5. Kapitel

Ich wartete, bis sie ganz allein wieder in den Wagen kriechen konnte, dann setzte ich mich hinter das Steuer und fuhr weiter. Irgendwo weit entfernt waren Polizeisirenen zu hören. Ich orientierte mich am Sonnenstand und nahm den nächsten Waldweg nach Süden. Ich kam am Sportplatz heraus und musste hart bremsen, weil ich die Streifenwagen zu spät sah.

Ein Polizist kam an den Wagen und meinte fast melancholisch: »Mein Gott, wo Sie sich herumtreiben, ist auch immer was los!«

»Sie sind ja bloß neidisch, nicht wahr?«

»Sie sollten hier warten, bis die Herren kommen.«

»Welche Herren?«

»Na ja, die von irgendeiner Kommission, was weiß ich.«

»Dann sagen Sie denen, wo ich wohne. Ich brauche eine Dusche und ein Bett. Irgendwelche Herren brauche ich nicht.« Ich gab Gas und fuhr ihm einfach davon. Er hatte einen Gesichtsausdruck wie mein letzter Weihnachtskarpfen.

Ich rollte auf den Hof, und Anni stand in einer weißen Hausfrauenschürze vor dem Haus. Sie hatte die Arme in die Seiten gestemmt, und falls sie mit dem Nudelholz auf mich losgegangen wäre, hätte ich mich auch nicht gewundert.

»Du musst den Arzt rufen. Die Nummer steht in der Kartei unter A. Das Mädchen hat einen Schock.«

»Und du?« Es war ein kriegerischer Ton. »Und es ist kein Mädchen, es ist eine Frau!«

»Ich habe keinen Schock, ich bin nur müde und sauer, ratlos, wütend und beschissen drauf und alles mögliche. Hast du einen Kaffee?«

»Na sicher. Was ist passiert? Was sind das da für Löcher in deinem schönen Auto? Das sieht ja aus wie mein Küchensieb.«

»Kugeln. Das Ding, mit dem er schoss, sah aus wie eine Maschinenpistole.«

Clara ging mit unnatürlich weit offenen Augen und schneeweißem Gesicht an uns vorbei, und Anni geriet ins Jammern. »Ach Gott, Kindchen, Sie Arme!«

Ich ging hinter das Haus und verkroch mich wie üblich unter meiner großen Birke. Aus irgendeinem Grund gab sie mir in solchen Zeiten Ruhe. Krümel kam herangesprungen und strich um meine Beine. Da hockte ich, und sie sprang auf meine Schultern und sah sich stolz um.

»Ich habe Schwein gehabt. Beinahe hättest du deinen Ernährer verloren.«

»Junge!« Anni kam wie ein Feldwebel um die Hausecke.

»Dein Kaffee wird kalt. Willst du Spiegeleier?«

»Vier, auf Schinken.«

»Na, dann komm! Magst du jetzt erzählen oder später?«

»Später. Ich habe das Gefühl, ich falle um.«

»Das ist jetzt dein Schock. Kreislauf, verstehst du? Geh schön langsam, atme flach.«

Ich kann mich daran erinnern, dass ich zwei oder drei Gabeln Spiegeleier auf Schinken aß, dass ich zweimal an dem Kaffee nippte, dass ich versuchte, mir meine Pfeife zu stopfen, und dass sie mir herunterfiel. Ich kann mich auch daran erinnern, dass der Arzt in den Hur stürmte und fragte, wem er denn die Spritze in den Hintern rammen dürfe.

Anni jammerte ihm etwas von modernen Zeiten vor und sagte dann: »Das Mädel liegt oben und friert.«

Der Arzt antwortete: »Sie muss verdammt schlank sein, dass sie keine Kugel erwischt hat. Die Karre sieht ja aus wie eine Fliegentür. Und wie geht es dem Journalisten?«

Ich weiß, dass ich versuchte, vom Stuhl aufzustehen, und dass ich dabei fast auf den Flickenteppich meiner Küche fiel. Irgendwie muss ich dann doch den Weg ins Bett geschafft haben. Ich wurde wieder wach und stellte mit einem Blick fest, dass draußen die Sonne schien.

