3. Kapitel
Ich stand da, starrte aus dem Fenster, war stinksauer, und sie begann hinter mir zu weinen.
»Tut mir Leid«, sagte ich hastig, »tut mir wirklich Leid.«
»Du musst nichts mehr sagen. Wir müssen jetzt überlegen, was wichtig ist.«
»Wichtig ist die junge Frau Clara Gütt, der ich kein Wort glaube. Wichtiger noch ist der alte Bauer Niklas. Ich fahre zu ihm nach Mirbach.«
»Und was kann ich tun?« Sie fragte ganz demütig, sie fragte so, als bitte sie mich, sie nicht aus dem Haus zu werfen.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Überleg mal, ob mein Vater nicht nur klug und weise, nicht nur freundlich und humorvoll, sondern auch ein bisschen feige war.«
Sie starrte mich an und blinzelte verwirrt, schloss dann die Augen und senkte den Kopf. Sie murmelte: »Söhne bleiben immer Söhne.«
Ich ging hinaus und fuhr nach Mirbach.
Mirbach – wunderbar hingetupftes kleines Dorf am Eingang des Lampertstales, Wacholderheide, wie man sie schöner kaum irgendwo findet. Kunsthistoriker allerdings fangen ganz breit zu grinsen an, wenn sie den Namen Mirbach hören, und einige von ihnen schlagen sich vergnügt auf die Schenkel.
Das Dorf verfügt über zwei der wunderlichsten Bauten, die man auf deutschem Boden finden kann. Das eine ist die so genannte Erlöserkapelle, die nachts wunderbar angestrahlt als eine Art Disney-Insel in den Wäldern der Eifel schwimmt. Das andere Gebäude ist eine Burgruine – beide wurden von ein und demselben Mann gebaut.
Mirbach heißt Mirbach, weil dort das Geschlecht derer von Mirbach hauste. Allerdings besaßen sie dort nur zwei Bauernhöfe, die sie bereits 1559 verkauften. Sie verließen die Eifel. 1902 nun baute der Oberhofmeister der späteren Kaiserin Auguste Viktoria, Ernst von Mirbach, im Dorf seiner Ahnen die Erlöserkapelle, einen Wust an goldglänzenden Mosaiken, figuralen und ornamentalen Darstellungen, Säulen, Kapitellen, Rundbogenarkaden, umlaufenden Friesen und vielem mehr, kurz allem, was die Romantik für gut, angebracht und teuer hielt. Wenn man im Portal dieser schier unglaublichen Anhäufung steht, starrt man auf die Burgruine, die Ernst von Mirbach gleich mitbauen ließ. Ursprünglich war es ein Steinhaufen, bei dem man nicht genau wusste, was er einmal war. Aber der von Mirbach ließ sich von niemandem ausreden, dass es »der Stammsitz meiner Ahnen« sei, und er ließ von einem rührigen Bautrupp in den benachbarten Burgruinen (die echt sind) einiges an gutem Zubehör besorgen, um es in Mirbach zu einer eindrucksvollen Ruine zusammenzubauen. Touristen finden das Arrangement einfach toll.
Abseits dieser phantastischen Steinsammlung steht der Hof des Bauern Niklas. Niklas ist für seine Listigkeit berühmt; mit seinem harmlosen Grinsen trieb er selbst schon Bankbosse zur Verzweiflung. Ich klopfte gegen die Tür, weil Niklas von Klingeln nichts hält. Da stand er mit seinem von Wind und Wetter und einem langen Leben gegerbten Gesicht und sagte erleichtert: »Ach, du bist es nur.« Also hatten sie ihn zumindest nicht dabehalten.
»Hattest du erwartet, dass dich die Herren vom Bundeskriminalamt noch einmal holen kommen?«
Er war ein schmaler, leicht gebückter Mann, sicherlich älter als fünfundsiebzig Jahre, und er hatte sich die Eigenart angewöhnt, immer leicht von unten nach oben zu gucken, was täuschenderweise den Eindruck vermittelte, er sei scheu und hilflos.
Er antwortete nicht, er lächelte nur, hatte pure Belustigung in seinen klaren blauen Augen und sagte freundlich: »Kumm herinn!« Er schlurfte vor mir her in die Küche und hockte sich an den Tisch. »Wenn du einen Kaffee willst, musst du dir eine Tasse aus dem Schrank nehmen.« Er kurbelte sich eine Zigarette mit einer kleinen Maschine, zündete sie an und behielt sie zwischen den Lippen. Die Zigarette saß wie festgewachsen, und er würde sie nicht eher aus dem Mund nehmen, bis sie Millimeter vor den Lippen ausging. Niklas ohne Zigarette im Mund war nicht vorstellbar.
Ich nahm mir eine Tasse, goss sie voll und setzte mich. Ehe ich vorsichtig die erste Frage stellen konnte, murmelte er: »Du musst dir mal vorstellen, dass diese Kameraden von den Geheimen ihr Geld damit verdienen, dass sie dich in ein Auto laden, zu sich ins Büro fahren und dir dann so verrückte Fragen stellen, dass du selbst gar nicht darauf kommen würdest. Stelle dir vor, dafür werden die bezahlt, mit meinen Steuergeldern!« Er schüttelte den Kopf und grinste vor sich hin. »Und die werden ja nicht schlecht bezahlt. Da war einer von denen, so ein Glatzkopf – du lieber Himmel, der muss sich irgendwie für oberschlau halten. Der sagte: ›Also wir wissen, dass du die Leiche transportiert hast. Wir wissen eben nur nicht, warum. Und weil du ein netter Kerl bist, musst du nur sagen, warum du das gemacht hast, und dann kannst du sofort nach Hause.‹« Er prustete los vor Vergnügen und gleichzeitiger Empörung.
