Es macht keinen Sinn, ein paar Sekunden lang zu horchen und dann eine Entscheidung zu treffen. Man muss Geduld mitbringen, mindestens einige Minuten lang zu unterscheiden lernen, welches Geräusch in den Wald gehört und welches Geräusch etwas bedeuten kann. Das ist schwierig, die meisten Sonntagsjäger lernen es nie.

Rechts von mir gab es ein leises brechendes Geräusch, Bruchteile einer Sekunde lang. Ich bewegte mich ganz vorsichtig darauf zu. Dann wiederholte sich das Geräusch von links. Wer immer es war, es bewegte sich also auf den linken Rand des Bruches zu. Eine Sekunde lang dachte ich erneut, es sei das Einfachste, kehrt zu machen, den Bruch zu verlassen, ihn zu umrunden, auf den Mann zu warten. Ich hätte auf diese Logik hören sollen.

Ich bewegte mich parallel zu ihm, wenigstens bildete ich mir das ein. Dicht vor mir kam ein drittes Geräusch, diesmal klang es so, als laufe jemand einen Stamm entlang. Als ich mich aufrichtete, um irgendetwas zu erkennen, kam der Schlag von hinten und warf mich gegen einen Erdteller, den der Sturm hochgerissen hatte. Etwas fuhr schmerzhaft über meine rechte Gesichtshälfte, und sofort war es vollkommen dunkel vor meinen Augen. Ein dumpfes Feuerwerk explodierte in meinem Kopf.

Sehr lange kann ich nicht ohnmächtig gewesen sein. Ich wurde wach, weil irgendetwas an meiner Haltung höchst unbequem war. Mein linker Arm hatte sich in einer starken Wurzel verfangen und hielt fast mein ganzes Gewicht. Das rechte Auge öffnete sich nicht sofort, weil etwas Blut hineingelaufen war und es verklebt hatte. Ich tastete meinen Kopf ab und fand einen Riss hinter dem rechten Ohr.

Ich erinnerte mich daran, Tante Anni etwas von Forellen erzählt zu haben, und musste unwillkürlich grinsen. Also kämpfte ich mich auf die Beine und fand mich im Prinzip in Ordnung. Ich brachte es fertig, mit Hilfe meines Gasfeuerzeugs auf meine Armbanduhr zu schauen. Länger als eine halbe Stunde konnte dieser Ausflug nicht gedauert haben. Ich kletterte also aus dem Windbruch hinaus, und langsam machten sich Kopfschmerzen breit.

Mein Gegner, wer immer es gewesen sein mochte, hatte gute Arbeit geleistet und davon profitiert, dass ich mich dümmer angestellt hatte als ein Pfadfinder bei seiner ersten Anschleichübung. Er war sogar so umsichtig gewesen, mir anschließend die Luft aus dem linken vorderen Reifen abzulassen. Mein Auto konnte ich vergessen.

Meine Katze Krümel tauchte von irgendwo auf, und es schien mir so, als grinse sie, obwohl grinsende Katzen selbst in der Literatur äußerst selten sind. Wir machten uns auf den Heimweg. Ein Fußmarsch am Abend bringt die Verdauung in Schwung.

Ich schlich von hinten in das Dorf, weil ich das fatale Gefühl hatte, dass dieser oder jener Treckerbesitzer an irgendeiner Ecke wartete, um über mich zu feixen. Ich versuchte, still und leise durch den Flur zu schleichen, das Badezimmer zu erreichen, aber Tante Anni stand wie ein kleiner, unbezwingbarer Berg im Weg und fragte kühl: »Hattest du einen Unfall oder so was?«

»Nein, nein. Ich habe mich nur gestoßen.«

Sie machte nur »Hm« und glaubte mir kein Wort. »Du musst aufpassen, dass sich das nicht entzündet. Am besten ist, du gießt irgendeinen Schnaps drüber.« Dann griff sie nach meinem Kopf wie nach einem Punchingball, bog ihn nach vorn und sagte anerkennend: »Nicht schlecht!«

»Ich wasche mich nur ab, dann geht’s zu den Forellen.«

»Du solltest vielleicht eine Hand voll Aspirin nehmen«, sagte sie milde und starrte mich so an, als sei ich ein bisher unbekannter Käfer. »Wir könnten die Forelle ja auf morgen verschieben.«

»Hier wird nichts verschoben«, antwortete ich mannhaft. Der Riss hinter dem Ohr war ekelhaft, aber unbedeutend; es hatte nur heftig geblutet. Ich wusch mich gründlich, klebte ein Pflaster drauf, und wir machten uns auf den Weg, nachdem ich Erwin gebeten hatte, sich mal um mein Auto zu kümmern und irgendwie Luft in den Reifen zu kriegen. Erwin war auch so freundlich, mir sein Auto zu pumpen, das gefährliche Ähnlichkeit mit einer Rostlaube hatte. Aber es transportierte uns nach Niederehe zu den Forellen.

