6. Kapitel
Ich schaukelte mit der Ente direkt in die Garage, stieg aus und schloss das Tor hinter mir. Ich sagte: »Passen Sie jetzt auf: Da hinten in der Ecke ist eine Bodenluke. Sie steigen hinauf und kommen durch Heu und Stroh nach rechts zu einer alten Tür. Dann auf meinen Dachboden. Machen Sie schnell, und ich erkläre Ihnen auch, warum: Wahrscheinlich sind draußen irgendwo Leute vom BKA. Die achten darauf, dass weder ich noch andere Beteiligte und Unbeteiligte abgeschossen werden. Wenn die auch nur riechen, dass ich Sie erwischt habe, sind Sie fällig, und ich kann nichts mehr tun. Ich schließe das Garagentor von außen ab. Ist das klar?«
Er starrte mich an, und er sah ausgesprochen elend aus. Leise sagte er: »Ich kann doch nicht verraten, woran ich mein Leben lang geglaubt habe!«
»Sie sind kein Arschloch, Sie sind ein Riesenarschloch!«, sagte ich wütend. Ich zog das Garagentor auf, ging hinaus und schloss es hinter mir ab.
Anni stand in der Haustür.
»Ruf sofort den Arzt an«, sagte ich. »Sag ihm, ich sei krank.«
»Mein Gott, du bist ja klatschnass! Du kriegst eine Lungenentzündung oder so was! Wo ist der Mann?«
»Kommt über den Dachboden. Ruf jetzt den Arzt.«
»Ist der Mann verletzt?«
»Ja, das ist er wahrscheinlich auch. Aber vor allem hat er noch nicht die geringste Ahnung, dass seine Frau ermordet wurde.«
»O Gott!« Sie drehte sich herum und verschwand.
Clara tauchte im Flur auf. »Wie hast du das geschafft?«
»Ist doch egal. Fall ihm nur nicht um den Hals. Er hat von seiner toten Frau noch nichts gehört. Geh ihm aus dem Weg, geh in den Garten oder mach sonst was!«
Sie verschwand mit blassem Gesicht nach oben. Auf der Treppe sagte sie: »Wahrscheinlich dreht er durch.«
Ich antwortete nicht. Ich hockte mich in die Badewanne und ließ mir lauwarmes, dann heißes, dann kaltes Wasser über den Körper laufen. Ich war ganz starr vor Kälte und Anspannung.
Ich hatte die ganze Zeit auf die Tür gehört, die zum Dachboden führt. Als ich mich abtrocknete, wurde sie knarrend geöffnet. Ich ging auf den Flur, und einen Augenblick war Verblüffung in seinen Augen.
»Na, na. Ich denke, Sie wissen, wie ein nackter Mann aussieht. Gehen Sie hier hinein, es ist mein Schlafzimmer. Legen Sie sich hin. Und noch etwas: Es tut mir Leid, ich wollte Sie nicht so hart treffen.«
Er war vor Schmerz und Anspannung ganz grau im Gesicht. »Schon gut«, sagte er. »Ich habe auch etwas getan, was ich normalerweise wie die Pest hasse. Ich hasse Gewalt.« Er ging an mir vorbei, und seine Schultern hingen nach vorn durch, als habe er jeden Mut verloren.
»Ich habe einen Arzt gerufen.«
Er sah mich an und wollte protestieren. Dann aber murmelte er: »Wenn Sie es so wollen.«
»Ich will es so«, bestärkte ich.
Anni brüllte von unten wie ein Spieß: »Du trinkst jetzt erst einmal einen Kaffee und isst etwas. Willst du denn eine Lungenentzündung kriegen?«
Ich zog mich also an und hatte kaum meine Küche erreicht, als Dr. Saner kam und fragte: »Was hat er denn schon wieder angestellt?«
»Gar nix«, sagte ich. »Der Patient liegt oben in meinem Bett. Und Sie müssen ihm Valium spritzen.«
»Warum?«
»Weil … ach Scheiße! Erstens habe ich dem Mann in das getreten, was Hemingway dauernd als ›cojones‹ bezeichnet. Zweitens hat dieser Mann seine Frau verloren. Er hat nur noch keine Ahnung davon. Er weiß nicht, dass er sie durch einen Mord verloren hat. Mord mit einem Plastikgeschoss. Wahrscheinlich sollte gar nicht sie, sondern er ermordet werden. Deshalb Valium.«
»Er hat also auch mit dieser komischen Affäre zu tun?«, fragte der Arzt nachdenklich.
»Und wie!«, sagte Anni.
»Ich vergaß noch etwas«, setzte ich hinzu. »Der Mann wird von der Polizei gesucht. Und ich beabsichtige, ihn denen auszuliefern, sobald er uns seine Geschichte erzählt hat.«
Er stellte seine Tasche ab. »Moment mal, heißt das, dieser Mann ist der Mörder oder der vermutliche Mörder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist er vermutlich nicht, obwohl die Geschichte inzwischen so verworren ist, dass ich auch das nicht ausschließen kann.«
»Also, ich soll ihm eine Valiumspritze geben und ihm anschließend erzählen, dass seine Frau durch einen Mörder umgekommen ist. Sehe ich das richtig?«
»Ja«, sagte ich, »wenn das geht.«
»Da liegen Sie falsch. Ich bin Arzt und kein berufsmäßiger Überbringer mieser Nachrichten. Ich kenne den Mann nicht. Also kommen Sie gefälligst selbst mit, klar?«
Wir gingen also hoch zu Günther Schulze, und Dr. Saner sagte freundlich: »Ziehen Sie sich bitte ganz aus und bleiben Sie auf dem Rücken liegen. Wo sitzt der Schmerz? Können Sie ihn lokalisieren?«
Schulze antwortete: »Lokalisieren? Na ja, mir tut da unten alles weh.«
Ich hockte mich in einen Sessel und sah ihnen zu.
Mit einem schnellen Blick zu mir murmelte der Arzt: »Sagen Sie bitte Bescheid, wenn es zu weh tut. Aber ich muss versuchen, es zu tasten. In Ordnung?«
Er begann zu tasten, und Schulze sagte mehrmals erstickt: »O verdammt!«
»Eine ziemlich ausgeprägte Hodenquetschung. Ich spritze Ihnen jetzt ein Schmerzmittel. Sie werden sehr müde werden. Falls wir den Schmerz bis morgen nicht unter Kontrolle kriegen, muss ich Sie ins Krankenhaus schaffen. Sicherheitshalber zum Röntgen und so. Ist das okay?«
Schulze nickte. Dann sah er mich an. »Kann ich von hier aus meine Frau anrufen?«
Beinahe hätte ich geantwortet: »Lassen Sie das lieber sein«, aber dann sah ich keinen Ausweg und sagte leise: »Sehen Sie, ich wollte Sie unter anderem auch deswegen auftreiben und hierherbringen, weil irgendjemand hingegangen ist und Ihre Frau getötet hat. Sie müssen nicht glauben …«
»Machen Sie jetzt eine Faust!«, sagte der Arzt scharf dazwischen. Automatisch gehorchte Schulze. »So ist es gut. Jetzt piekt es kurz.«
»Was haben Sie gesagt?«, fragte Schulze tonlos.
»Ihre Frau ist tot. Ich habe sie gefunden. Heute Nacht, nein, gestern Abend.«
»Was sagen Sie da?« Seine Stimme war fast unhörbar.
Ich wiederholte es nicht.