»Und was hast du geantwortet?«
»Was soll man da antworten? Ich habe nur dauernd ›ach ja?‹ gesagt, dauernd ›ach ja?‹«
»Was sollst du denn genau gemacht haben?«
»Also: Ich habe diese männliche Leiche in meinen Kofferraum geladen und zu euch da oben in den Windbruch geschleppt!«
»Allein?«
»Na ja, das wussten sie nicht so genau. Ich habe nur gesagt: ›Wenn Sie meinen, dass es so war, kann ich Sie nicht davon abhalten.‹«
»Und wie ging das weiter?«
»Na ja, ich habe sie nur gefragt, wie ich denn an die Leiche gekommen sein soll. Ich habe gesagt: ›Also, es war so, die Leiche kam draußen vorbeispaziert, ich habe sie geschnappt und in meinen Kofferraum geladen und in den Wald gefahren.‹ Da sagten sie, ich solle sie nicht verarschen. Die wussten wirklich nicht, was sie wollten.«
»Gut, du hast die Leiche nicht im Kofferraum gehabt …«
»Na wie denn? Oder bin ich so dumm und lade die dann einfach im Wald ab?«
»Nein, so dumm bist du nicht. Ich glaube auch nicht, dass du überhaupt irgendetwas mit der Leiche zu tun hast …«
»Wie denn auch? Und mit diesem Plastikscheiß, den die im Bauch hatte.«
»Niklas, ich will nur wissen, wie die Kriminalisten denn ausgerechnet auf dich gekommen sind.«
»Also, das habe ich mich anfangs auch gefragt, aber nun weiß ich es. Also, das Ganze fing damit an, dass ich für meinen Jungen eine Wiese gekauft habe. Rund sechs Ar. Und ich weiß, dass irgendeiner aus dem Dorf mir das schwer verübelt hat, bloß weil ich schneller war als der. Und da habe ich vor drei Tagen dem Jagdpächter eine tote Wildsau nach Hause gefahren. Die war noch nicht ausgeblutet. Jedenfalls hatte ich das Tier auf einer alten Wolldecke hinten im Wagen liegen. Da ist Blut auf die Decke gelaufen. Und dieser Nachbar hat das irgendwie spitzgekriegt und die Polente gerufen. Und die haben dann gleich im Bundeskriminalamt angerufen.«
»Das mit dem Nachbarn – haben die das gesagt?«
»Ja. Nicht freiwillig, aber ich habe sie ein bisschen rausgelockt und mich wütend gestellt und gedreht, ich würde dem eine Mistgabel in den Bauch rammen. Und dann haben sie gesagt, ich soll nicht sauer sein, der Mann hätte ja nur seine Pflicht als Bürger getan.«
»Also waren die auch noch …«
»Richtig, dumm waren sie auch noch. Sie haben mich dann nach Haus gefahren. Und sie haben gesagt, wenn ich einen Arbeitsausfall hätte, sollte ich ihnen die Rechnung schicken. Was meinst du, wie viel soll ich denen berechnen? Das waren ja zehn Stunden.« Er sah mich verschlagen grinsend an, und in seinen Augen ratterte eine Registrierkasse.
»Stell denen Meisterstunden in Rechnung. Die kosten sechzig Mark, dann kommst du auf sechshundert und kannst etwas damit anfangen.«
Er strahlte und meinte vergnügt. »Das mach’ ich, das mach’ ich.« Niklas war eben einer jener alten, knorrigen Eifelbauern, die Jahrzehnte ihres Lebens damit verbracht haben, morgens um vier aufzustehen, mit einem Langholzwagen in die Wälder zu fahren, Stämme auf den Wagen zu wuchten und dann quer durch die Eifel dreißig Kilometer bis nach Adenau in die Sägemühle zu trecken. Niklas war jemand, der sehr genau wusste, was die Mark wert ist. Und zufrieden fühlte ich, dass er die Kriminalbeamten bluten lassen würde.
»Sie haben dich lange verhört, du musst dabei doch einiges mitgekriegt haben, was diese komische Leiche anlangt. Was haben sie denn so gesagt?«
»Also, sie haben gesagt, dass sie noch immer nicht wissen, wer der Tote ist. Und dann haben sie gesagt, sie hätten keinen Menschen gefunden, der den Toten jemals gesehen hätte. Und sie sagten auch, das hätte wohl etwas mit der ehemaligen DDR zu tun. Dann wurden sie aufgeregt. Dann kam nämlich so ein junger Typ in das Büro und sagte ganz zappelig, sie hätten jetzt einen zweiten Plastikfall. Dann sind sie alle rausgerannt, und kein Mensch wollte sich mehr um mich kümmern.«
»Hat irgendeiner erwähnt, wo dieser zweite Plastikfall ist?«
»Ja, der Fahrer von dem Auto, was mich zurückbrachte, war so ein junger Wichtigtuer, der keine Ahnung hat. Den habe ich gefragt, wo diese zweite Leiche denn ist. Und er sagte was von einem Wald in Ahrdorf. Also hier um die Ecke. Das muss drei Stunden her sein.«
Ich dachte sofort an diese merkwürdige Frau namens Clara Gütt, bedankte mich nicht, rannte einfach hinaus. Bis Ahrdorf waren es lächerliche sechs Kilometer, und ich fuhr sehr schnell. Ich tippte auf die Waldungen zwischen Ahrdorf und Ahütte und behielt recht.
Kurz vor der Abbiegung nach rechts in das Unkental geht ein Waldweg steil in die Hügel hinauf. Dort stand ein Polizeiwagen, dessen Blaulicht kreiste. Dahinter ein zweiter, ein dritter und drei zivile Pkw. In Gruppen und Grüppchen standen Uniformierte und Zivilisten herum, diskutierten und sahen zum Waldrand hin. Ich holte das Schild ›Jagdschutz‹ aus der Ablage und heftete es an die Frontscheibe. Dann bog ich bei den Polizeifahrzeugen in den Weg ein und rumpelte weiter. Niemand stoppte mich, niemand brüllte Ungehöriges, die Uniformierten hoben freundlich die Hand. Hast du ein Schild, bist du in Ordnung.
Im Schatten der Bäume standen sechs Männer in Zivil um ein Bündel herum, das hinter einem niedrigen Eichenbusch lag. Sie machten allesamt einen melancholischen Eindruck. Ich hob die Hand, hielt an und sagte forsch: »Sie haben nichts dagegen, dass ich hier durch muss?«
»Nein«, sagte einer von ihnen, ein Mann, der so griesgrämig aussah, als habe er Magengeschwüre.
»Was haben Sie denn da?«, fragte ich und stieg aus.
»Einen Toten. Diesmal wenigstens mit Papieren«, sagte ein kugeliger Dicker in grauem Zweireiher. Dann starrte er ängstlich auf seine Schuhe, weil er sie wahrscheinlich dreckig gemacht hatte. Er versuchte, sie an einem Grasbüschel sauber zu putzen. »Sind Sie heute Morgen auch hier durchgekommen?«
»Nein«, sagte ich.
Der Tote hinter der Krüppeleiche lag auf dem Rücken. Er war ein großer, athletisch gebauter Mann, nicht älter als vielleicht vierzig Jahre. Sein weißgraues Gesicht war vollkommen verzerrt in grellem Schmerz und ungläubigem Staunen.
»Wie der im Windbruch«, sagte ich.
Der Schuss hatte den Mann tief in den Unterleib getroffen. Das aufquellende Plastikmaterial hatte die Hose gesprengt. Es sah widerwärtig und obszön aus.
»Was heißt das?«, fragte der Dicke misstrauisch. »Haben Sie den im Windbruch von Hillesheim auch gesehen?«
»Ja, natürlich«, sagte ich.
»Der Herr arbeitet für die Forstbehörde«, erklärte der magere Magenkranke. »Er wird das schon beruflich erfahren haben.«
»Das ist es eigentlich nicht«, sagte ich gemütlich. »Den im Windbruch habe ich gefunden.« Ich holte die Nikon aus der Tasche und fotografierte den Toten.