Als wir uns an einen Ecktisch gesetzt hatten, fragte ich sie: »Wie kommt denn eine Frau wie du zur Kripo?«

»Ganz einfach«, sagte sie. »Durch Jiu-Jitsu.« Sie lachte. »Also, das war so. Ich wuchs in der Allensteiner Gegend auf und ging nach der Schule als Hausmädchen nach Berlin. Das war damals eine richtige Karriere. Eines Tages interessierte ich mich für Jiu-Jitsu. Damals war es Frauen möglich, das in Turnvereinen zu lernen. Weil Turnvereine irgendwie auch ein Ersatz für ein Elternhaus waren, ging ich in einen Verein und lernte das. Eines Tages machten wir so einen Schauabend mit Kämpfen. Dabei trat ich als eine Frau auf, die vom Büro nach Hause geht und überfallen wird. Ich musste den Angreifer aufs Kreuz legen. Da waren hohe Polizeibeamte unter den Zuschauern. Nach der Veranstaltung baten sie mich um ein Gespräch und sagten, bei der Kripo brauche man dringend Frauen, ob ich nicht Lust hätte, Polizeibeamtin zu werden. Das war damals die absolute Ausnahme, das machte ich also. Meine erste reguläre Stelle kriegte ich beim Sittendezernat in Stettin. Die meisten wissen das heute nicht mehr, aber Stettin war als Seehafen der Ostsee ein ziemlich übles Pflaster mit Hafenszene, Bordellen und so weiter. Wenn du mal als Frau drei Jahre bei der Sitte warst, dann kannst du nicht mehr heiraten, dann ist dir das endgültig vergangen.«

Das Forellenfilet kam, und sie haute rein, als habe sie eine Woche lang gefastet. »Das ist ja phantastisch!«

Wir aßen ungefähr zwei Stunden lang, ohne viel zu erzählen, und machten uns dann auf den Rückweg. Im Auto sagte sie unvermittelt: »Weißt du, ich bin eine Praktikerin. Erst findest du einen toten Mann, dann wirst du angerufen und verschwindest eiligst, dann kommst du zurück und sagst, du hast dich gestoßen. Du bist also verprügelt worden.«

»Ja, ich gebe es zu. Ich werde dir sagen, was passiert ist.« Ich erzählte es ihr, und sie schnaufte, machte »Hm, hm« und murmelte dann: »Es ist wie mit der Hure und der Uhr.«

»Was war mit der Hure und der Uhr?«

»Das war einer meiner ersten Fälle in Stettin. Ich hatte Nachtdienst und wurde aus einem Bordell angerufen, ich müsste sofort kommen. Zwei ehrenwerte Geschäftsleute hatten sich dort zwei Huren gekauft und verlangten jetzt ihre Brieftaschen und Uhren zurück. Die Brieftaschen rückten die Huren sofort heraus, eine Uhr auch. Aber eine Uhr, eine goldene Taschenuhr mit einem kleinen Glockenspiel zu jeder vollen Stunde, blieb verschwunden. Ich sagte den Huren, sie sollten gefälligst mitkommen auf die Wache. Dort befahl ich ihnen, sich nackt auszuziehen. Dann verhörte ich sie getrennt. Die zweite Hure stand da erbärmlich frierend vor mir und sagte: ›Frau Kommissarin, ich habe die Uhr nicht, verdammt noch mal, ich habe die Uhr nicht einmal gesehen!‹ In diesem Moment war gerade eine volle Stunde rum, die Uhr spielte laut und unüberhörbar ›Üb immer Treu und Redlichkeit‹, und die Hure wurde totenblass. ›Hol sie raus!‹ sagte ich. Sie lächelte verlegen …«

»Was hat denn diese Hure und die Taschenuhr mit dem Toten und dem Plastik in seinem Bauch zu tun?«

»Ganz einfach: Vielleicht klingelt es. Gewisse Dinge kann man aus einem Fall schließen, ohne weitere Untersuchungen anzustellen. Zum Beispiel weißt du mit ziemlicher Sicherheit, dass der tote Mann nicht von einer Person in den Windbruch gebracht worden ist, sondern von mindestens zwei. Also kannst du davon ausgehen, dass wir mindestens zwei Täter haben. Dann hast du die Adresse einer Frau, die nach der Tat im Windbruch war. Glaubst du denn, dass der Tote von einem Mann und einer Frau dorthin gebracht worden ist?«