Der Arzt bewegte sich jetzt schneller, fummelte in seiner Bereitschaftstasche herum. Dann wurde er hektisch. »Der Kreislauf sackt durch«, sagte er scharf. »Scheiße!« Schulze war totenblass, lag da, als wolle er aufgeben. Er atmete ganz flach und stoßweise.
»Ich habe das Doppelte der Normaldosis gespritzt«, meinte der Arzt. Er klang gereizt. »Er müsste in ein, zwei Minuten wieder an Deck sein. Verdammt, können Sie diese Scheißnachrichten nicht unterschlagen?«
Schulze bewegte sich matt, trat mit den Beinen, als hänge etwas Lästiges daran. »Wie ist das passiert?«, fragte er lallend.
Der Arzt klemmte sich das Stethoskop in die Ohren und horchte die Herzgegend ab. Dann fasste er nach dem Puls. »Gute Kondition«, sagte er.
»Selma, wirklich Selma?«, fragte Schulze laut, fast schreiend.
»Selma«, sagte ich.
»Und Beatrice? Unser Baby?«
»Alles klar«, sagte ich hastig. »Mit dem Baby ist alles klar.«
»Wie ist das passiert. Was ist da gelaufen? Wieso ist sie tot? Wie haben Sie sie gefunden?«
Ich sah den Arzt an, und als er nickte, berichtete ich, was sich zugetragen hatte. Ich fasste mich kurz.
»Aha«, murmelte er nur, sonst nichts.
»Haben Sie noch Schmerzen?«, fragte der Arzt.
Er schüttelte den Kopf. »Nichts mehr, ich fühle überhaupt nichts.«
»Ich komme in zwei Stunden wieder.« Er sah mich an. »Keine Aufregung mehr, egal was kommt. Er wird jetzt einschlafen.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach ich.
»Er wird«, sagte er scharf. »Ich habe ihm genug gespritzt, um eine Herde Elefanten umzulegen. Also gut, warten wir eine Weile.«
Wir hockten da und beobachteten Schulze und sahen, wie er gegen die Müdigkeit kämpfte und dann schließlich doch einschlief, wie er schlaff wurde und seine Züge die Kantigkeit verloren.
»Er ist ein guter Typ«, meinte der Arzt. »Was ist er? Ein Mörder, ein Spion?«
»Ein Spion, nehme ich an. Er kennt den Mann, der tot im Windbruch lag. Wie soll ich mich verhalten?«
»Er darf nicht aufstehen. Und er sollte jetzt nicht verhört werden. Auf keinen Fall. Geben Sie ihm ein paar Stunden Zeit. Ich komme in zwei Stunden wieder. Diese Schmerzen werden hartnäckig sein.«
Als er hinausging, sah ich Anni und Clara vor der Tür stehen. Ich winkte sie herein, und wir verabredeten, dass wir Wache an Günther Schulzes Bett halten wollten, jeder zwei Stunden lang.
Clara übernahm die erste Schicht.
»Du hast ziemlich große blaue Flecken im Gesicht«, stellte Anni fest. »Hat er dich verprügelt?«
»Ein bisschen.« Ich sagte ihr, was am Campingplatz geschehen war, und sie wiegte den Kopf hin und her und bemerkte: »Das sieht so aus, als könnten wir ein Stück mehr erfahren. Die Frage ist nur, wie viel Schulze wirklich weiß. Leg dich am besten auf das Sofa, du siehst todmüde aus.«
»Ich habe schon lange eine Frage, Anni. Bist du wirklich hierher gekommen, um mit mir zusammen einen Bauernhof zu erben?«
Sie schüttelte den Kopf und grinste. »Nicht die Spur. Ich bin hier, weil du sein Sohn bist. Dieser blöde Bauernhof war nur ein guter Grund.«
»Das ist sehr gut«, sagte ich, »ich habe nämlich etwas gegen Erbschaften dieser Art. Da fällt mir ein, dass Alfreds Auto noch am Campingplatz steht. Du lieber Himmel, er wird mich auffressen.«
»Kann man das nicht anders arrangieren? Ein Taxi mit zwei Fahrern?«
»Du bist wirklich ein Profi«, sagte ich erleichtert. Es ist zuweilen gut, eine Tante zu haben.
Ich legte mich hin und schlief sofort ein. Ich hatte einen ekelhaften Traum. Ich stand bis zum Hals in eiskaltem Wasser. Jemand schlug auf mich ein, und das Wasser hielt meine Arme fest. Ich konnte sie nicht einmal heben, um mein Gesicht zu schützen.
Clara rüttelte mich. »Günther ist wach, er hat irre Schmerzen.«
»Ruf den Arzt, er muss ihm eine Spritze geben.«
»Er will aber mit dir reden. Wegen Selma.«
»Ich gehe schon. Ruf den Arzt. Er soll kommen.«
Schulze lag zusammengekrümmt auf der Seite. »Sie müssen mir genau sagen, was geschehen ist.«
Ich wiederholte es, ich sagte es so kurz und bündig, wie es ging.
»Wie … wie sah ihr Gesicht aus? Hat sie Schmerzen … hat sie gelitten? Konnte man das sehen?« Sein Gesicht war wie aus Stein.
»Sie wirkte ruhig und friedlich. Ich denke, sie hat nicht eine Sekunde gelitten. Der Arzt kommt gleich.«
»Sie können mich allein lassen. Ich meine, ich laufe nicht … ich meine, Sie können mich ruhig allein lassen.«
»Sicher«, sagte ich und ging hinaus. Ich hockte mich vor die Tür neben das Bücherregal im Flur und hörte ihn weinen und toben und fluchen und schreien. Er rief dauernd den Namen seiner Frau, und er beschimpfte sie und nannte sie einen Feigling, weil sie gegangen war, ohne auf ihn zu warten. Dann wimmerte er: »Komm noch einmal zurück. Nur noch einmal, verstehst du? Was soll ich allein hier? Und was ist mit Beatrice? Ich bin doch nicht Mutter und Vater. Ohne dich bin ich nichts. Selma!«
Ich hielt mir die Ohren zu, aber ich hörte ihn. Dann klirrte Glas, und es war sehr still. Ich stürzte hinein. Er hatte ein Trinkglas zerschlagen und versuchte gerade, mit einer Scherbe an der Pulsader seiner linken Hand herumzuschneiden.
»Lass das doch, Junge, laß das doch!«, schrie ich.
Er hörte mich nicht, oder er wollte mich nicht hören. Als ich mich bückte, um ihn irgendwie zu packen, sagte Dr. Saner hinter mir scharf: »Lass mich mal!« Er stieß mich zur Seite, warf sich nach vorn und schlug Schulze voll ins Gesicht.
Schulze atmete erstickt ein und fiel auf das Kissen zurück.
»Tut mir Leid«, sagte der Arzt. »Liegen Sie jetzt ruhig, Sie kriegen eine Spritze.«
Schulze sagte kein Wort, starrte auf den Arzt und starrte in mein Gesicht, als habe er uns nie gesehen.
»Halten Sie ihn fest«, sagte der Arzt.
Ich hielt ihn fest, während er die Spritze bekam.
»Wir sollten ihn doch in ein Krankenhaus schaffen«, sagte der Doktor, während er das Handgelenk versorgte. »Das erscheint mir zu unsicher hier. Er wird vielleicht vollkommen ausflippen.«
»Kein Krankenhaus«, wehrte ich ab. »Da wird er ja doch bloß verrückt.«
»Aber dort können sie ihn fesseln und an eine Infusion hängen«, meinte er.
»Das erledigt doch nicht sein Problem«, widersprach ich.