»Dann sind Sie der Baumeister?«, fragte der Dicke schrill. »Fotografieren verboten. Und darüber zu schreiben ist auch verboten!«
»Ich habe bis jetzt kein Wort geschrieben«, sagte ich freundlich. »Und solange ich nicht mehr weiß, kann ich auch nicht schreiben.« Ich fotografierte den Toten weiter, und der Hagere sagte erschreckt: »Lassen Sie das doch, um Gottes willen!«
»Nur fürs Archiv«, erklärte ich und machte mich auf den Rückzug.
»Moment mal«, protestierte der Dicke scharf, »wieso fahren Sie das Schild Jagdschutz mit sich herum?«
»Weil wir hier im Sommer darauf achten müssen, dass dumme Touristen keine Feuerchen machen«, erklärte ich. Ich setzte mich in mein Auto und rumpelte den Waldweg weiter hoch, während sie mir nachsahen und offenkundig keine Vorstellung davon hatten, was sie von mir halten sollten.
Es war, wie ich gedacht hatte: Auf der Kuppe des Hügels neigte sich der Waldweg in scharfen Schleifen ins Tal. Und unten, vierhundert Meter weiter, lag der kleine alte Bauernhof, in dem Clara Gütt ihre Ferienwohnung hatte. Ich ließ den Wagen langsam hinabrollen und bereitete mich auf diese Frau vor. Diesmal wollte ich nicht hinnehmen, dass sie von alledem nichts wusste, nie gehört hatte, zufällig hineingeraten war. Ich war wütend und sauer und hätte nicht einmal sagen können, auf wen.
Ich parkte auf der Straße und schellte bei ihr. Dabei beobachtete ich eine Gruppe älterer Männer, die offensichtlich über die Leiche im Wald sprachen, weil einer von ihnen immer wieder den Waldhang hinaufdeutete.
Sie öffnete die Tür und sagte ohne Einleitung seltsam friedlich: »Sie kommen eher, als ich Sie erwartet habe. Ich dachte: Er kommt morgen.«
»Ich möchte noch einmal versuchen, mit Ihnen zu sprechen.«
»Sie sind sauer auf mich, nicht wahr?«
»Man kann es so nennen. Kochen Sie uns einen Tee oder einen Kaffee?«
Sie nickte, drehte sich herum und ging vor mir her die Treppe hinauf. Diesmal trug sie einen sehr bunten Flickenrock, und sie hatte hübsche Beine und machte weit ausgreifende Schritte wie eine Leichtathletin.
»Kaffee oder Tee?«
»Dann Tee, bitte. Was wissen Sie nun über den Toten hinter Ihrem Haus?«
Sie drehte sich zur Kochplatte herum und murmelte fast unhörbar: »Den kenne ich. Der war ziemlich sicher auf dem Weg zu mir.«
Ich sagte höflicherweise »aha« und schwieg dann, weil mir nichts Gescheites einfiel.
»Ich glaube, ich muss das erklären«, sagte sie endlich und fummelte mit einem kleinen Löffel und einer Teetüte herum. »Wie haben Sie denn davon erfahren?«
»Der alte Niklas in Mirbach sagte es mir. Was wollte der Tote bei Ihnen?«
Sie drehte sich zu mir herum und lächelte mager. »Schutz wollte er wohl.«
»Schutz? Schutz, wovor?«
»Vor dem Tod, denke ich, oder?«
»Hätten Sie ihn denn schützen können?«
Sie sah auf den Boden und schüttelte den Kopf. »Wohl kaum.«
»Wieso kam er auf die Idee, dass ausgerechnet Sie ihn schützen würden?«
»Er war hilflos und hatte Todesangst. Zu Recht, oder?«
»Der Teetopf läuft über«, mahnte ich.
»Danke.« Sie drehte sich um und stellte das kochende Wasser ab. »Das ist alles total verrückt«, murmelte sie. Sie klapperte mit den Tassen und machte den Eindruck, als sei sie eigentlich nicht hier, sondern ganz weit fort in einer anderen Welt, in anderen Begebenheiten. Endlich setzte sie sich mir gegenüber. Sie musste einen langen Anlauf nehmen, um darüber zu sprechen.
»Also der Tote da oben im Wald ist mein Chef. Er ist Chemiker. Sein Name ist … war Dr. Jürgen Sahmer. Er ist achtunddreißig Jahre alt.«
»Wie kommen Sie auf die Idee, dass er ausgerechnet auf dem Weg zu Ihnen war? Oder hatten Sie etwas miteinander?«
Sie lächelte flüchtig. »Nein, wir hatten nichts miteinander. Aber er war einer der ganz wenigen, die gewusst haben, wo meine Wochenendbleibe ist.«
»Woher wissen Sie denn, dass er es ist?«
»Ich habe ihn mir angeschaut«, sagte sie einfach und war dabei ganz weiß im Gesicht. »Es war heute morgen, als die Leute sagten, der Revierförster habe oben eine Leiche gefunden. Und da sind alle raufgerannt in den Wald. Ich natürlich mit.«
»Und dann?«
»Nichts. Ich habe ihn erkannt, ich habe nichts gesagt, ich habe mich hierher geflüchtet. Und seitdem denke ich darüber nach, was da passiert sein könnte. Ich fasse es nicht, ich fasse es wirklich nicht.« Sie fing an zu weinen, aber ihre Augen waren groß und rund in all dem Kummer.
»Was ist mit dem Toten in dem Windbruch? Wieso sind Sie dort aufgetaucht?«
»Ich habe wirklich gedacht, der sei der Freund einer Bekannten. Aber er scheint es nicht zu sein. Die Bekannte hat jedenfalls auf meine Frage gelacht und geantwortet, er lebe noch, und soweit sie wisse, gehe es ihm gut.«
»Haben Sie über das grässliche Plastikzeug nachgedacht?«
»Ja, natürlich. Ich kann mir keinen Reim darauf machen.«
»Wollen Sie nicht von Beginn an erzählen?«
»Was meinen Sie damit?«
»Nun ja, erst ein Unbekannter, dann Ihr Chef, alles vor der Haustür und jedesmal mit der Plastikmasse. Sie sollten mir also sagen, wo Sie arbeiten, was Sie arbeiten, woher Ihr Chef kam, und so weiter.«
»Ach so, ja natürlich.« Sie stand auf, setzte sich wieder und zog die Beine unter den Körper. Sie schauderte zusammen, weil sie fror.