In der offenen Tür stand Clara Gütt, nackt und ziemlich hübsch und fragte zittrig wie ein kleines Mädchen: »Kann ich mich zu dir legen?«

Ich weiß nicht, was ich antwortete, ob ich überhaupt antwortete. Ich weiß nur, dass sie sich an mich kuschelte, irgendetwas flüsterte.

So lagen wir da, ich und Clara, die ich anfangs gar nicht besonders gemocht hatte. Aber darauf kam es gar nicht mehr an. Irgendwie reizte sie mich, irgendwie konnte ich gut verstehen, dass sie in einer heillosen Krise steckte. Zu erkennen, dass man über Jahre hinweg etwas in der eigenen Umgebung nicht sieht, nicht begreift, nicht begreifen will – um dann plötzlich unsanft geweckt zu werden, das muss ziemlich brutal sein.

»Na ja, rutsch ran«, murmelte ich, als sie längst da war. »Danke«, flüsterte sie.

Natürlich blieb es nicht beim Ranrutschen, natürlich ging es irgendwie weiter, natürlich waren wir schläfrig und zugleich hellwach.

»Du bist eine wirklich gute Therapie«, flüsterte sie. Ich konnte nichts mehr antworten, weil es ohnehin viel zu spät war. So hielt ich sie einfach fest, und ich erinnere mich, dass ich sie großartig fand.

Ich wachte auf, weil mich ein nicht enden wollendes fernes Gebrabbel störte. Vermutlich hatten sich sämtliche bedeutsamen Mordspezialisten in meiner Küche versammelt und erledigten meinen Bauernschinken.

Clara Gütt schlief tief und fest. Krümel hockte auf der Fensterbank und starrte beleidigt hinaus in den Garten. »Was willst du eigentlich?« Ich ging sofort in die Verteidigung. »Ich hab’ doch kaum etwas mit ihr gehabt.« Sie gönnte mir nicht einmal einen Blick.

Ich stapfte ins Badezimmer, stellte mich unter die Dusche und spülte Schmutz von achtundvierzig durchwachten Stunden ab. Anni fragte lautstark durch die Tür, ob ich etwas essen und trinken wolle, und ihre Stimme hatte einen höchst zufriedenen Klang.

»Wer ist denn da unten in der Küche?«

»Die Herren vom Bundeskriminalamt«, sagte sie. »Es sind sehr nette Herren.«

Ich rasierte mich und stapfte dann in meine Küche, in der eine ähnliche Luft herrschte wie in unserer Dorfkneipe, wenn wir drei Stunden geknobelt haben.

»Guten Tag«, sagte ich und erwischte einen Blick auf das vor Aufregung hochrote Gesicht meiner Tante Anni, die gerade zu dem Bundeskriminalisten Müller sagte: »Also Herr Kollege, mein Kompliment zu Ihren Überlegungen.«

»Von welcher Dienststelle sind Sie denn?«, fragte mich ein freundlicher Dicker, der Roger-Rabbits Vorderzähne hatte.

»Ich bin hier der Hausmeister«, sagte ich. »Ich fege hinterher die Bude, wenn Sie fort sind.«

Tante Anni sah mich an und kam herangerauscht. Das war einigermaßen schwierig, weil in der Küche, im Durchgang und in der Stube rund ein Dutzend Männer in allen möglichen Positionen herumsaßen und -standen.