»Aber keine Minute aus den Augen lassen«, sagte er schließlich mahnend.
Ich blieb hocken, während er ging, nachdem Schulze träge geworden und wieder eingeschlafen war.
Ich konnte selbst kaum noch die Augen aufhalten, als Anni den Kopf durch die Tür steckte und sagte: »Telefon. Der Herr Müller vom Bundeskriminalamt.«
»Lös mich ab.« Ich ging hinunter. »Baumeister hier.«
»Ist es richtig, dass Sie Günther Schulze aufgestöbert haben?«
»Richtig.«
»Wieso haben Sie mich nicht verständigt?« Er klang ausgesprochen sauer.
»Das hätte wenig Sinn gemacht. Der Mann ist voll im Schock, hat eine Hodenquetschung, hat erfahren, dass er seine Frau verloren hat, und steht unter starken Medikamenten.«
»Soll ich das glauben?«
»Das ist mir wurscht. Haben Sie den Mann namens Volker identifiziert?«
»Nein. Wieso hat Schulze eine Hodenquetschung?«
»Weil ich ihn treten musste«, sagte ich.
»Wo haben Sie ihn gefunden?«
»In Ahrdorf auf einem Campingplatz. Fragen Sie mich nicht, warum ich dort gesucht habe. Eigentlich war es ganz logisch. Ich habe Schulze noch nicht fragen können, warum er sich auf diesem Campingplatz verkrochen hatte.«
»Was halten Sie davon, wenn ich zu Ihnen rauskomme?«
»Ich wollte das sowieso vorschlagen. Dann muss er seine Geschichte nicht zweimal erzählen.«
»Wollen Sie wirklich journalistisch einsteigen?«
»Will ich. Aber ich warte, bis alles zusammengetragen ist. Wie geht es Vera Grenzow?«
»Gut. Wir haben sie in einem Hotel unter Kontrolle, an die kommt niemand heran.«
»Und was sagt sie?«
Er lachte ärgerlich. »Sie behauptet, von all diesen Vorgängen nichts, aber auch gar nichts erklären zu können. Sie sagt, sie versteht das alles nicht.«
»Glauben Sie das etwa?«
»Es kommt nicht darauf an, was ich glaube, Herr Baumeister. Ich brauche Hinweise und dann Beweise. Und wir können die Frau hier nur begrenzt festhalten. Ihr Anwalt holt sie nach fünf Minuten raus.«
»Haben Sie den Motorradfahrer erwischt?«
»Bisher nicht, aber wir haben ja auch zu wenig Anhaltspunkte. Was macht denn Schulze für einen Eindruck? Wird er sprechen?«
»Ich denke ja. Kommen Sie her.«
Ich ging hinter das Haus, und ich entdeckte zum ersten Mal seit Monaten wieder meinen alten Freund, den Kater Freundlich. Er war mit ziemlicher Sicherheit der Vater der fünf kleinen Katzen, die Krümel vor drei Jahren höchst elegant und geradezu locker zur Welt gebracht hatte – unter den Augen von mindestens zehn kleinen Kindern, die ich zu diesem Ereignis zusammengetrommelt hatte. Freundlich verhielt sich so, als habe er mich nach Jahren härtester Trennung endlich wiedergefunden. Er wand sich laut mauzend um meine Beine und störte sich nicht die Spur an der eifersüchtigen Krümel, die fauchend auftauchte und Anstalten machte, ihn zu verprügeln.
»Lass ihn«, erklärte ich ihr, »er kann dir keine Kinder mehr machen, du bist sterilisiert.« Ich beugte mich zu ihm nieder, und er hüpfte auf mein Knie, was mich leicht aus dem Gleichgewicht brachte.
Das war der Schritt zuviel, der Krümel so in Rage brachte, dass sie auf den Freundlichen losschoss, nicht erst drohte, sondern ihm rechts und links eins um die Ohren haute. Der Kater verlor die Nerven und flüchtete in weiten Sätzen.
»Es leben die Weiber!«, sagte ich. Und ich fühlte mich wieder stark genug, zu den anderen zurückzugehen.
Die Stimmung im Haus war gespannt. Wir sprachen einander nicht an, jeder malte für sich aus, was Günther Schulze erzählen würde – falls er überhaupt etwas erzählen wollte. Dann kam der Bundeskriminalbeamte Müller, stand auf meinem Hof, sah sich beruhigend um und erklärte mit sehnsüchtigem Unterton: »So könnte ich mir die Zeit nach der Pensionierung vorstellen.«
»Die Eifel ist hart, nichts für Pensionäre«, lachte ich.
»Wir bauen jetzt auf!«, sagte er entschuldigend. Er hatte vier Männer und eine Frau mitgebracht, die aus den offenen Kofferräumen der Dienstautos allerlei technisches Gerät ausluden. Mikrofone, Bandgeräte, tragbare Telefone und dererlei Kleinigkeiten mehr.
Anni stand dicht hinter mir. »Jetzt gibt es Stunk!«, murmelte sie. Dabei sah sie mich so an, als wolle sie sagen: »Los, gib’s ihm!«
»Augenblick, Herr Müller!«, sagte ich freundlich. »Das ist ein Eifler Bauernhof und kein Brückenkopf des Bundeskriminalamtes.«
»Wir wollen Schulze doch nur aufnehmen«, sagte er in einem Ton, als hätte ich ihn gerade furchtbar gekränkt.
»Das habe ich aber nicht so gern«, erwiderte ich. In dem Moment stolperte ein dicklicher Mann mit einem Haufen Mikrofone und den dazugehörigen Strippen an mir vorbei. Ich hielt ihn am Oberarm fest.
Er sah mich an, als wollte er sagen: »Pass auf, ich kann Kung Fu!«, aber dann merkte er, dass ich es ernst meinte, und sah seinen Chef ganz hilflos an.
»Die Ritter von der Heiligen Wanze kommen mir nicht in die Bude«, sagte ich laut und deutlich. »Zugelassen ist nur Herr Müller selbst. Als Gast. Nur mit einem Kugelschreiber und einem Blatt Papier.«
»Aber Sie sind doch für diesen Staat!«, sagte Müller, wieder freundlich.
Das sagen sie alle, das ist nicht mehr als blasser Standard.
»Ich mag die Demokratie«, sagte ich. »Aber dies ist mein Zuhause, und hier gilt das, was ich für demokratisch halte. Hören Sie ihm brav zu und nehmen Sie ihn dann mit.«
»Das finde ich gar nicht gut«, murmelte Müller.
»Ja, so ist das Leben.«
»Ich kann aber doch meine Kollegen mit hineinnehmen. Wir stören ja nicht.« Müller war etwas ratlos, denn eigentlich war er wirklich ein netter Kerl.