»Wir, also der Betrieb, in dem ich arbeite, sind ein Ableger von einem Chemiekonzern, Leverkusen und so. Wir sind eine kleine, feine Firma in Nord-Düsseldorf zwischen dem Rhein und dem Lohhausener Flughafen. Wir machen Verpackungen, Verpackungen für Pralinen, Parfüms und Uhren und so ein Zeug. Sahmer war unser aller Chef. Dann gibt es da noch eine Physikerin, Dr. Vera Grenzow. Sie ist vierzig Jahre alt. Dann gibt es außer Sahmer noch einen Papierspezialisten. Das ist der Günther Schulze. Der ist sechsundzwanzig Jahre alt, glaube ich. Wir sind eine richtig gute Truppe, wir arbeiten seit acht Jahren im Team, und das Geschäft wächst und wächst und wächst.«
»Moment mal, was für eine Sorte Verpackungen machen Sie denn?«
»Edle Verpackungen. Wir kriegen die Aufträge von Firmen, die irgendwelche neuen Produkte auf den Markt bringen. Und wir denken uns dann eine möglichst elegante Verpackung aus, so mit allem Drum und Dran. Kennen Sie diese raffiniert geformten neuen Parfümflaschen zum Beispiel? Wir formen auch die Glasflaschen, dann formen wir aus Pappe und Papier und anderen Stoffen die Verpackungen für diese Flaschen. In einem Luxusland ist das ein phantastisches Geschäft.«
»Gut. Das habe ich jetzt verstanden. Wie fing denn alles, was Sie sich nicht erklären können, an?«
»Es fing damit an, dass der Papier- und Druckspezialist, der Günther Schulze, plötzlich verschwand. Er tauchte weder zu Hause noch irgendwo auf. Das war vor sieben Tagen. Seine Frau weiß nichts von ihm und hat keine Ahnung, wo er abgeblieben sein kann. Er hat den Betrieb abends gegen siebzehn Uhr verlassen und ist zu Hause nicht angekommen. Wir erstatteten von der Firma aus eine Vermisstenanzeige bei der Düsseldorfer Kripo. Bis heute haben die keine Spur von ihm, ich telefoniere jeden Tag mit dem Büro. Dann, vor einer Woche, ging ich hierher, um ein bisschen abzuschalten. Wir hatten viel gearbeitet. Dann las ich in der Tageszeitung von dem Toten im Wald von Hillesheim. Ich hätte schwören können, dass ich den Mann kannte. Jedenfalls fuhr ich also in den Windbruch. Wenn ich ganz ehrlich sein …«
»Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Sie sind mir zu schnell. Sie haben vergessen zu berichten, woher Sie den Toten kannten. Darf ich mir Notizen machen?«
»Ja. Wollen Sie etwas veröffentlichen?«
»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich es tue, erfahren Sie es vorher. Woher kannten Sie also den Toten?«
»Sie müssen wissen, dass wir als Team alle ziemlich gute Freunde waren. Die Vera Grenzow zum Beispiel ist meine Chefin, weil ich die Sekretärin bin, aber sie ist auch meine Freundin. Sie wohnt am Rand der Düsseldorfer Altstadt in einem Penthouse. Es war Weihnachten; am ersten Weihnachtstag war ich bei ihr eingeladen. Wir tranken Kaffee und aßen Kuchen, als es schellte. Es war dieser Tote, der vor der Wohnungstür stand.« Sie hielt inne, schloss die Augen und nickte dann energisch. »Ich wette, es war dieser Tote! Vera stellte ihn mir als lieben alten Freund vor. Weil ich nicht stören wollte, verabschiedete ich mich. Als jetzt dieser Mann tot im Wald lag, rief ich Vera natürlich an. Sie sagte, sie wäre auch ziemlich erschrocken gewesen, als sie sein Foto in der Tageszeitung fand. Aber es sei eben bloß ein Toter, der ihm zur Verwechslung ähnlich sehe. Sie habe den Freund angerufen, ihn auch erreicht, und er sei quicklebendig und es gehe ihm gut.«
»Kann es denn nicht sein, dass diese Vera lügt?«
»Nein. Vera? Nein, das glaube ich nicht. Warum sollte sie lügen, sie hat doch keinen Grund!«
»Wo ist diese Vera Grenzow jetzt?«
»In Düsseldorf, zu Hause bei sich. Oder vielleicht in der Firma, ich weiß es nicht. Gestern jedenfalls rief mich mein zweiter Chef, also Dr. Sahmer, hier an und sagte mir sehr aufgeregt, er müsse mich sprechen. Ich fragte, wieso, aber er wollte mir am Telefon nichts sagen. Er sagte noch, ich solle hier auf ihn warten. Das nächste war dann … na ja, ich sah ihn als Toten wieder.«
»Haben Sie denn in der Firma irgendetwas mit Plastik zu tun?«
»Nein. Das ist es ja eben. Natürlich gibt es hier und da bei Verpackungen Plastikstreifen oder Plastikeinsätze, wenn man zum Beispiel Parfümflaschen vor Transportschäden bewahren will.«
»Und was denken Sie jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe einfach Angst. Wieso tut Sahmer plötzlich so geheimnisvoll und will mich sprechen? Und wieso will er am Telefon nicht darüber reden? Und wieso wird er dann umgebracht? Das macht mir Angst!«
»Sie sprechen mit mir, weil Sie Angst haben?«
»Ja, natürlich. Mit irgendwem muss ich ja sprechen.« Sie sah mich eindringlich an. »Kann es nicht sein, dass ich etwas weiß, was ich eigentlich nicht wissen darf? Und kann es nicht sein, dass ich gar nicht weiß, was ich weiß und …«
»Beruhigen Sie sich. Sie haben Recht. Vielleicht wissen Sie etwas, was Sie nicht wissen. Vielleicht stoßen wir in den nächsten Tagen darauf. Packen Sie eine Tasche. Das Nötigste. Ich warte unten. Sie müssen hier heraus.«
»Muss ich nicht zu diesen Leuten von der Polizei und ihnen sagen, dass der Tote mein Chef ist?«
»Das mache ich per Telefon. Keine Angst.«
Wir fuhren fünf Minuten später, und sie saß verkrümmt und angstvoll neben mir, starrte aus dem Fenster und sagte kein Wort.
Anni hockte wie ein Uhu auf meinem Buchenholz, und als Clara ausstieg und guten Tag sagte, meinte sie nur: »Ich wusste doch, dass er nicht dauernd abstinent lebt.«
»Moment mal«, sagte ich hastig. »Wir haben jetzt eine zweite Plastikleiche. Und diese Leiche war ihr Chef. Das ist Clara Gütt, das ist meine Tante Anni.«
Sie gaben sich zögerlich die Hand und betrachteten einander misstrauisch. Dann sagte Anni schroff: »Wie ich ihn kenne, dürfen Sie hier …«
»Sie schläft im Arbeitszimmer auf der Couch«, sagte ich. »Du solltest dir anhören, was Clara zu sagen hat.«
»Kann ich duschen?«, fragte Clara.