»Das kann sein.«

»Also, dann kann diese Frau, die dort auftauchte, die Frau sein, die half, den Toten in den Windbruch zu tragen. Aber das ist unwahrscheinlich. Was sollte sie dort? Viel wahrscheinlicher ist, dass sie das Foto in der Zeitung gesehen hat und den Toten kennt. Dann wurdest du dort niedergeschlagen, eine sehr männliche Tat. Das kann der Mann sein, der die Leiche ursprünglich dorthin brachte. Wenn aber nun ein oder zwei Menschen, die den Toten zuerst dorthin verfrachteten, an diesen Ort wiederkehren, deutet das darauf hin, dass sie dort etwas verloren haben. Oder aber sie sind überzeugt, dass dort sonst irgendwelche Spuren zurückgeblieben sind, die man vernichten muss. Es müssen Spuren sein, die niemandem bisher aufgefallen sind. Leuchtet das ein?«

»Ja, das leuchtet ein. Deiner Meinung nach sollte man also den Fundort noch einmal absuchen?«

»Ja, das sollten wir tun.«

»Wir? Wieso wir?«

»Weil ich mitgehe«, sagte sie einfach. »Das interessiert mich.«

»Bist du verrückt? Das ist ein Dschungel, du musst klettern und kriechen.«

»Anni ist ein zähes altes Luder«, sagte sie milde.

»Hast du eigentlich etwas gegen Huren?«, fragte ich unvermittelt.

»Nein«, sagte sie energisch. »Überhaupt nicht. Die meisten von ihnen hatten nie im Leben eine Chance, irgendetwas anderes zu werden, als sie geworden sind. Warum?«

»Ich mag Menschen mit Vorurteilen nicht«, sagte ich schlicht.

»Dein Vater mochte Vorurteile auch nicht.«

»Ich bin aber nicht mein Vater«, sagte ich scharf. Sie machte mich manchmal wütend.

»Aber du hast so viel von ihm«, meinte sie leise, schwieg eine Weile und fragte dann: »Was machst du eigentlich beruflich mit dieser Geschichte von dem Toten?«

»Ich weiß es nicht. Eigentlich kann ich nichts machen. Ich kann die Recherchenstrecke nicht vorfinanzieren.«

»Wie bitte?«

»Es kostet viel Geld, so eine Sache zu untersuchen. Das habe ich nicht.«

»Ich kann es dir ja vorstrecken.«

Ich sah sie an und wurde hilflos.

»Ich meine es nur gut. Und wenn du irgendeine Zeitschrift anrufst und sagst, das wäre ein komischer Toter?«

»Komische Tote gibt es wie Sand am Meer. Kein Mensch kauft eine Katze, von der er nicht einmal die Schwanzspitze sieht. Es ist bis jetzt keine aufsehenerregende Geschichte, verstehst du? Ein Toter, na und? Einer mit Plastik im Bauch, na und? Vielleicht hat eine Ehefrau ihren Ehemann umgebracht, weiß der Himmel. Welcher Hahn soll danach krähen?«

»Aber du glaubst doch, dass es eine wichtige Geschichte ist, oder?«

Ich wurde wieder wütend. »Anni, es kommt nicht darauf an, was ich glaube, sondern darauf, ob der Fall geheimnisvoll, grausam, ekelerregend, sensationell oder was weiß ich ist. Und bis jetzt ist er nur geheimnisvoll, sonst nichts.«

»Bist du in finanziellen Schwierigkeiten?«

»Anni, tu mir einen Gefallen: Halte dich aus meinen Dingen raus und biete mir nie wieder Geld an. Ich lebe, ich lebe nicht schlecht und versuche, einigermaßen aufrecht durch das Leben zu gehen, sonst nichts.«

»Du kannst nicht bescheißen, was?« Sie hatte einen seltsamen Ausdruck in den Augen.

»Wie bitte?«, fragte ich verblüfft.

»Na ja, du kannst nicht bescheißen, nicht richtig übertreiben, dich nicht verkaufen.«

Ich musste lachen. »Du bist ein Drache. Wenn ich versuche, jemanden um einen Groschen zu betrügen, sieht der mir das vorher schon an. Ich passe nicht so richtig in diese Zeit. Und jetzt ab, marsch ins Bett.«

Wir waren zu Haus angekommen. Krümel hatte sich bereits auf der Fensterbank des Schlafzimmers niedergelassen und starrte auf irgendeinen graugetigerten, furchtbar abgemagerten Kater nieder, der vor dem Fenster unter dem Holunder hockte und sie anhimmelte.