»Ich habe Rosenkohl mit Kartoffeln und Hackbraten«, sagte sie. »Der Herr Müller will dich sprechen.« Sie schaufelte mir von dem Essen etwas auf einen Teller. »Geh in dein Arbeitszimmer. Da habe ich nämlich abgeschlossen, sonst ginge es hier ja zu wie in einer Kneipe.« Ich steuerte also mit dem Teller hinüber in mein Refugium, setzte mich an den Schreibtisch und aß. Nach ein paar Minuten kam Anni, Müller im Schlepptau, schloss hinter sich ab und stellte fest. »Jetzt sind wir ungestört.«

»Wunderbar, Frau Kollegin«, sagte Müller strahlend. Er sah mich an. »Was da geschehen ist, war schlimm, aber ich glaube nicht, dass das vorauszusehen war. Ich habe Ihren Wagen zu erkennungsdienstlichen Zwecken in eines unserer Labors bringen lassen. Wissen Sie, dass der Kerl ungefähr sechzig Schüsse auf Sie abgegeben hat?«

»Nein, ich habe nicht gezählt.«

Er grinste. »Ihr Auto ist ein Schrottplatz. Es war wirklich eine Maschinenpistole, übrigens eine israelische. Fragen Sie mich nicht, aus welcher Quelle die kommt. Ich möchte Sie bitten, mir diese Fahrt genau zu schildern.«

Der Hackbraten war Anni hervorragend geraten, und als ich mir nach dem Mahl die Pfeife anzündete, schloss ich auch meinen Bericht: »Ich würde sagen, der Mann, falls es ein Mann war, ist schlank, ungefähr einsachtzig groß, ziemlich stabil gebaut. Nach seinen Bewegungen bestens trainiert. Er handelte nicht im geringsten überhastet oder aufgeregt. Es gibt da nur einen Punkt, der mich wirklich verwundert, und ich frage mich weshalb …«

»Das haben wir schon überlegt«, unterbrach Anni. »Du fragst dich sicher, warum er nicht Plastikgeschosse verwendete. Das kann zwei Gründe haben. Erstens, weil er mit dem Schützen der Plastikgeschosse nichts zu tun hat, was uns jedoch nicht besonders einleuchtet. Oder weil er mit Plastikgeschossen nichts erreichen konnte, solange ihr beide im Schutz des Autoblechs wart. Das heißt: Wenn du, Clara oder alle beide ausgestiegen wäret, hätte er vermutlich nur das Magazin wechseln müssen.«

»Der Gedankengang Ihrer Frau Tante ist sehr bestechend«, sagte Müller lächelnd. »Wir haben übrigens eine Ringfahndung ausgelöst, sobald wir Kenntnis von Ihrem Notruf erhielten. Aber der Mann ist meiner Meinung nach viel zu gewitzt. An der Maschine gibt es übrigens weder Hersteller- noch Maschinennummer. Sämtliche Zubehörteile ganz normal von den üblichen Lieferanten. Es wird Tage dauern, ehe wir den Käufer ermitteln können. Wenn er die Maschine selbst schwarz lackiert hat, wird es vermutlich Monate dauern, ehe wir herausfinden können, wo sie gekauft wurde.«