»Na sicher«, sagte ich. »Im ersten Stock, geradeaus.«
Anni sah hinter ihr her und fragte: »Glaubst du ihr? Und was hat sie gesagt?«
»Komische Geschichte. Aber ich glaube ihr.« Ich sagte ihr, was Clara Gütt erzählt hatte, und Anni schnaufte nur und kommentierte: »Das ist alles ziemlich unlogisch, oder?«
»Sei kein Drache. Ich glaube schon, dass sie Angst hat.«
»Angst? Vielleicht will sie dich nur rumkriegen. Du bist doch ein Mannsbild, oder? Und sie ist ein Vamp!«
»Ach, Anni. Mich hat die nicht nötig. Was hältst du von der zweiten Leiche? Ist das nicht komisch?«
»Wir sollten rausfinden, wer derartige Geschosse machen kann«, überlegte sie. »Es gibt wohl nur einen Schlüssel: diese Plastikmasse. Vielleicht läuft irgendein Verrückter herum?«
»Anni, denk an das Bundeskriminalamt. Die sind drin. Und weshalb sind sie drin? Und wieso der Hinweis auf die DDR, die ehemalige DDR?«
»Die beliebteste Spielwiese des Bundesnachrichtendienstes war die DDR, das feindliche deutsche Ausland, solange es existierte. Vielleicht wollen die etwas reparieren.« Dann verzog sie den Mund. »Junge, geh raus aus der Sache, das ist nicht gut.«
Von oben kam das Plätschern der Dusche.
Anni sagte: »Du glaubst doch nicht, dass die da oben so unschuldig ist, wie sie tut?«
»Nein, das glaube ich nicht. Aber hier im Haus muss sie Auskunft geben, hier kann sie nicht weglaufen, nicht wahr?«
Anni strahlte plötzlich und meinte: »Du Sauhund, min Jung!« Dann setzte sie hastig hinzu: »Ich mache uns einen Kaffee. Ich habe übrigens nachgedacht über das, was du von deinem Vater gesagt hast. Wieso glaubst du, dass er ein Feigling war?«
»Weil er sich immer weigerte, mit mir zu streiten. Er weigerte sich überhaupt, mit irgendeinem Menschen Streit zu haben. Irgendwann hat er sogar versucht, die Tötung von sechs Millionen Menschen mit fehlgeleiteten Hassgefühlen zu entschuldigen.«
»Das ist nicht wahr.«
»Das ist wahr. Jetzt mach uns den Kaffee und lass uns darüber schweigen.«
Ich ging hinaus, um das Haus herum in den Garten. Was hatte ich schon? Einen unbekannten Toten, einen sehr wohl bekannten Toten, dessen lebende Sekretärin und einen vagen Hinweis auf die ehemalige DDR. Dann noch einen verschwundenen Druck- und Papierspezialisten. Wahrscheinlich hatte ich es tatsächlich mit dem BND zu tun, der niemals irgendwelche Auskünfte gibt. Dann gab es diese Plastikmasse, angeblich Geschosse, die sich nach Aufprall und im Zusammenspiel mit Sauerstoff grauenhaft aufblähten. Das konnte der Grund sein, weshalb der BND im Spiel war. Was hatte ich also? Nicht viel, entschieden zu wenig, um irgendeinen Plan zu fassen. Ich hatte nur Clara Gütt, und ich war sicher, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit sagte.
Hinter meiner Natursteinmauer her kam der Ruf einer Glockenunke. Irgendwer hatte gesagt, das bringe dem Haus Glück. Wahrscheinlich brauchte ich mehr als eine Glockenunke, wahrscheinlich brauchte ich eine ganze Unkeninvasion. Ich musste die Polizei anrufen, ich musste sagen, wer der zweite Tote war. Warum hatte ich das nicht längst getan? Krümel fegte wie ein grauweißer Strich durch das Gras und sprang an den Stamm des Pflaumenbaumes. Sie war schnell in den obersten Ästen und blickte leicht wippend über das Dorf. Hätte sie einen Spiegel gehabt, hätte sie vermutlich gemauzt: »Bin ich nicht toll?«
Ich wusste plötzlich, weshalb ich die Polizei noch nicht angerufen hatte: Ich war misstrauisch, ich glaubte nicht einmal sicher, dass der zweite Tote der Chef der Clara Gütt war. Der Fall schien klebrig wie eine fleischfressende Pflanze.
Anni öffnete das Fenster und rief: »Es gibt Kaffee.« Der alte Opa Gertmann kam um die Ecke geschlurft. Er hatte wie üblich einen kalten Zigarillo im Mundwinkel und schnaufte vor Atemnot. »Junge«, sagte er, »das ist aber ein Wetterchen. Oben am Sportplatz fängt der Raps schon an zu blühen. Na und du kümmerst dich um die Leiche aus dem Windbruch?«
»So gut ich kann«, meinte ich. »Wir wissen ja noch nicht mal, wer es ist.«
»Tja«, lamentierte er empört, »also da kannst du mal sehen, wie die Welt ist. Da liegt einer tot rum, und wir wissen nicht mal, wer es ist.« Er war verwirrt und schlug mit der Spitze seines Spazierstocks gegen einen Rotsandsteinblock, mit dem ich ein kleines Blumenbeet eingefasst hatte. »Ich weiß nicht, aber früher wäre das nicht vorgekommen. Nee, ich bin froh, dass ich bald abdampfen kann. Ich komm nicht mehr mit.« Er war weit über achtzig Jahre alt, und jetzt gab ihm der Sommer wohl einen Lebensschub, es noch einmal anzugehen.
»Wir haben einen zweiten Toten dieser Art in Ahrdorf«, sagte ich.
»Auch in Plastik?«, fragte er verblüfft.
»Auch in Plastik«, bestätigte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Wir hier in der Eifel kennen unsere Toten«, sagte er. »Wir kennen die genau. Wir haben ja mit denen gelebt. Und egal wie sie waren, sie haben einen Namen und werden ordentlich beerdigt. Das erinnert mich an die Geschichte, wie sie in Hillesheim den ollen Schnigger beerdigt haben, also den Schneider. Der hockte sein ganzes Leben lang auf dem Tisch und nähte. Natürlich ist er von dieser Arbeit krumm geworden. Als er tot war, legten wir ihn in den Sarg. Der war ein kleines Männchen. Nun lag er da, krumm wie er war. Wir kriegten den Deckel nicht drauf, so krumm war der. Wenn ich auf die Knie drückte, um ihn flach zu kriegen, kam der Kopf hoch. Drückte ich auf den Kopf, kamen die Knie hoch. Und wie ich mich so mühte, sagt mein Chef: ›Lass mich mal machen!‹ Und er versucht es mit dem ollen Schnigger. Jedesmal, wenn er auf die Knie drückte, kam der Kopf hoch. Da wurde mein Chef wütend und schrie: ›Auch noch Widerworte, was?‹« Der alte Gertmann grinste zahnlos und kicherte dann ganz hoch.