»Du bist eine miese Mata Hari«, sagte ich vorwurfsvoll, aber auf so etwas hörte meine Katze erst gar nicht.

Es gibt Nächte, in denen ich es genieße, nicht schlafen zu können. Dann lese ich all die Bücher, die ich immer schon lesen wollte, und schlafe darüber ein. Diese Nacht war nicht so, diese Nacht quälten mich Träume, und ich schlief erst gegen vier Uhr richtig ein.

Um sieben Uhr war die Nacht zu Ende, weil Tante Anni sehr laut und sehr falsch ›Schenkt man sich Rosen in Tirol‹ grölte. Sie stolperte mit der Lautlosigkeit eines Elefanten die Treppe hinauf und hinunter und ging schließlich zu dem Lied ›Ich hatt’ einen Kameraden‹ über. Krümel hockte vollkommen verschreckt unter dem Sessel, und gesetzt den Fall, ich hätte ein Hackebeil unter dem Kopfkissen gehabt, wäre ein ernster Zwischenfall unvermeidlich gewesen. Dann klapperten Tassen und Teller in der Küche, der Kamerad wurde abgelöst von dem schönen Lied ›Mein idealer Lebenszweck ist Borstenvieh und Schweinespeck‹, um dann zu einer sehr lyrischen Version von ›Dunkelrote Rosen‹ überzugehen. Dann war es still. Ich hatte schon die wahnwitzige Hoffnung, sie habe soeben einen Kreislaufzusammenbruch erlitten, aber dann knarrten die Stufen der Treppe, die Tür zu meinem Schlafzimmer öffnete sich mit einem Knall, und da stand Tante Anni mit einem Tablett und fragte unschuldig: »Stehst du auch so gerne früh auf?«

Ich lachte, bis mir die Tränen kamen, und unterdessen stellte sie das Tablett neben mich, goss mir Kaffee ein und stellte eine Schale Müsli dazu.

»Bist du verrückt? Müsli ist der sichere Weg, um magenkrank zu werden.«

»Es ist gesund«, bestimmte sie. Dann musste auch sie lachen, und der uralte graugrüne Bademantel, in den sie sich eingewickelt hatte, zitterte bei ihren Lachsalven. »Ich bin eine verrückte Nudel, ich weiß.«

Wir hockten da im ersten Licht des Tages und schlürften heißen Kaffee.

»Wir sollten uns trennen«, sagte sie.

»Wie das?«

»Ich gehe da in diesen Windbruch und sehe nach, und du versuchst, diese Frau in Düsseldorf zu erreichen, diese Clara Gütt.«

»Ich gebe dir Werner besser mit. Werner ist unser Waldarbeiter, allererste Waldarbeitersahne. Du brauchst jemanden, falls du dir etwas brichst.«

Ich rief also Werner an, und glücklicherweise hatte er ein wenig Zeit. Eine halbe Stunde später ratterte er mit dem Trecker auf den Hof, und ich schob Tante Anni mannhaft keuchend auf den Notsitz über dem linken Hinterrad. »Das ist aber schön«, strahlte sie.

Werner errötete sanft und gab Gas.

Ich stand auf dem Hof und sah ihnen nach und war unsicher: Anni war gekommen und hatte gleich die Befehlsgewalt übernommen. Das gefiel mir nicht.

Ich setzte mich in den Wagen und fuhr nach Düsseldorf. Auf der Autobahn hörte ich im CB-Funk fasziniert zwei Hausfrauen zu, die sich darüber unterhielten, wie verdammt schwierig es ist, zwanzig Kilo Spargel zu schälen. Sagte die eine zur anderen: »Also weisse, bei Möhrchen siehste ja, welche du geschält hast und welche nicht. Aber bei Spargel, dat nich!« Und die andere antwortete ergeben: »Jaa, jaa.«

Clara Gütt, Immermannstraße 55. Es war ein gesichtsloses Haus, gebaut ganz im Sinne eines Unternehmers, der Wohnungen vermieten wollte, nichts sonst. Sie wohnte im ersten Stock, und zuerst öffnete niemand. Dann erschien doch noch ein dicker, rotgesichtiger Mann in der Haustür und sagte: »Frau Gütt ist nicht da.«

»Wissen Sie, wo sie ist?«

»Also ich bin der Hausmeister, ich weiß das immer. Sie ist in der Eifel, sie hat da eine Ferienwohnung oder so. Das ist in Ahrdorf. Sie werden keine Ahnung haben, wenn Sie reinkommen, zeige ich Ihnen auf der Karte …«

»Ich weiß den Weg«, sagte ich.