»Was vermuten Sie, was steckt dahinter?«

Er zuckte die Achseln. »Die ganze Sache ist äußerst verwirrend. Wir haben drei Tote durch ein Plastikgeschoss, von dem wir nicht einmal wissen, wer es herstellt. Wir haben zwei neue mögliche Opfer, nämlich Sie und Clara Gütt. Entweder sollte Clara Gütt getötet werden, was meine Verwirrung eher noch steigern würde. Oder aber Sie beide sollten getötet werden. Einer der Toten ist immer noch unbekannt, heißt angeblich mit Vornamen Volker. Dann haben wir diesen verschwundenen Druck- und Papierspezialisten Günther Schulze, den wir bis jetzt überhaupt nicht einordnen können. Es sei denn, er ist Mitglied einer Gruppe, die aus Vera Grenzow, Jürgen Sahmer und ihm selbst bestand. Aber in dieser Richtung fehlen alle Beweise, und Mutmaßungen helfen uns nicht. Es gibt nur sehr vage Hinweise auf die ehemalige DDR, weil alle Mordopfer etwas mit der ehemaligen DDR zu tun haben. Die kleine Belegschaft der Firma stammt mit Ausnahme der Clara Gütt aus Ost-Berlin, dem ehemaligen Ost-Berlin. Aber das sollte uns nicht dazu verführen, ausschließlich in Kategorien der Spionage zu denken. Möglicherweise steckt etwas dahinter, was wir bisher nicht laut zu vermuten wagen: Irgendjemand zum Beispiel, der sich aus unbekannten Gründen an den Leuten dieser Firma rächen will. Kurzum, ein Verrückter. Aber dann muss er auch ein Genie sein. Ein Genie, das diese Plastikgeschosse herstellen kann. Wir haben Herrn Dr. Kanter in Düsseldorf einem Verhör unterzogen, ebenso den Bundestagsabgeordneten Sven Sauter.«

»Was ist dabei herausgekommen?«

Er machte einen ganz schmalen, misstrauischen Mund.

»Nichts, natürlich. Sie behaupten beide steif und fest, nicht die geringste Ahnung davon zu haben, was da gespielt wird.«

»Und der gute Siggi glaubt das nicht«, sagte Anni.

»Nein, das glaube ich wirklich nicht. Es gibt eine merkwürdige, aber eindeutige Geschichte. Clara Gütt, die oben liegt und sich ausschläft, war einmal die Sekretärin dieses großen Chefs, dieses Kanters. Sie war auch seine Geliebte. Dann kam Vera Grenzow und löste sie ab. Das finde ich merkwürdig.«

»Was ist daran merkwürdig?«, fragte Müller. »So ist das Leben.«

»Clara Gütt ist eine sicherlich gute Sekretärin. Vera Grenzow ist eine ziemlich arrogante Wissenschaftlerin und …«

»Vielleicht liebt dieser Kanter die Abwechslung?«, fragte Anni.

»Sie meinen, dahinter steckt Absprache? Irgendein Plan?«, fragte Müller.

»Es muss nicht sein, es kann aber sein«, antwortete ich. »Von heute auf morgen explodiert eine kleine Firma. Einer der Chefs wird ermordet. Ein anderer, dessen Namen wir nicht kennen, der aber auch Verbindungen in diese Firma hat, wird ermordet. Die Frau eines Mannes, der ebenfalls in der Firma arbeitet, wird getötet. Ihr Mann ist verschwunden, vielleicht längst tot. Clara Gütt soll getötet werden. Und diese Clara Gütt, ein durchaus nüchterner Mensch, behauptet nun, sie habe dieses Unheil nicht einmal gerochen. Sie ist absolut ohne jede Ahnung. Und weil ich ihr das glaube, glaube ich auch, dass dahinter eine gigantische Schweinerei steckt. Seit wann haben Sie Vera Grenzow in Schutzhaft?«

»Wir haben sie uns ungefähr zu der Zeit geholt, als Clara Gütt bei uns in Meckenheim war. Warum die Frage?«

»Das ist doch einfach«, bemerkte Anni. »Siggi fragt sich zu Recht, woher dieser merkwürdige Todesschütze mit dem Motorrad denn wissen konnte, dass Baumeister die Clara ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt über die Autobahn von Köln in die Eifel fahren würde, nicht wahr?«

»Wer wusste denn das?«, fragte er schnell.

»Eine ganze Menge Leute«, sagte ich. »Da ist zum ersten die Besucherversammlung bei der Dr. Vera Grenzow. Das waren unter anderem Dr. Kanter sowie sein Geschäftsfreund aus Chemnitz, ein Dr. Bleibe. Es waren weiterhin deren Fahrer und deren Begleiter, alles in allem mindestens weitere acht Männer. Sie erlebten, dass die Gütt und ich ankamen und klar zu erkennen gaben, dass wir der ganzen Sache nicht trauten. Auf gut Deutsch habe ich die Grenzow eine Lügnerin genannt, weil sie immer noch bestreiten wollte, dass der erste, der unbekannte Tote identisch mit ihrem Freund Volker ist. Aber es muss noch jemanden geben, der ziemlich genau wusste, was Clara Gütt und ich in dieser Nacht unternahmen. Und dieser Mann muss beim BND sein.«

»Wie bitte?«, fragte Müller aufgebracht.