»Ich habe einen Kaffee auf dem Tisch«, sagte ich.
»Na ja, ich muss sowieso weiter«, meinte er und ging langsam um das Haus herum. Ich hockte mich im Arbeitszimmer ans Telefon. Ich wollte zu diesem Zeitpunkt nichts mit der Polizei zu tun haben, ich rief den Arzt an.
»Haben Sie schon gehört?«, fragte er schnell. »Wir haben einen zweiten Toten mit Plastik im Bauch. Dem hat es den ganzen Unterleib zerrissen.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Und was sagen die Flüstertüten Neues?«
»Nichts«, sagte er.
»Können Sie sich damit einverstanden erklären, dass dieses Telefonat gar nicht stattgefunden hat?«
Er war einen Moment lang still, dann meinte er: »Wir können es ja versuchen.«
»Also der Tote ist ein Mann namens Dr. Jürgen Sahmer, achtunddreißig Jahre alt, aus Düsseldorf.«
»Woher haben Sie das?« Er war gehörig verblüfft.
»Irgendjemand hat es mir gesagt«, antwortete ich. »Aber damit habe ich ein Problem am Hals. Und Sie könnten bei den Herren des Bundeskriminalamtes ein bisschen gut Wetter machen. Der tote Sahmer war nämlich auf dem direkten Weg zu seiner Sekretärin, einer gewissen Clara Gütt. Die hat ein Ferienapartment in Ahrdorf, und sie wohnt zur Zeit dort. Ich hab’ das kombiniert, fand sie vor Angst erstarrt und nahm sie einfach mit.«
Er war still und meinte dann höflich kühl: »Das heißt also, Sie haben den Bullen schlicht die wichtigste Zeugin weggeschnappt?«
»Man kann es so nennen. Sie wird sich melden. Wenn Sie sich also jetzt freundlicherweise mit den Beamten in Verbindung setzen und denen erklären, wieso das alles passiert ist, dann …«
»Sagen Sie mal, Baumeister, sind Sie verrückt?«
»Nicht die Spur«, sagte ich, »ich war nur schneller als die Polizei erlaubt. Sagen Sie denen bitte, die Frau Gütt meldet sich. Gleich, in einer Viertelstunde oder so. Ja?«
»Lieber Himmel, Sie sind wirklich irre. Also gut.«
»Dein Kaffee wird kalt«, rief Anni aus der Küche.
Ich ging hinüber und sah sie einträchtig am Tisch hocken und Kaffee schlürfen.
Anni biss in eine Scheibe Rosinenbrot und erklärte kauend: »Ich habe der jungen Frau gerade erklärt, dass wir glauben, dass sie uns eine Menge verschweigt. Ich habe ihr auch gesagt, sie soll lieber die ganze Geschichte erzählen, weil du sie sowieso rauskriegst.«
»Und was hat sie darauf geantwortet?« Ich sah Clara Gütt an.
»Ich weiß wirklich nicht sehr viel«, sagte sie störrisch.
»Sie wissen mehr, als Sie wissen«, sagte ich. »Ihr Chef will Sie besuchen. Offensichtlich sehr heimlich durch die Hintertür. Er kommt unsinnigerweise durch den Wald hinter dem Dorf. Das ist schon an sich so verrückt, dass man es kaum glauben kann. Aber dann passiert etwas vollkommen Verrücktes. Auf dem kurzen Weg durch den Wald schießt ihn jemand tot. Mit einer Art Plastikmunition, von der wir nicht einmal wissen, wer die herstellt. Du lieber Himmel, ich habe etwas Wichtiges vergessen. Anni, du hast es auch vergessen.«
»Was denn?«, fragte sie verblüfft.
»Sein Auto! Er muss mit einem Auto gekommen sein. Aber da war kein Auto. Was für einen Wagen fährt er?«
»Einen Golf GTI«, sagte Clara Gütt. »ja, tatsächlich, wo ist dieses Auto?«
»Geben Sie mir seine Telefonnummer«, sagte ich schnell.
»Aber seine Frau weiß noch nichts«, widersprach sie.
Anni grinste ein wenig teuflisch. »Natürlich weiß sie es längst. Wenn das BKA drin ist, hocken die längst in seinem Wohnzimmer.«
Clara Gütt gab mir die Telefonnummer. »Hier ist Melanie Sahmer«, sagte eine Kleinmädchenstimme.
»Kann ich bitte deine Mammi sprechen?«
»Ja«, sagte das Mädchen.
Es war sicher: Wenn das BKA in Sahmers Wohnzimmer hockte, hörte jetzt jemand mit.
Dann meldete sich eine Frau. »Sahmer hier«, sagte sie ausdruckslos.
»Forstbehörde in Blankenheim«, log ich tapfer. »Es tut mir Leid, gnädige Frau, dass ich stören muss. Aber wir vermissen immer noch den Golf GTI Ihres Mannes.«
»Aber der ist doch hier«, sagte sie schrill. »Wir wissen ja gar nicht, wie mein Mann in die Eifel gekommen ist.«
Ich schwieg einen Moment, um zu überlegen. Dann war da plötzlich eine sehr barsche Männerstimme. »Wer sind Sie? Woher rufen Sie an?«
Ich hängte ein. »Er ist nicht in seinem GTI gekommen«, sagte ich.
»Jetzt setzen Sie sich mal in den Sessel da«, sagte Anni energisch und drückte Clara Gütt in den Sitz. »Sehen Sie mal, da kommt ein Chef zu seiner Sekretärin und benutzt nicht einmal sein eigenes Auto. Selbst wenn Sie nicht viel wissen, wie Sie sagen, so ahnen Sie doch etwas, oder?«
»Hat er gesagt, dass er sein Auto nicht benützen wird?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Kein Wort.«
»Aber er muss Angst gehabt haben vor irgendetwas, oder? Sonst wäre er in seinem Auto gekommen. Also, was ahnen Sie?«
»Ich bin ganz durcheinander«, sagte sie und strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Sie schinden Zeit«, stellte Anni fest. »Ich kenne das von den Verhören.«
»Es ist alles sehr kompliziert«, murmelte Clara Gütt leise. Sie sah hübsch aus, und sie wirkte wie ein kleines Mädchen.
»Kann es sein, dass auch Sie getötet werden sollen?«, fragte ich ganz nebenbei.
Einen Augenblick lang war es sehr still. Anni meinte trocken: »Das könnte sein, so wie die Sachen liegen.«
»Wie liegen denn die Sachen?«, fragte Clara hektisch.
»Das«, sagte Anni milde, »wollen wir ja von Ihnen hören.«
Danach war es wieder still.