»Wir haben am Telefon abgemacht, dass Sie nur mithören. Ich weiß, dass Sie kraft Ihres Amtes mein Haus sogar stürmen können. Aber ich weiß auch, dass Sie kraft Ihres Charakters genau das eigentlich nicht wollen. Schicken Sie Ihre Hilfstruppe runter zu Markus und Mechthild, ein prima Lokal mit prima Bier. Ich schmeiße auch eine Runde.« Ich lächelte ihn an. »Und jetzt nenne ich Ihnen sogar den wirklichen Grund, weshalb ich nicht möchte, dass Sie aus meinem trauten Heim ein Tonstudio machen. Der Mann, um den es geht, ist sicherlich kein Mördertyp. Er mag ja ein Spion sein oder das, was man so dafür hält. Aber seine Frau wurde ermordet, und das hat ihn so geschmissen, dass er sogar versucht hat, sich ans Leben zu gehen. Da sollte man aus Gründen der Einfühlung ihm nicht sofort Mikros vor den Mund halten und ein hartes Interview durchziehen. Wenn Sie das arrangieren, sagt der Mann unter Umständen kein Wort. Verstehen Sie mich jetzt?«
»Das könnte sein«, nickte er. »Das könnte wirklich sein. Okay, wir machen es so, wie Sie vorschlagen.«
»Das finde ich aber nett von Ihnen, Kollege«, sagte Anni in meinem Rücken, und einen Augenblick lang war dieser nicht ganz leicht begreifliche Müller rot vor Verlegenheit. Dann drehte er sich zu seinen Leuten um und befahl: »Fahren Sie heim. Ich komme nach.«
Sie trollten sich, und ich richtete das Arbeitszimmer her. Schulze konnte auf der Couch liegen, ich würde die anderen um ihn herum drapieren und mich selbst so setzen, dass ich Schulzes Gesicht genau sehen konnte.
Müller kam herein. »So geht es nicht, Herr Baumeister, ich kann das nicht dulden. Ich wollte Sie nicht bloßstellen, Sie haben gut recherchiert, aber ich muss den Mann letztlich doch verhaften. Ich muss …!«
»Erst einmal müssen Sie mir zuhören. Haben Sie einen Haftbefehl?«
»Nein, brauche ich nicht. Bei Gefahr im Verzüge brauche ich den nicht.«
»Seien Sie behutsam, ja? Er ist krank, bitter krank.«
»Aber er ist ein Verräter, ein Spion. Er hat gegen unser demokratisches System ziemlich heftige Angriffe geführt, er hat uns sozusagen jahrelang in die Beine geschossen.«
»Lieber Himmel, wann lernt Ihr endlich, zu Euren Untertanen nett zu sein? Wenn jemand das Finanzamt bescheißt, ist er ein Held. Stellt jemand der Kripo ein Bein, ist er ein gefährlicher Straftäter. Setzen Sie sich, Anni macht Ihnen Kaffee. Sie kriegen den besten Platz und brauchen nicht einmal Eintritt zu bezahlen.«
»Sie sind ein … na ja, irgendetwas in der Art.« Er lächelte widerwillig.
»Anni, hol bitte den Schulze. Aber er soll langsam gehen.«
Dann wurde es sehr still. Krümel schnürte herein, sah sich um und hopste auf den Platz, den ich Schulze zugedacht hatte. Wir hörten, wie Anni auf der Treppe ›langsam, langsam‹ sagte.
Aber erst kam Clara durch die Tür. Sie hatte ein rot verheultes Gesicht und sagte kein Wort. Sie suchte sich den Sessel aus, der am weitesten von Schulzes Couch entfernt stand. Es würde ihr schwerfallen, von Schulzes Welt zu hören, in der sie gelebt hatte und von der sie in schrecklicher Naivität nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab.
Dann kam Schulze durch die Tür. Er war blass, aber bei unserem Anblick kam ihm ein jungenhaftes Grinsen, und das machte ihn sympathisch.
»Sie legen sich hin. Ich bin Baumeister, Journalist, das ist schon bekannt. Wer die Clara ist, wissen Sie besser. Das ist meine Tante Anni. Das ist der Herr Müller vom Bundeskriminalamt.«
Ich hatte das locker und flapsig gesagt, aber sein Gesicht nahm sofort einen harten Ausdruck an. Er sah uns der Reihe nach an und legte sich auf die Couch. Er sagte: »Ich bin noch sehr wacklig.« Dann drehte er sich auf die Seite und stützte sich auf den linken Arm.
»Ich möchte erst genau wissen, ob meine Selma leiden musste«, begann er.
Müller schüttelte energisch den Kopf. »Sie hat nichts gespürt.«
Schulze starrte gegen die Decke. »Ich verstehe das alles nicht.« Seine Stimme kam sehr leise, aber deutlich. »Also, was wollen Sie nun wissen?«
Ich sah, wie Müller den Mund aufmachte, und ich wusste, er würde hart reden. Ich stotterte dazwischen: »Mo… Mo… Moment. Ehe wir alle zusammen in Fragen ausbrechen, wollen wir eine Spielregel zur Kenntnis nehmen: Hier bin ich Hausherr, hier frage ich. Ist das okay?« Und ehe Müller widersprechen konnte, sagte ich. »Das ist fein, dass wir alle übereinstimmen. Lassen Sie es mich also so formulieren: Ich möchte, dass Sie Ihre Geschichte erzählen. Die Geschichte Ihres Lebens. Niemand, wirklich niemand wird Sie unterbrechen. Nur, wenn Sie Schmerzen haben, unterbrechen wir.«
Schulze schloss die Augen und nickte. Dann knickte der Arm, auf den er sich stützte, ab. Er legte sich auf den Rücken. Er starrte an die Decke und fragte: »Wo ist Beatrice?«
»Ihre Eltern sind auf dem Weg. Sie werden sich um das Baby kümmern«, sagte Müller sanft. Er war jetzt erstaunlich gut.
»Wie geht das nun mit mir weiter?« Er hielt die Augen geschlossen.
Dann war plötzlich ein hoher Ton im Raum. Wir zuckten alle zusammen und begriffen nicht, woher dieser Ton kam. Es war Schulze, der weinte, hoch und laut und völlig ungehemmt. Er wiegte sich in seinen Tränen hin und her, legte die Hände auf sein Gesicht. Ich sah, wie Müller die Augen schloss, und seine Wangenmuskeln arbeiteten. Clara begann wieder zu schluchzen, Anni saß mit vollkommen starrem Gesicht da, und nichts an ihr bewegte sich. Es dauerte viele Minuten. Dann sackte Schulze völlig zusammen und rang nach Atem. Ich drückte ihm ein Papiertaschentuch in die Hand, und er schneuzte sich laut und ausgiebig.
Draußen heulte ein Militärjet heran. Ich schätzte seine Höhe auf weit unter zweihundert Meter. Nachdem der Verteidigungsminister versichert hatte, diese tödlichen Hornissen würden jenseits der 300-Meter-Marke bleiben, waren die Eifler jedesmal froh, wenn sich ausnahmsweise eine von ihnen daran hielt. Diese hier jedenfalls nicht. Der Jet kreischte über das Haus hinweg. Krümel stieß die Tür auf, kam herein und fand, dass alles seine Ordnung hatte. Dann verschwand sie wieder.
»Wir wissen nicht, was Sie berichten werden«, sagte ich so freundlich wie möglich.
Er drehte sich vom Rücken wieder auf die Seite und lächelte matt. »Was erwarten Sie denn?«
»Ich bin völlig offen, für alles«, meinte ich. Ich begann mich zu ärgern, weil das Gespräch so nutzlos war.
»Ich habe gehört, dass man Leuten, die bereit sind, etwas Wichtiges zu sagen, entgegenkommt. Ich meine von seiten der Behörden.«
»Was wollen Sie?«, fragte ich zurück. »Haftverschonung? Eine neue Existenz?«
»Man könnte über so etwas später sprechen«, überlegte Müller. »Das kommt auf das an, was Sie wissen und zu berichten bereit sind.«
»Ich kaufe also die Katze im Sack?«, fragte Schulze misstrauisch.