Er wurde eifrig. »Wenn es was Wichtiges ist, also wenn Sie eine Behörde sind oder so, können Sie es mir auch sagen. Ich bin schließlich diskret.« Er sah mich an, und vermutlich war sein Leben langweilig.

Ich sagte streng: »Das kann ich nicht sagen, es ist sehr vertraulich.« Das Wort vertraulich hauchte ich, so etwas kommt gut an. Seine Augen wurden größer, und er versicherte: »Verstehe, verstehe.«

Ich fuhr zurück, ich ärgerte mich über das Benzin, das ich so nutzlos in die frische Luft gepustet hatte. Ahrdorf war von meinem Hof nicht weiter als vielleicht zehntausend Meter entfernt. Zuweilen muss man lange Wege gehen, um den kurzen Weg zu begreifen.

Ich fuhr nicht sofort nach Ahrdorf, ich wollte erst wissen, ob Tante Anni Erfolg gehabt hatte.

Sie hockte in der Küche am Fenster und rauchte einen Zigarillo. Sie sagte hohl: »Nix, absolut nix. Dein Freund, der Werner, hat sogar zwei Riesenstämme für mich durchgeschnitten. Einfach so, in Sekunden, mit einer Kettensäge. Ich bin da rumgekrochen wie eine Putzfrau, die die Ecken saubermachen muss. Ich habe nichts gefunden. Seitdem hocke ich hier und überlege folgendes: Wieso haben diese Mörder oder die Helfershelfer der Mörder den Toten mitten in diesen Windbruch geschleppt? Der beste Tote ist der, der nicht gefunden wird, niemals entdeckt wird. Ich frage mich, ob sie vielleicht vorhatten, den Toten dort bloß so lange zu deponieren, bis sie ihn ohne Gefahr irgendwie vollkommen verschwinden lassen konnten. Also frage ich dich: Wenn du nicht in diesem Bruch herumgekrochen wärst – wie lange hätte der Tote dort noch unentdeckt liegen können?«

»Eine gute Frage. Nicht sehr lange. In diesen Wäldern wird seit Monaten pausenlos aufgeräumt, sehr schnell und sehr systematisch. Da fahren Langholzwagen unermüdlich Stämme ab, da sind pausenlos Kolonnen unterwegs, die den Wald wieder auf Vordermann bringen. Allein diese winzige Gemeinde hat hunderttausend Mark investiert, um neue Mischwälder anzupflanzen. Das heißt auf gut Deutsch: In diesem Gebiet bist du nirgendwo lange allein. Überall Arbeitskolonnen, Maschinen, Laster. Jeder, der versucht, eine Leiche zu verbergen, könnte sich alles mögliche aussuchen, nur keinen frischen Windbruch in der Eifel. Mit anderen Worten …«

»Mit anderen Worten«, sagte sie hastig, »der Tote sollte gefunden werden.«

»Das denke ich jetzt auch. Er sollte gefunden werden. Aber warum?«

»Vielleicht ist der Tote ein Code?«, fragte sie.

»Ein Code für was?«

»Ein verdecktes Signal für ganz bestimmte Menschen, irgendetwas zu tun oder es nicht zu tun«, sagte sie rätselhaft. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. »Man muss versuchen nicht ins Phantasieren abzugleiten. Was ist mit dieser Clara Gütt?«

»Sie hat eine Ferienwohnung im Dorf nebenan«, sagte ich. »Ich fahre gleich hin.«

»Hast du schon eine Ahnung, wer dich niedergeschlagen haben könnte?«

»Nicht die geringste«, sagte ich. »Hast du Lust auf einen russischen Karawanentee?«

»Auf was, bitte?«

»So etwas gibt es wirklich. Und es ist einer der besten Tees, die ich kenne. Stark geräuchert und aromatisch wie guter Wein. Ich mache einen.«

»Ich bin müde«, sagte sie, und auf einmal sah man es ihr auch an. »Ich habe noch eine Frage: Angenommen, du hättest eine solche Leiche am Hals und müsstest sie verschwinden lassen. Wäre dir das möglich?«

»Aber ja, kein Problem. Ich würde sie nachts durch Felder und Wälder zu einem der abgelegensten Steinbrüche hier fahren. Es gibt Hunderte. Höhlen gibt es auch. Ich würde den Toten mit schweren Steinen bedecken, anschließend ein paar Büsche darauf pflanzen. Niemand würde ihn finden.«

»Das dachte ich mir«, murmelte sie. »Also entweder sind es dümmliche Städter, die nicht mit der Natur vertraut sind, oder es sind besonders brutale und raffinierte Menschen.«

Ich machte uns Tee, wir tranken ihn schweigend. Dann ging sie ins Arbeitszimmer und legte sich auf die Couch, und ich verschwand, um Clara Gütt zu besichtigen.