»Also, hier habe ich ein Tonband, und ich schenke es Ihnen. Auf diesem Tonband regt einer der Männer Ihres Kommissariats an, beim Bundesnachrichtendienst in Pullach anzufragen, ob Sven Sauter mit irgendeiner geheimen Spionagegruppe der ehemaligen DDR in Verbindung stand. Wenn Ihre Leute angefragt haben – und ich nehme an, das haben sie – dann musste jemand im BND ganz klar begreifen, dass Clara Gütt und ich auf Tour waren. Er wird dann nämlich auch erfahren haben, dass Clara und ich die tote Frau Schulze fanden.«

Das traf ihn, das traf ihn hart. Er reagierte entsprechend ungestüm. »Das ist doch abenteuerlich, Baumeister, absolut abenteuerlich!«

»Nach Barschel ist nichts mehr abenteuerlich!«, widersprach ich. Ich lächelte ihn so freundlich an, wie es mir möglich war. »Sie werden doch zugeben, dass irgendwer sehr genau gewusst hat, wann ich über die völlig leere Autobahn in die Eifel hinauffahren würde. Und genau zu diesem Zeitpunkt taucht dieser Irre mit seiner Maschine auf und versucht uns umzulegen, oder?«

»Das ist ziemlich logisch«, bestätigte Anni. »Und jetzt hole ich euch noch einen Kaffee.«

Müller stand auf und starrte in meinen Garten. »Barschel war für euch Journalisten ein Schock, nicht wahr?« meinte er nachdenklich.

»Für die, die mitdenken, ja.«

Anni kam mit einem Tablett herein, setzte es ab, verteilte den Kaffee und murmelte mit einem Seitenblick auf mich: »Clara ist wach.«

»Ich gehe zu ihr«, sagte Müller schnell. »Ist sie oben?« Und schon war er verschwunden.

»Verdammt noch mal«, schimpfte Anni, »wie soll das denn weitergehen? Da rennt irgendeiner rum und tötet Menschen. Was kann man tun?«

»Ich hoffe nicht, dass Müller Clara jetzt auch in Schutzhaft nimmt. Es gibt einen Punkt, an dem wir noch mal ansetzen könnten. Das ist dieser verschwundene Schulze.«

»Wie das, wo er verschwunden ist?«

»Nun, genau diese Tatsache könnte uns weiterhelfen.«

Da ich nicht bereit war, meine Gedankengänge genau zu erklären, bemühte ich mich, ein kluges Gesicht zu machen. Ich hätte auch gar nicht vernünftig begründen können, warum ich Hoffnungen auf diesen verschwundenen Mann setzte. Aber Anni fragte nicht mehr nach.

Die Kriminalisten verließen mein trautes Heim eine Stunde später und nahmen Clara Gütt nicht mit. Müller sagte: »Falls Sie etwas in Erfahrung bringen, sagen Sie es mir. Ich lasse Frau Dr. Grenzow frei. Aber ich werde ein Auge auf die Szene haben.« Er zwinkerte mir zu und verschwand mit einer höchst luxuriös aussehenden Karosse. Meine Welt war wieder in Ordnung, das Dorf sauber.

Anni sagte versonnen: »Er treibt ein gefährliches Spiel, der Gute.«

»Wieso?«, fragte Clara.