»Reicht es denn, wenn ich vor Zeugen versichere, dass ich mich für Sie einsetzen werde?«
Ich begriff, dass dieser Müller deutlich gefährlicher war, als ich bisher angenommen hatte. Ich sagte schnell: »Wir haben ja nicht allzuviel Zeit. Irgendein Irrer geht herum und schießt Leute ab. Er wird nicht aufhören, bevor er erwischt wird.«
Aber er hörte mir nicht zu, er war ganz weit weg. Er murmelte: »Ich habe wirklich an den Marxismus-Leninismus geglaubt.«
»Ich mache Ihnen keine Vorwürfe!«, sagte Müller schnell.
»Ein Kommunist!«, sagte Clara erstickt. »Du bist also ein Kommunist?«
»Clara-Mädchen«, sagte er ganz zärtlich.
»Also Sie waren die Späher, die vorderste Linie, die Helden?«, fragte ich und bemühte mich um ein Lächeln.
»Ja«, sagte er, »das kann man so formulieren. Und wir waren wirklich gut. Was ich nicht begreife, ist die Tatsache, dass wir jetzt dafür bestraft werden sollen, dass wir für den Staat DDR waren.«
Ich erwartete eine Bemerkung von Müller, aber Müller kaute auf einem Kugelschreiber herum und machte sich eine Notiz.
»Mir sind die ganz Unschuldigen in diesem Falle«, sagte ich.
»Vielleicht mit Ausnahme von Herrn Müller. Er steht auf der anderen Seite des Zaunes. Aber meine Tante Anni und Clara und ich sind die Unschuldigen, die Naiven. Widmen Sie uns eine Geschichte?«
»Eine Geschichte oder die Wahrheit?«, fragte er schnell.
O ja, er war ein blendender Schachspieler.
»Ich kann Ihre Position verstehen«, sagte ich. »Die ist schlecht. Aber ich finde es sinnlos, uns einen Vortrag über Ihren Glauben an den Marxismus-Leninismus zu halten. Werden wir doch konkret: Sie haben bereits zugegeben, dass Sie es waren, der mich im Windbruch zusammenschlug. Warum waren Sie eigentlich dort? Der tote Volker war doch längst abtransportiert. Und wer bitte ist dieser Volker überhaupt?«
»Ich will erst ein paar Zusagen«, beharrte er.
»Sie bekommen Ihre Tochter, Sie dürfen mit Ihren Eltern sprechen«, sagte Müller. »Das kann ich verantworten.«
»Ohne Wanzen, Mikros, Video?«, fragte er.
»Das sichere ich Ihnen zu«, sagte Müller ernst. Seine Zugeständnisse sahen grandios aus, aber bei genauem Hinsehen hatte er nicht eine einzige Zusage gegeben, die er nicht lässig auf eigene Verantwortung vertreten konnte. Er war ein sehr sanfter, liberaler Typ, der noch nach zwölf Stunden unbeirrbar in seinem Sessel hocken würde, um einem tödlich erschöpften Schulze auch den letzten Nebensatz aus der Nase zu ziehen. Müller war einfach gut.
»In dieser aktuellen Sache, bei diesen scheußlichen Toten, kann ich aber nicht helfen«, sagte Schulze.
»Aber Sie haben doch Ahnungen, oder?«, fragte ich dazwischen.
»Was nutzen Ahnungen?«, fragte er dagegen.
»Lassen Sie mich, Herr Baumeister, eine Einleitungsfrage stellen?«
Müller war wirklich supersanft, Müller war geschmeidiger als Vaseline.
»Na sicher«, murmelte ich.
»Herr Schulze, etwas an dem Vorgang, in den Sie offenkundig verstrickt sind, scheint mir unerklärlich. Im Auftrag des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit und der Verwaltung Aufklärung des alten Ostberliner Verteidigungsministeriums arbeiteten etwa zweitausendsechshundert hauptamtliche und weitere rund zehntausend inoffizielle Mitarbeiter an der Gewinnung geheimdienstlicher Informationen bei uns in der Bundesrepublik. Wir wissen auch, dass jetzt immer noch rund sechshundert Ex-DDR-Spione unerkannt hier bei uns leben. Alle diese Leute bekamen zwei Befehle, als die Mauer fiel und die Wiedervereinigung nicht aufzuhalten war: Der erste Befehl war Schweigen, der zweite Befehl war, direkt und auf unbegrenzte Zeit unter Zerstörung aller Unterlagen und technischen Hilfsmittel schlafen zu gehen. Warum sind Sie nicht schlafen gegangen?«
Zum ersten Mal sah ich Schulze fast amüsiert lächeln. »Wir bekamen keinen Befehl, schlafen zu gehen, wir arbeiteten weiter.«
»Das ist aber seltsam«, sagte Müller gedehnt.
»Überhaupt nicht«, widersprach Schulze, »wirklich überhaupt nicht. Oder sind Sie etwa der Meinung, dass Spionage nicht mehr gefragt ist?«
»Arbeiten Sie für andere Herren?«, fragte ich.
»O nein«, antwortete er. »Sagen wir mal so: Wir arbeiten auf Vorrat.«
Anni räusperte sich. Sie hatte jetzt ein wirkliches Raubvogelgesicht. »Also Kinder, von dem ganzen Schmus verstehe ich nichts. Können Sie denn eine alte Frau einmal aufklären, was Sie so alles ausspionierten?«
»Na sicher«, meinte er großmütig. »Es ist ja wohl mein letzter Auftritt vor zivilem Publikum.«
»Das würde ich nicht so sehen«, sagte ich schnell. »Ich beabsichtige, über Sie zu schreiben!«
Sofort fragte er: »Mit wie viel Prozent bin ich dabei?«
»Günther«, platzte Clara dazwischen, »das bist doch nicht du!«
Schulze beachtete sie nicht. »Ich fragte nach den Prozenten und will eine Antwort. Schreiben Sie nur, oder machen Sie auch einen Film?«
»Fünf Prozent«, sagte ich. »Und kein Handel. Und jetzt verdammt noch mal erzählen Sie die Geschichte.«
»Das darf alles nicht wahr sein«, flüsterte Clara.
Anni murmelte: »Ich mach’ noch mal Kaffee«, und ging hinaus. In der Tür sagte sie: »Junger Mann, Sie sollten jetzt berichten und aufhören mit diesen merkwürdigen Scheinduellen. Das ist nicht komisch.«
»Sie bekamen also keinen Befehl schnellstens abzutauchen und still zu sein?«, fragte Müller skeptisch.
»Nicht die Bohne«, entgegnete Schulze. »Warum sollten wir denn aufhören? Da gab es zum Beispiel einen amerikanischen Kunststoffhersteller, der einige Verkaufsstrategien und andere Feinheiten kaufen wollte. Also, warum aufhören?«
»Ja, ja«, seufzte Müller.
»Die Geschichte!«, forderte ich. »Ihre fünf Prozent können Sie in den Schornstein blasen, wenn Sie nicht langsam anfangen.«
»Ich starte also«, sagte er; fast klang er gutgelaunt. »Wir kamen alle von der Ostberliner Humboldt-Uni, Vera Grenzow, Jürgen Sahmer und ich. Die genauen Datierungen unserer Einsätze brauche ich ja nicht zu geben, sie sind auch nicht wichtig. Als Erste kam Vera über die Grenze. In West-Berlin. Da war schon alles eingefädelt. Sie dürfen mich nicht fragen, wer das einfädelte. Sie bekam einen Job im Konzern in Leverkusen. Genau den Job, den wir brauchten. Bei Sahmer war das ein bisschen komplizierter, weil wir ihn dicht an Vera platzieren mussten. Er ging also in der Vorbereitung in das Zuchthaus in Bautzen – angeblich natürlich als politischer Häftling. Er wurde von der Bundesregierung freigekauft. Die Summe lag bei einhundertsechzigtausend Mark. Vera war genau informiert und sagte ihren Konzernherren, sie sollten sich um Sahmer bemühen, Sahmer sei klasse in seinem Fach. War er auch. Er war kaum über die Grenze, als er den Job bei Vera bekam. Ich kam als dritter. Ich kam als Flüchtling über Ungarn. Vor vier Jahren. Damit waren wir komplett.«
»Arbeitsziele?«, fragte Müller knapp.