Ahrdorf im Ahrtal auf dem langen Weg nach Aachen, Blankenhein, Nürburgring, ist ein winziges, höchst malerisches Dorf mit einer skurril kleinen Kirche, bei der der Turmbau offenkundig schief gegangen ist. Der Turm ist ein hutartiger, völlig schief sitzender kleiner Klotz mit dem Charme des ewigen Provisoriums. Die Wege und Straßen führen verwinkelt und schwer begreifbar hinauf und hinunter, an uralten Gehöften vorbei. Angeblich wurde die Popgruppe BAP hier gegründet, angeblich ist Ahrdorf deshalb so beliebt, weil es hier am Flüsschen einen Campingplatz gibt, auf dem Wohnwagenbesitzer schon seit drei Jahrzehnten die Eifelsonne anbeten.

Ich fragte eine alte Frau, die mühsam humpelnd aus einer Gasse kam, wo denn die Frau Gütt zu finden sei. Wortlos wies sie auf ein Gebäudeviereck, dass einmal ein Gehöft gewesen war.

Die Stallungen waren zu Apartments geworden, die Heu- und Strohböden auch. »C. Gütt« stand auf einem Klingelschild. Jemand polterte auf Holzschuhen eine Holztreppe herunter, dann öffnete sich die Tür, und sie stand vor mir und fragte: »Ja bitte?« Sie wirkte vollkommen uninteressiert, verschlafen, nicht ansprechbar, nicht einmal neugierig.

»Mein Name ist Siggi Baumeister«, sagte ich. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Sprechen Sie.«

»Es geht um eine Leiche«, begann ich zögernd. »Sie haben neulich vor Hillesheim am Fundort gestanden und sind dann verschwunden.«

»Also die Polizei«, stellte sie immer noch eher interesselos fest.

»Nein, nein, ich bin Journalist.«

Jetzt war sie interessiert, jetzt erschrak sie. »O Gott!« Dann wollte sie die Tür zuschlagen, besann sich aber dann anders und sah mich verwirrt an.

»Fressen will ich Sie eigentlich nicht«, meinte ich. »Wenn Sie im Moment nicht gut drauf sind, komme ich wieder, oder ich rufe Sie an. Es ist mir nicht eilig.« Es war mir eilig, aber zugeben durfte ich das nicht.

»Ich war dort«, sagte sie. »Aber ich war nicht dort, weil ich irgendetwas mit dieser … mit diesem toten Mann zu tun habe. Ich war zufällig dort.« Sie sah auf den mit Katzenkopfsteinen gepflasterten Hof, wich meinem Blick aus.

Sie hatte ein weiches, sehr hübsches Gesicht, eingerahmt von schulterlangem kastanienbraunen Haar. Das Gesicht glänzte fettig, war ohne jede Schminke, wirkte kindlich und schutzlos. Wahrscheinlich war sie hier, um ihren Teint zu pflegen, ihrer Haut Gelegenheit zu geben, sich von den Giften der Düsseldorfer Luft zu erholen. Alles an ihr war teuer und edel, angefangen von der rohseidenen, beigefarbenen Seidenbluse bis hin zu den Designerjeans und einer massiv goldenen Uhr im Design von Porsche. Sie wirkte lässig cool, wie Jugendliche sagen, sie war jemand, und sie wusste das jede Sekunde. Sie hatte ihre langen Fingernägel feuerrot lackiert, und auf dem Daumen der linken Hand saß ein goldener Ring mit einem schimmernden Aquamarin. Sie war eine Edeltype, sie war das, was mein Patenkind eine Super-Katalog-Tussi nennt. Sie war einen Kopf kleiner als ich, also um die einhundertfünfundsechzig Zentimeter groß.

»Ich glaube, es ist besser, ich komme an einem anderen Tag wieder«, sagte ich. »Wir können ja auch telefonieren.«

»Wozu sollen wir miteinander sprechen? Ich war wirklich zufällig dort.« Jetzt sah sie mich an und nichts in ihrem Gesicht verriet, was sie dachte. Ihre Augen waren braun und hart wie Kieselsteine.