»Ich könnte ja auch diese Dr. Vera Grenzow besuchen, die Freundin von Ihnen. Vielleicht weiß die mehr.«
Jetzt war unverkennbar Spott in ihrer Stimme. »Du lieber Himmel, Vera schwärmt für Wagner, fährt jedes Jahr zwei Wochen nach Bayreuth und hat sonst nichts als ihre Wissenschaft und die Geschäfte im Sinn.«
»Das ist merkwürdig. In Ihrer kleinen, hochfeinen Firma verschwindet der Druck- und Papierspezialist Günther Schulze, sechsundzwanzig Jahre alt. Dann wird ein Mann getötet, den Sie selbst als Besuch bei der wagnerliebenden Dr. Vera Grenzow erlebt haben. Dann will Ihr Chef Sie besuchen und wird ein paar Meter vor Ihrem Haus im Wald umgebracht. Und nun sage ich: Da Sie die Mutter dieser kleinen Kompanie waren, das Mädchen für alles, die Sekretärin, die Kaffeekocherin, die Briefschreiberin, kurz die, die wirklich alles wusste, wird die Polizei Sie tagelang in die Mangel nehmen. Diese Leute werden nicht glauben, dass Sie nichts wissen. Ich glaube das auch nicht, und Anni genausowenig. Also soll ich Sie jetzt wieder nach Hause bringen und warten, bis man Ihre Leiche findet?«
»Das ist aber hart, mein Junge«, meinte Anni trocken.
»Ich bin einfach sauer«, erklärte ich. »Ich soll einen Fall aufklären, von dem ich noch nichts weiß und den bisher keiner veröffentlichen wird, wenn ich ihn geklärt habe. Dann werde ich längst pleite sein und keine Freunde mehr haben.«
»Wo soll ich denn anfangen?«, fragte Clara kleinlaut.
»Bei der Firma«, sagten Anni und ich gleichzeitig.
»Also die Firma … was soll ich da erzählen?« Sie spielte wieder kleines Mädchen und biss sich auf die Unterlippe.
»Alles«, sagte Anni.
»Also, die Firma ist jetzt acht Jahre alt. Wir hatten damals von der Konzernleitung vier Jahre Zeit bekommen, um in die schwarzen Zahlen zu rutschen. Wir schafften es in zwei Jahren. In so einem Konzern werden Kopfschmerztabletten hergestellt und Düngemittel und Farben: Da tun sich neue Märkte auf, neue Produkte in neuem Design. Und weil man da Gelder investieren kann, wurden wir gegründet.«
»Sind Sie von Beginn an dabei gewesen?«, fragte Anni.
»Ja sicher. Wir waren alle dabei, also alle bis auf Günther Schulze. Der kam später. Das war damals die Idee meines Chefs. Der heißt Dr. Helmut Kanter und ist jetzt dreiundfünfzig Jahre alt. Er saß im Vorstand und war zuständig für eine ganze Latte kleiner Tochterfirmen. Ich weiß noch, wie er eines Tages sagte: ›Wir brauchen eine kleine effektive Truppe, die nicht nur unsere Produkte verpackt und verbraucherfreundlich macht, sondern auch Verpackungen für andere entwirft.‹«
»Sie sind also die Müllmacher?«, fragte ich.
Sie sah mich an und lächelte dann. »Das sind wir. Wir machen so klasse Verpackungen, dass die Leute die Produkte einfach kaufen müssen. Wir fingen also 1983 an, wir nannten uns MICHELLE, wahrscheinlich nach dem Lied der Beatles. Damals waren wir zunächst zu dritt: Also ich im Büro, Dr. Jürgen Sahmer und Dr. Vera Grenzow. Sie waren beide schon im Konzern und bewarben sich intern um diese Position. Wir entwickelten zunächst bloß Verpackungen für die Produkte des Konzerns. Später nahmen wir andere Kunden hinzu. Es lief phantastisch.«
»Sie hatten also ein eigenes Gebäude, eigene Räume?«, fragte ich.
»Ja. Wir zogen nach Düsseldorf. Nördlich der Altstadt an den Rhein in ein kleines Industriegelände. Wir hatten jeder einen Büroraum und dann die Versuchsräume mit den verschiedensten Möglichkeiten, Verpackungen herzustellen. Also Papier, Pappe, Kunststoff, Glas und so weiter.«
»Wann kam denn dieser verschwundene Günther Schulze dazu?«, fragte ich. »Vor zwei Jahren«, sagte sie.
»Kam der auch aus dem Konzernbereich oder von draußen?«
»Konzernbereich. Halt, dann habe ich noch Willi vergessen, aber der lebt nicht mehr. Willi Kotowski. Der war so eine Art Mädchen für alles, Hausmeister, Hilfsarbeiter und so. Der fuhr Motorrad. Der ist mit dem Motorrad tödlich verunglückt. Das muss so 1985 gewesen sein.«
»Gibt es einen neuen Kotowski, Hausmeister?«
»Ja, aber der neue ist nicht so nett, wie Willi war. Der ist auch Motorradfahrer, aber eben ein kühler Typ, der immer so wirkt, als hätte er schlechte Träume.«
»Und wie heißt er?«, fragte Anni.
»Lippelt, Harry Lippelt. Alter ungefähr dreißig.«
»Ich möchte wissen, was er für eine Maschine fährt«, bat ich.
»Eine Yamaha Genesis. Das weiß ich zufällig, weil ich ihn mal gefragt habe, wie schnell das Ding ist. Zweihundertachtzig Kilometer schnell.«
»Wo ist der Kotowski 1985 verunglückt?«
»Vor dem Betrieb, direkt vor unserem Haus. Das ist eine breite Stichstraße. Unser Haus ist das einzige. Willi muss abends oder nachts vom Hof losgerast sein. Er ist auf der Fahrbahn ausgerutscht und hat sich das Genick gebrochen.«
»Kein Plastik?«, fragte Anni sachlich.
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Nein, kein Plastik. Ach, der Willi war ein ewig lustiger Typ, ein echtes Schätzchen.«
»Also: Kotowski tot, Schulze verschwunden, Sahmer tot, Grenzow wahrscheinlich zu Hause, ihr unbekannter Freund tot. Bleibt uns also nur, sofort Vera Grenzow zu besuchen. Sonst haben wir die nächste Leiche. Kann ich ihre Telefonnummer haben?«
Sie war eine gute Sekretärin, sie schnarrte die Nummer herunter.
Ich ging in mein Arbeitszimmer und rief an. Sie meldete sich sofort, sagte gedehnt: »Jaaa, Grenzow hier.«
»Wir kennen uns nicht. Ich rufe Sie aus der Eifel an. Ihr Kollege Dr. Sahmer ist tot. Wissen Sie das?«
»Ja, ja. Die Herren sind noch hier, um mich zu befragen.«
»Hören Sie jetzt gut zu. Ich soll Sie von Ihrer Sekretärin grüßen. Von Clara Gütt. Antworten Sie bitte nur mit ja oder nein. Ich komme Sie jetzt besuchen. Glauben Sie, dass Sie um Mitternacht allein sind?«
»Nein.«
»Wären Sie trotzdem bereit, sich mit mir zu unterhalten?«
»Aber ja. Wer sind Sie?«
»Das erkläre ich Ihnen später.« Ich hängte ein.