»Das Übliche«, meinte Schulze. »Wir informierten uns konzernweit über Absatzmärkte, neue Marktstrategien, Rohstoffpreise, technische Neuerungen in der Fertigung, neue Patente, neue Maschinen.«
»Wie lautete Ihre Hitliste?«, fragte Müller knapp.
»Wir haben ausgerechnet, dass wir der DDR rund siebenhundert Millionen Dollar an Entwicklung und Investment erspart haben. In einem Fall konnten wir in China einen bestimmten Markt an Plastikbearbeitungsmaschinen zu fast hundert Prozent erobern. Das allein war ein Riesending. Aber so was rechnen wir eigentlich nicht mit, das fiel nebenbei mit ab.«
»Und nun zur Steuerung bitte«, sagte Müller.
»Wir brauchten nur selten Steuerung. Und wenn, dann durch …«
»Volker«, sagte Anni.
Schulze war offenkundig amüsiert. »Ja, richtig. Durch Volker. Aber Volker ist ein Deckname.
Und einen richtigen Namen gibt es nicht.«
»War der Volker ein Oibe?«, fragte ich. »Ein Offizier der Stasi im besonderen Einsatz?«
Schulze schüttelte den Kopf. »Nein, war er nicht. Er war ein unbekannter Agent. Er arbeitete nicht im Stasibereich, sondern im industriellen Sektor.«
»Wo da genau?«, fragte Müller dazwischen.
»Im Chemnitzer Bereich der Plaste- und Elastestoffe.«
»Kannten Sie ihn?«, fragte ich.
»Ja natürlich. Er kam einmal pro Sommer und einmal pro Weihnachten. Weihnachten gab es die Gratifikationen und Orden. Im Sommer gab es dann die Zielvorgaben, also unsere. Arbeiten.«
»Und wo trafen Sie sich?«
»Na ja, hier in der Eifel selbstverständlich. In unserer Bude in Mirbach.«
Es war einen Moment lang still.
»In Mirbach, direkt um die Ecke?«, fragte Clara schrill. Ihr Gesicht war totenblass.
»Aber ja, Clara-Mädchen. Direkt bei dir um die Ecke.«
»Welches Haus?«, fragte ich.
»Das letzte am linken Hang zum Lampertstal«, sagte er.
»Ein alter Bauernhof. Wir haben uns das Wohnhaus ausgebaut.«
»Wer war der offizielle Mieter?«, fragte Müller.
»Ich«, sagte er.
»Wie kamen Sie hin?«, fragte ich.
»Wir nahmen nie den Weg über die Autobahn Brühl-Euskirchen-Eifel. Wir kamen immer anders herum über die Autobahn Aachen, sozusagen von hinten.«
»Gut. Sie trafen sich also dort. Wie oft?« Müller war ganz kühl.
»Nur wenn es notwendig wurde. Insgesamt schätze ich sechs- bis achtmal im Jahr.«
»Und einmal im Sommer und einmal vor Weihnachten, zusammen mit Volker?«, fragte ich.
»So war es.«
»Wie sieht das mit zusätzlichen Verbindungsleuten aus?«, kam Müllers Stimme. »Wer waren die Helfer?«
»Niemand.« Das kam sehr schnell. »Nur wir drei und drüben Volker.«
»Aber Sie brauchten Helfer im Konzern, um an die Informationen zu kommen.«
Schulze nickte nachdenklich. »Ja, ja, das ist im Prinzip richtig. Aber sehen Sie, Vera hatte ja Kanter erobert. Im Bett meine ich. Und sie drehte es so, dass wir zusammen eine Firma machten. Die Konstruktion dieser kleinen Firma war so, dass wir den Leuten bei den Düngemitteln und Seifen und Pharmazeutika ständig die Bude einrennen durften. Denn wir hatten ja den Auftrag, ihre Produkte möglichst gut zu verpacken.«
»Also brauchte Kanter auch nicht sehr viel zu verraten?«, fragte ich.
»Nein«, stimmte er zu. »Kanter brauchte wirklich nicht viel zu liefern. Hin und wieder eine Zahl, aber das war auch alles. Kanter war ahnungslos, aber er öffnete uns den Konzern. Unsere beste Waffe war die Schnelligkeit. Wir wussten weit im Voraus, an welchen neuen Produkten die Tochterfirmen und die Konzernleitung bastelten, und wir bekamen den ganzen Hintergrund: Die Produktionsform, die Anlagen, das Produkt, die Preise. Wenn sie noch in den Versuchen steckten, hatten wir in der DDR bereits das Produkt. Falls Maschinen besondere Schwierigkeiten machten, kopierten wir auch die Maschinen oder die Konstruktionszeichnungen der Maschinen. Und außerdem«, er grinste wieder jungenhaft, »waren wir innerhalb des Konzerns eine kleine, gewinnbringende Einheit. Die mochten uns alle. Wir waren Kanters Lieblinge.«
»Wollen Sie etwa sagen, dass Sie ohne Kuriere auskamen, ohne Babysitter bei schwierigen Treffen?« Müller war erstaunt.
»Aber ja«, sagte Schulze, und jetzt wirkte er naiv. »Kuriere brauchten wir nicht, weil wir unsere Erkenntnisse in Privatpost verpackten und an ehemalige Studienfreunde schickten. Die kannten uns von der Uni her unter ganz anderen Namen. Von Beginn an. Unsere echten Namen haben wir erst hier in der Bundesrepublik gebraucht. Wenn wir Maschinenteile nach drüben verschicken mussten, lieferten wir die Teile wechselweise an verschiedene Im- und Exportfirmen unseres geliebten Schalck-Golodkowski in der BRD. Damit war der Fall erledigt.«
»Sie arbeiteten also ohne Netz und doppelten Boden«, stellte Müller fest. »Haben Sie sich nicht gewundert, dass Sie nicht schlafen gelegt wurden, als Deutschland sich wiedervereinigte?«
»Haben wir anfangs. Aber dann begriffen wir, wie klasse wir sind. Nicht nur für die DDR. Sondern auch für die Japaner, Franzosen, Amerikaner, Schweizer und so weiter.« Er war regelrecht stolz, sein Gesicht glühte ein wenig.
»Glauben Sie, dass über Ihre Gruppe eine Akte im Stasi-Archiv existiert?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht«, meinte er zögernd. »Ich kriege wieder Schmerzen. Kann der Arzt kommen?«
»Natürlich«, sagte ich. Ich hatte das Telefon noch nicht erreicht, als es klingelte und eine Frauenstimme bat: »Kann ich bitte Kriminaldirektor Müller sprechen?«
»Herr Müller, für Sie.«
Er hockte sich an meinen Schreibtisch und fragte knapp: »Ja?« Dann hörte er zu. Er legte den Hörer auf und schien verunsichert, aber er sagte kein Wort. Ich war sicher, dass dieser Anruf mit unserem Gespräch mit Schulze zu tun hatte, denn sonst hätten seine Leute ihn nicht gestört. Und ich hatte den Eindruck, dass Müller jetzt einen knappen, aber entscheidenden Vorsprung an Wissen besaß.