»Gut gesagt«, erwiderte ich sanft. »Sehen Sie, das glaube ich Ihnen nicht. Und ich möchte nicht unhöflich sein. Ich werde mich also später wieder melden.« Dabei sah ich sie so freundlich wie möglich an.

Sie schien zu begreifen, dass ich vorhatte, wie eine Klette an ihr zu hängen. Sie rümpfte die Nase, sie schnaufte ein wenig und sagte dann: »Wieso glauben Sie mir nicht?«

»Ich hasse nutzlose Diskussionen. Ich glaube es nicht, so einfach ist das«

»Dann lassen Sie es sein«, sagte sie schroff.

»Ich kann es seinlassen«, meinte ich. »Die Polizei wird es erfahren und es nicht seinlassen.«

»Ich mag Journalisten nicht«, schnappte sie. Ihr Gesicht war ein wenig rot geworden. Es war eindeutig keine Liebe auf den ersten Blick.

»Ich weiß nicht, was für Journalisten Sie kennen. Ich will nur wissen, warum Sie an dem Windbruch waren. Nichts sonst. Und Sie werden es nicht morgen in irgendeiner Zeitung lesen.«

»Aber übermorgen?«, fragte sie bissig.

»Übermorgen auch nicht«, sagte ich. »Ich kann Leute nicht leiden, die ständig über Journalisten herziehen und keine Ahnung von deren Beruf haben.«

»Na gut, ein Glas Wasser lang«, sagte sie, drehte sich herum und ging die Treppe hinauf. Sie war vielleicht dreißig Jahre alt, vielleicht auch fünfunddreißig, und sie war die typische Besitzerin einer Zweitwohnung in der Eifel: Das Grün und die Stille genießen, aber um Gottes willen keine Verbrüderung mit dem ungebärdigen Bergvolk.

Es war ein großer Raum mit einer Matratze in der Ecke. Die Bettwäsche bestand aus malvenfarbiger Seide. Eine lederne Sitzecke, ein Küchentisch, eine Nische mit einem Elektroherd, daneben die Tür zum Bad. Ich steuerte den Küchentisch an und sagte: »Ich interessiere mich für diesen Fall, obwohl ich nicht weiß, was er bedeutet. Aber nach Ihnen ist jemand in den Windbruch gekommen und hat mich niedergeschlagen. Ich war der Mann, der den Toten fand. Danach sind Sie aufgetaucht, danach der Mann, der mich niederschlug. Und wir wissen noch immer nicht, wer der Tote ist. Der Grund, weshalb ich hier bin, ist also einfach: Wer ist der Tote, und was verbindet Sie mit ihm?«

Sie setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber und sagte tonlos: »Mich verbindet absolut nichts mit diesem Toten. Wollen Sie einen Tee?«

»Kriege ich auch einen, wenn ich sage, dass ich Ihnen nicht glaube?«

Sie lächelte flüchtig. »Der Gast ist heilig. Wieso kommen Sie eigentlich auf die Idee, dass ich etwas mit diesem Toten zu tun habe? Nur, weil ich dort spazierenging?«

»Sie sind nicht spazierengegangen. Sie sind den Waldweg bis zum Windbruch entlanggefahren. Sie haben gehalten, Sie wollten sogar in den Windbruch hinein. Aber Sie haben es nicht geschafft, durch das Chaos der zertrümmerten Bäume zu kommen. Dann sind Sie in Ihren Wagen gestiegen und wieder fortgefahren.«

»Du lieber Himmel«, meinte sie kühl, »war da ein Spanner?«

»Nein, nur ein Waldarbeiter. Sagen Sie mir, was Sie dort wollten?«

»Es ist ganz einfach«, sagte sie. »Als das Bild des unbekannten Toten in der Zeitung abgebildet war, bin ich sicher gewesen, dass ich diesen Mann kenne, irgendwo gesehen habe. Aber dann stellte sich heraus, dass ich nur einen Mann gekannt habe, der ähnlich aussah. Und ich wollte die Stelle sehen, an der er gestorben ist. Das ist alles.«

Ich glaubte ihr kein Wort, und sie spürte es. Ich fragte: »Was war denn das für ein Mann?«

»Ein Bekannter einer Bekannten«, sagte sie, und ihren Worten war anzumerken, dass sie nicht gewillt war, weitere Auskünfte zu geben.

»Cut«, sagte ich, obwohl nichts gut war. »Leben Sie hier eigentlich allein?«

»Ja«, antwortete sie. »Gott sei Dank.« Sie stand auf und sah mich ein wenig so an wie eine Fliege, die man verscheuchen muss.