»Soll ich dir ein Butterbrot für die Fahrt mitgeben?«, fragte Anni.
»Wie bitte?« Wahrscheinlich hatte mich das zum letzten Mal vor dreißig Jahren meine Mutter gefragt.
»Ein Brot für die Fahrt«, seufzte Anni, als sei ich schwer von Begriff.
»Ich möchte mit Ihnen kommen«, sagte Clara Gütt schnell.
»Kommt nicht in Frage«, widersprach ich. »Ich will allein mit Ihrer Chefin sprechen.«
»Brauchst du Geld für Benzin?«, fragte Anni fröhlich.
»Ich will mit«, rief die Gütt ganz hektisch.
»Sie kommen nicht mit«, schrie ich beinahe. »Ich brauche auch kein Spritgeld. Bin ich denn hier in einem Irrenhaus?«
»Ja«, sagte Anni und schmierte Griebenschmalz auf eine Vollkornschnitte.
»Warum soll ich nicht mit Ihnen fahren?«
»Weil Sie ein störrisches Weibsbild sind«, brüllte ich. »Diese geheimnisvollen Toten stammen alle aus der Firma, in der Sie die Sekretärin sind. Und Sie behaupten steif und fest, Sie wüssten von nichts. Das kauft Ihnen kein Mensch ab. Ich will nicht von Ihnen gestört werden.«
»Reichen drei Schreiben?«, fragte Anni. »Nun übertreib aber nicht! Schrei nicht so rum!«
»Das ist mein Haus«, sagte ich, wieder ganz ruhig. »Ich habe hier das Sagen, wenn die Höflichkeit ein Ende hat. Und ich sage, ich fahre allein! Ohne deine Scheißbutterbrote und ohne dein Spritgeld und ohne die Dame Gütt. Ist das jetzt klar?«
»Warum bist du denn so frustriert?«, fragte Anni ganz ruhig.
Da war ein Rauschen in meinen Ohren. »Ich habe keinen Mut mehr, ich bin müde, ziemlich müde. Mich kotzen im Moment die Lebensläufe anderer Menschen an, egal ob sie Heilige, Nutten oder Mörder sind. Ich … ich weiß nicht, ich möchte mich verkriechen. Da sind diese ekelhaften Toten mit von Plastik zerfetzten Gedärmen … Und wir schwätzen hier miteinander, als wären wir wichtig. Ach Scheiße!«
»Ist es, weil ich dauernd von deinem Vater …?«
»Vielleicht auch das, ich weiß es nicht. Tut mir Leid. Außerdem ist mir die letzte Reportage in die Hose gegangen.«
Sie wollte irgendetwas erwidern, ließ es dann aber. Ich fühlte, wie ich ganz starr wurde.
Clara Gütt saß jetzt am Tisch und weinte auf eine sehr kindliche Art. Sie wimmerte, sie hatte einen schiefen Mund wie ein Clown, sie saß so gebeugt, dass man glauben konnte, sie habe einen Buckel. Ihre Schultern zuckten, und ihre Hände mit den grellroten Fingernägeln fingerten an der Kaffeetasse herum. Ich sah, dass ihre Knie sich schnell hin und her bewegten. »Verdammt noch mal, ich möchte mitfahren. Ich werde kein Wort sagen. Ich verspreche es.« Ihre Stimme war hoch und zittrig.
»Nimm sie mit«, sagte Anni. »Sie ist völlig fertig, davon verstehe ich was.«
»Es geht nicht«, widersprach ich müde. »Sie ist ein ahnungsloses Risiko, verstehst du denn nicht, Anni? Wenn ich sie mitnehme und sie flippt aus, kann ich mit dieser Grenzow kein vernünftiges Wort …«
»Ihr seid ja zwei völlig Irre!« schrie Clara Gütt auf einmal. Sie sprang auf, dass der Stuhl nach hinten gegen den Herd flog. »Ihr seid zwei vollkommen Irre! Ich habe Angst! Soll ich es wiederholen? Ich habe Angst, ich habe Angst! Acht Jahre habe ich in einem Team gearbeitet. Irgendetwas ist in all den Jahren abgelaufen, wovon ich keine Ahnung habe. Versteht Ihr mich?« Sie schrie jetzt richtig hysterisch. »Da ist etwas passiert – und ich habe es nicht gemerkt – jetzt habe ich Angst davor, dass irgendeiner mir den Bauch voll Plastik schießt. Ihr Arschlöcher!« Sie stand da, leicht vornübergeneigt, als wolle sie uns anspringen, und wahrscheinlich wollte sie es in dieser Sekunde auch.
Annis Unterlippe zitterte bedenklich.
»Zieh dir einen Pullover an«, sagte ich. »Die Nächte sind verdammt kalt.«
»Moment mal«, sagte Anni, »so einfach geht die Sache auch nicht. Das BKA weiß inzwischen, dass dieser Dr. Sahmer zwei Meter vor der Ferienwohnung seiner Sekretärin ermordet wurde. Sie werden nach ihr suchen. Da sie nicht in ihrer Wohnung in Düsseldorf ist und nicht in der Wohnung hier in der Eifel, muss uns irgendetwas einfallen. Oder sie meldet sich bei der Polizei.«
»Ich melde mich«, sagte sie in fast normalem Ton. »Aber erst mal will ich nach Düsseldorf.«
»Augenblick«, sagte ich, »Anni hat Recht. Wenn sie dich hier in der Ferienwohnung nicht finden und nicht in Düsseldorf, werden sie nur zwei Minuten brauchen, um festzustellen, dass du bei mir bist. Mich kennt man hier, ich bin wie ein bunter Hund. Also meldest du dich jetzt besser. Und du sagst, du weißt, was los ist, willst aber noch nach Düsseldorf. Du bietest ihnen an, dorthin zu kommen, wohin sie dich haben wollen. Weil wir uns zusätzliche Feinde nicht leisten können, bist du hübsch höflich, ja?«
Sie ging zögernd die Polizei anrufen, und ich aß eines von Annis Butterbroten. Clara kam sehr schnell wieder und sagte: »Sie wollen mich heute noch in Meckenheim haben. Sie sagen, ich soll schnell kommen. Egal wie, aber schnell. Werden sie mich dort festsetzen?«
»Auf jeden Fall wird es Stunden dauern. Also erst nach Düsseldorf zu deiner Chefin, dann nach Meckenheim zu den Jüngern von der Heiligen Wanz. Und ich hatte gehofft, ich könnte schlafen.«