Er setzte sich wieder in den Sessel und goss sich Kaffee ein. »Jetzt zu den Morden«, meinte er.
»Ja«, sagte Schulze und wurde wieder ganz blass. »Jetzt zu den Morden.«
»Einen Augenblick«, widersprach ich. »Wartet, damit ich nichts versäume. Doktor? Baumeister hier. Können Sie kommen? Der Patient hat wieder Schmerzen.«
Er sagte, er käme sofort, und ich hockte mich wieder in die Runde.
»Die Morde kann ich nicht erklären. Mit Gewalt hatten wir nie etwas zu tun«, sagte Schulze und kniff die Augen zusammen.
»Aber Sie wurden doch regelrecht trainiert«, sagte ich. »Auch auf Gewalt.«
»Das ist schon richtig. Wir bekamen neben unserer Uni-Fachausbildung eine komplette Spionageausbildung. Von Geheimtinten bis hin zum Funken und den üblichen körperlichen Geschichten. Tödliche Faustschläge und so. Aber wir brauchten es nie, Intellektuelle sind ja so harmlos.« Er grinste über seinen Schmerz hinweg.
»Und eine Vermutung?«, fragte ich.
»Nicht einmal das«, sagte er.
»Aber Sie kennen diese Sorte Munition, nicht wahr?«, fragte ich nebenbei und sah ihn an, als habe mir ein guter Freund von ihm alles verraten.
Er senkte den Kopf, nickte und wirkte trübe. Leise meinte er: »Es war eine Spielerei. Also, die Chemiker in der DDR hatten den Stoff, dieses Plastikzeug. Aber sie hatten keine Maschinen, um ihn unter hohem Druck in Speziallack zu verschließen und auf diese Weise Geschosse oder anderes herzustellen. Volker kam und erläuterte das Problem. Das Problem war die Maschine. Sie konnten sie nicht bauen. Sie hatten keine Werkstoffe für die Maschine. Also ließen wir uns ein paar Kilo von dem Zeug schicken und versuchten, diese Maschine zu bauen. Es war wirklich eine Spielerei. Wir schafften es – natürlich. Und dann probierten wir die Dinger am lebenden Objekt.«
»Wie bitte?«, fragte Anni entsetzt.
Schulze sah mich an. »Nun, Empörtsein ist gar nicht angebracht. Zunächst haben wir bei dem Zeug weder in der DDR noch hier an richtige Geschosse gedacht. Wir hatten das Material und wussten nicht, wie wir es industriemäßig komprimieren können, um es zum Einsatz zu bringen. Irgendwer hatte eine kleine Anzahl dieser Geschosse gebastelt. Der Stoff an sich ist phantastisch, er bläht sich bei der Berührung mit der Außenluft um dreihundert bis vierhundert Prozent auf. Unsere Techniker in Chemnitz hatten die grandiose Idee, dieses Zeug zum Beispiel bei Gas- und Wasserrohrbrüchen zu verwenden. In den uralten Leitungsnetzen der DDR-Städte ist das der Alltag. Wenn ich diesen Stoff um ein Rohr jage, macht er es sofort dicht; das heißt, wir können jedes Leck in Sekundenschnelle abdichten. Das Zeug ist Millionen Dollar wert, gar nicht abzuschätzen. Na ja, wir kauften uns also drei Schweine. Auf dem Viehmarkt in Jünkerath. Wir brachten die Schweine in das Haus nach Mirbach und legten … na ja, wir schossen auf sie. Das Zeug drang in die Körper ein und blähte sie auf. Wir kriegten einen Schreck, aber wir begriffen sofort, was wir da hatten. Wir bauten die Maschine dafür und schafften sie in die DDR. Seitdem haben wir nie wieder etwas davon gehört. Eigentlich könnte nur Volker noch derartige Geschosse haben, aber der wurde selbst das erste Opfer. Und wir … wir waren starr vor Schreck. Das Verrückte war: Volker war nicht angemeldet, das heißt, er ist außer der Reihe gekommen und hat sich mit keinem von uns getroffen. Nicht mit mir, nicht mit Sahmer. Wir beide hockten zusammen über einer Verpackung für Nussriegel. Vera kann er auch nicht getroffen haben. Sie war auf einem Physikertreffen in Wiesbaden. Also, wen hat er getroffen, und wen wollte er treffen? Als wir Volkers Bild in der Zeitung sahen, wussten wir, dass irgendeiner gekommen war, um aufzuräumen. Ich verabredete mit Vera und Jürgen, dass wir sofort alle verräterischen Unterlagen verbrennen.« Er zuckte mit den Achseln. »Auf eine gewisse Weise ist es lächerlich, weil wir sämtliche Einzelheiten bis hin zu ganzen Versuchsreihen neuer Projekte im Kopf haben. Wir lernten das Zeug systematisch auswendig. Wir machten aus, dass wir jede Tätigkeit einstellen, bei jedem Kontakt toter Mann spielen. Jeder konnte frei entscheiden, das zu tun, was er wollte. Vera und Jürgen entschlossen sich, zu bleiben und aufmerksam zu sein. Ich sagte, ich tauche unter. Ich tauchte unter.«
»Warum denn ausgerechnet vor der Haustür von Clara?«, fragte ich.
»Das ist einfach zu begründen«, sagte er. »Clara ist die beste Sekretärin, die man sich vorstellen kann … Eine, die absolut keine Ahnung hat.« Clara weinte wieder. »Mach dir nichts draus, Clara-Mädchen. Also, sie war die beste Sekretärin, die man sich vorstellen kann. Ich versteckte mich in ihrer unmittelbaren Nähe. War sie in der Ferienwohnung in Ahrdorf, war alles okay, und ich konnte jederzeit zu ihr. War sie aber dort nicht, war es eigentlich noch besser. Die Wohnung liegt abseits, sie ist nicht kontrollierbar vom Vermieter, und man kann außergewöhnlich einfach und leicht durch einen alten Stall hineingelangen. Man kann also telefonieren, ohne dass irgendjemand nachprüfen kann, wo man steckt. Und ich bin zugleich ständig in der Nähe der Wohnung in Mirbach.«
»Genial«, murmelte ich. »So etwas in der Art habe ich erwartet. Wieso kam denn Sahmer von einer Minute zur anderen auf die Idee, Clara zu besuchen? Ohne Auto, irgendwie.«
»Ich vermute, er kam mit einem Taxi«, sagte er. »Wir hatten ausgemacht, dass jeder von uns ständig zweitausend Mark bei sich hat, um bei Fluchtbewegungen unabhängig zu sein. Aber mir ist unbekannt, weshalb er plötzlich flüchtete und dann in Ahrdorf erschossen wurde. Ich weiß es nicht. Und Vera weiß es auch nicht. Denn ich habe sie sofort angerufen.«
»Wo war Vera?«
»Als ich das erste Mal anrief, bei sich zu Hause. Später, am nächsten Tag dann in der Firma.«
»Was vermuten Sie?«, fragte ich.
»Ich kann nur vermuten, dass irgendetwas ihm panische Angst machte. Und er hatte dieselbe Idee wie ich. Er wusste: Clara richtet alles. Und sie hat mit all dem nichts zu tun. Also auf zu Clara! Das war sein Tod.«
»Warum ist Vera denn nicht geflüchtet? Was denken Sie?«
»Weil sie zäh ist, starr und hartnäckig. Wahrscheinlich wäre Jürgen Sahmer auch noch am Leben, wenn er nicht so eine blödsinnige Fluchtbewegung gemacht hätte.«
»Glauben Sie das ernsthaft?«, fragte Müller.