Ich gab ihr meine Visitenkarte und bat: »Falls Sie auch niedergeschlagen werden oder irgendetwas in der Art, können Sie mich anrufen.« Ich drehte mich um und ging; sie kam nicht einmal hinterher, um die Tür hinter mir zu schließen. Kein Zweifel, ich hatte es mit einem ziemlich verlogenen Schätzchen zu tun.

Recht bedrückt fuhr ich nach Hause und wurde in der Haustür von einer strahlenden Anni empfangen. »Dein Problem hat sich erledigt«, verkündete sie.

»Was heißt das?«

»Da hat eben jemand angerufen. Er sagte, man hätte einen Bauern verhaftet, der die Leiche des Unbekannten in den Windbruch transportiert hat.«

»Einen Bauern? Und wer hat da angerufen?«

»Ja, ein Bauer soll es gewesen sein. Und angerufen hat jemand, der sagte, er sei dein Arzt.«

»Also doch nur irgendeine miese Familiengeschichte?«

»Das weiß ich nicht, das hat er nicht gesagt.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Eifler Bauer so dämlich ist.« Ich marschierte an ihr vorbei geradewegs zum Telefon und rief den Arzt an. Statt einer Begrüßung sagte ich: »Tante Anni sagt, es sei ein Bauer gewesen. Ist das wahr?«

»Ja«, sagte er. »Zumindest ist ein Bauer verhaftet worden, in dessen Kofferraum die Leiche des Mannes gelegen hat.«

»Und wer ist der Bauer, und woher stammt er?«

»Das weiß ich noch nicht. Meine Flüstertüten sind noch nicht weiter. Geduld. Was haben Sie herausgefunden?«

»Gar nichts oder sehr wenig. Eine Frau ist nach dem Fund der Leiche am Windbruch aufgetaucht. Aber sie will nichts damit zu tun haben. Ein anderer Mensch, ich vermute ein Mann, hat mir eins mit dem Knüppel über den Kopf gehauen. Im Windbruch. Erkannt habe ich ihn nicht. Und jetzt ein Eifelbauer, der eine Leiche in den Wald karrt?«

Er lachte. »Sie glauben das nicht?«

»Ich glaube das nicht nur nicht, sondern ich möchte auch behaupten, dass Sie den Namen dieses Bauern haben. Ich weiß doch, wie Gerüchte laufen. Gerüchte ohne Namen gibt es nicht.«

Er seufzte und meinte schließlich resigniert: »Na gut. Ich weiß also, dass irgendwelche BKA-Leute aus Meckenheim bei Bonn diesen Bauern kassiert haben und verhören. Es ist der alte Nikolaus aus Mirbach.«

»Der olle Niklas? Sind die verrückt?«

»Wieso? Das Gerücht besagt, dass Niklas die Leiche transportiert hat. Was ist daran verrückt?«

Ich sagte: »Dieser Tote sollte gefunden werden. Angenommen, der alte Niklas hat eine Leiche auf dem Hals: Ich wette, er ist klug genug, sie so verschwinden zu lassen, dass sie wirklich verschwunden ist. Niklas ist meiner Meinung nach um einiges intelligenter.«

Er fragte: »Der Tote sollte gefunden werden? Hm, das könnte sein. Aber wer sollte ihn finden?«

»Gut gedacht, großer Meister. Wenn wir die Antwort darauf haben, wissen wir alles. Niklas war es nicht, der lacht sich wahrscheinlich einen Ast. Wie ist man auf ihn gekommen?«

»Das würde ich auch gern wissen«, meinte er und legte auf.

»Wieso bist du so misstrauisch?«, fragte Anni in meinem Rücken. »Du bist doch sonst nicht so!«

»Du redest immer noch von meinem Vater«, brüllte ich wütend. »Irgendwelche Geheimdienstfritzen haben den alten Bauern Niklas im Verhör, weil sie glauben, er habe die Leiche in den Windbruch geschleppt. Ha! Kennst du Niklas? Nein? Niklas ist intelligent genug, ihnen allen einen Bären aufzubinden.«

Sie sah mich an, kniff die Lippen zusammen und meinte dann müde: »Ich bin eine alte Frau. Und ich meine dauernd deinen Vater. Stimmt ja alles. Aber du übersiehst etwas: Das Bundeskriminalamt ist in dem Fall. Und wenn die drin sind, haben wir uns immer verzogen.«

»Das nützt doch mir nichts«, schimpfte ich zurück. »Ich bin sowieso pleite, verstehst du? Ich kann die Recherchen gar nicht finanzieren. Ich muss aussteigen.«

»Musst du nicht«, sagte sie leise. »Ich hab’ doch ein Sparbuch.«