»Aber ja«, sagte Schulze. Dann sah er nachdenklich Clara an und meinte: »Wenn ich wie ein Schachspieler überlege, wäre eine Möglichkeit, dass Clara das so wollte: dass sie ihn erwartete und erschoss.«
Clara sprang hoch und schrie: »So ein Scheiß!« Dann war es sehr still.
»Ach Clara-Mädchen, sei nicht sauer. Ich habe eben nur überlegt, was ich als Schachspieler denken könnte. Ich spiele jetzt aber nicht Schach.«
Sie begann erneut zu weinen. Dann stand sie auf und sagte schniefend: »Ich mache noch mal Kaffee.« Sie ging zwischen uns durch, sah Schulze an und wurde ganz zärtlich. »Wenn du Armleuchter mir gesagt hättest, was los war, hätte ich euch gar nicht verpfiffen.«
Er versuchte unter Schmerzen zu lächeln, aber es wurde nichts daraus.
»Sie haben also die guten, jungen, erfolgreichen Kapitalisten gespielt?«, fragte Müller, und da war eine Spur Verachtung in seiner Stimme.
»Oh, nicht nur gespielt. Das war schon faszinierend. Das Einzige, was mich an diesen wind schlüpfrigen, modernen, jungen Erfolgreichen stört, ist ihr auf Faustgröße geschrumpftes Gehirn. Es war manchmal regelrecht schwierig, in einer In-Kneipe zu hocken und sich zwei Stunden lang über V8-Motoren zu unterhalten, obwohl keiner von denen wusste, wie so ein Ding eigentlich funktioniert.« Er lachte hart.
»Was war mit den Frauen? Mit Ihrer Frau? Mit Sahmers Frau? Wussten die etwas?«
»Die wussten nichts, absolut nichts. Grenzows Freund, also ich meine unseren Chef Kanter, hatte so wenig Ahnung, dass er ihr eines Tage ein ausgefuchstes Preisproblem bei Düngemitteln in Südamerika erklärte. Genau das gab unseren Freunden in der DDR die Möglichkeit, die Leverkusener satt und schnell aus dem Geschäft zu schmeißen. Nein, niemand wusste etwas.«
»Niemand außer Volker«, sagte ich.
»Tja, Volker«, sinnierte er. »Ich möchte wirklich wissen, zu wem er gehen wollte, wen er treffen wollte. Was wollte er zwischen Mirbach und Hillesheim in diesem zerstörten Wald?«
»War er denn in der Wohnung in Mirbach?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Dort war er auf keinen Fall. Wir haben jeden Quadratzentimeter untersucht. Dort war er nicht.«
»Wo kam er her?«
»Das weiß ich eben nicht«, sagte er. Es klang überzeugend.
»Wenn er in früheren Jahren kam, woher kam er dann üblicherweise?«
»Direkt aus dem Chemnitzer Industrieviertel. Er war offiziell Spezialist für Sondermüll. Er war einer der hohen Leute, die pausenlos mit westdeutschen Regierungsstellen verhandelten, um möglichst viel Geld aus unseren Mülldeponien zu schlagen. Er hatte als Spezialist das Recht, dauernd im Westen rumzukurven. Er war zeitweise mehr hier als in der DDR. Aber seinen Namen kannte ich nicht.«
»Volker war wirklich nur sein Deckname?«, fragte Anni.
»Mit Sicherheit«, sagte er. »Es kann aber keine Schwierigkeit sein herauszufinden, wie er wirklich hieß.« Er wurde lebhaft. »Ich gebe euch einen Tip: Ihr müsst einfach den früheren Sprecher des DDR-Innenministeriums fragen. Zeigt dem ein Bild von Volker, und ihr werdet bald wissen, wer er war.«
Der Arzt kam und schickte uns für zwei Minuten hinaus. Als er wieder ging, fragte er nicht sonderlich interessiert: »Haben Sie des Rätsels Lösung?«
»Mitnichten«, sagte ich ziemlich sauer.
Im Wohnzimmer atmete Günther Schulze tief durch und horchte in sich hinein. »Die Spritzen sind gut«, befand er. »Was wollen Sie noch wissen?«, fragte er müde.
»Alles. Deswegen werden wir uns etwa acht Wochen lang acht Stunden pro Tag unterhalten«, kündigte Müller an.
»Es war bis jetzt ziemlich enttäuschend«, stellte Anni fest.
Ich sagte: »Schreiben Sie Ihre fünf Prozent in den Wind. Bis jetzt ist Ihre Geschichte nicht einmal ein Prozent eines Fliegendrecks wert. Es ist höchstens ein Viertel einer Geschichte. Sie sollten mir wenigstens einen Trostpreis mit auf den Weg geben: Was ist mit diesem Motorradfahrer, diesem Lippelt, eurem Hausmeister?«
»An den habe ich auch gedacht. Aber der ist eben nur das Mädchen für alles. Ein Mann, der ununterbrochen dreckige Witze erzählt und die Wochenenden am Nürburgring verbringt. Er war immer stolz darauf, nur mit Doktoren zusammenzuarbeiten. Aber selbständig denken kann er nicht.«
»Was ist mit dem Bundestagsabgeordneten Sven Sauter?«, fragte Müller, sichtlich ermüdet.
»Der kreist als Trabant unermüdlich um Kanter und liebt kostenlose Saufereien und blonde kleine Mädchen.« Er war jetzt voller Verachtung und fragte plötzlich: »Was habe ich verkehrt gemacht, dass ihr so gelangweilt ausseht?«
Müller erklärte: »Ich glaube, dass es journalistisch betrachtet zunächst eine Null-acht-fünfzehn-Geschichte ist. Das ist es, was Baumeister sagt. Ich habe die undankbare Aufgabe, daraus eine Akte zu machen. Diese Akte ist bisher verdammt dünn.«
»Aber ich denke, die Leute im Westen stehen auf so was«, sagte er.
»Ja, das war richtig. Aber es gibt inzwischen zu viele dieser Geschichten«, erklärte ich. Dann wandte ich mich an Müller: »Darf ich fragen, was Sie erfahren haben?«
»Ich möchte einmal testen, wie gut Sie sind. Haben Sie eine Vorstellung, was es sein könnte?«
»Lassen Sie mich raten. Die Morde und ihr Motiv sind vollkommen ungeklärt. Wir haben Herrn Schulze, der lockig flockig eine eigentlich normale Geschichte erzählt. Und wir haben die Dr. Vera Grenzow, die die Erste unter Gleichen, sozusagen die Hebamme der Crew war. Sie können diese Dame gleich jetzt verhaften, aber ich fürchte, dass sie nach Lage der Dinge über diese brutalen Morde auch nichts weiß. Und da Sie nicht ans Telefon gestürzt sind, um sie verhaften zu lassen, als unser Freund Schulze die Gruppe geschildert hat, nehme ich also an, sie ist Ihnen entwischt.«
»Wie bitte?«, fragte Anni etwas schrill.
»Sieh an, die Vera«, meinte Clara staunend.
»So ist es«, nickte er. »Meine Leute waren mit ihr in einem Hotel. Eine Beamtin bei ihr, Männer in den Zimmern rechts und links von ihr. Sonst niemand auf dem Flur. Sie ist entkommen. Spurlos.«
»Das ist aber hübsch!«, strahlte Schulze.