»Weil er euch alle diskret beschattet«, meinte Anni besorgt. »Das ist seine einzige Chance, den Mörder kennen zu lernen. Jetzt muss ich aber spülen, ich habe keine einzige saubere Tasse mehr.«

»Clara, lass uns eine Weile spazieren gehen«, schlug ich vor. »Frische Luft tut gut.«

»Du willst mich ausquetschen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich muss mich noch entschuldigen. Wegen heute Nacht. Ich hatte Angst, weißt du …«

»Lass nur, ich kann das gut verstehen.«

Wir schlenderten zum Weinberg hoch. »Konzentrier dich jetzt bitte. Ich weiß: Eigentlich weißt du nichts, aber stell dir genau diesen Günther Schulze vor. Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, ziemlich frisch verheiratet. Sie haben ein Baby. Und aus irgendeinem Grund verschwindet er, als wäre er vom Erdboden verschluckt. Was war er eigentlich für ein Typ?«

»Der typische Fachmann. Total vergraben in sein Denken, in die Möglichkeiten, die er so hatte. Er konnte zum Beispiel aus Papier die seltsamsten Figuren falten. Vögel, alle möglichen Tiere, Blumen und so weiter. Und er brachte es fertig, mit einem Küchensieb und drei Grundfarben geradezu irre Siebdrucke zu machen, einfach so. Ein Wahnsinnstyp, aber leise, verstehst du? Ich habe manchmal gedacht, er schläft. Ich bin in sein Büro gegangen. Da hockte er und dachte darüber nach, wie man ein Stück Pappe falten kann und trotzdem noch einen langen Schriftzug darauf unterbringt. Manchmal hockte er auch vor einem Schachbrett und dachte stundenlang über irgendeinen Zug nach. Er sagte: ›Ich finde das grandios, was dem menschlichen Hirn so einfällt.‹« Sie kicherte. »Irgendwie war er ein komischer Heiliger. Total naiv. Einmal hat er einen Kredit aufnehmen wollen bei irgendeinem Finanzmenschen, bei dem das Geld um glatte vier Prozent teurer war als nebenan bei der Volksbank. Und als wir ihn dann darauf aufmerksam machten, war er ganz verwirrt und sagte: ›Ja und? Der Mann ist doch so nett!‹«

»Er spielte Schach? Und scheinbar gut, oder?«

»O ja, er war irgendein Meister an der Uni. Und in Düsseldorf spielte er in irgendeinem Club.«

»Von seiner Frau hast du gesagt, sie sei eine Öko-Tussi. Hatte das Folgen für ihn?«

»Na ja, er hat mal gesagt, er sei erst durch sie darauf aufmerksam gemacht worden, wie schnell der Mensch die Erde zerstört. Und dann Moment mal – er hat sogar aufgehört, irgendwelche großartigen Reisen zu unternehmen. Früher war er auf den Philippinen, auf Samoa und in China. Dann machte er plötzlich Zelttrips mit seiner Frau. Sie fuhren Rad und zelteten. Die Donau entlang zum Beispiel. Ich weiß noch, wie wir gelacht haben, wenn er erzählte, dass er in einer Nacht im Zelt sechsundsiebzig Mückenstiche auf seinem Bauch gezählt hat.«

»Also Schachspiel und Zelten.«

Sie meinte: »Warte mal. Da war noch ein irrer Trip der beiden in Finnland. Da hat Günther sich ein Kanu andrehen lassen, das zwei Löcher hatte. Und dann hat er die Löcher mit Hansaplast zugeklebt. Weil das nicht dichthielt, hat er nach seiner Rückkehr der Firma geschrieben, sie sollten gefälligst ihre Erzeugnisse verbessern. Wir haben einen Tag lang gelacht.«

»War er ein liebenswerter Narr?«

Sie wurde plötzlich sehr ernst. »Ja, das ist es wohl, das war er. Und weil er so schrecklich naiv ist, denke ich, dass jemand sich an ihn ranmachen kann, um ihn umzubringen. Günther wird sagen: ›Nett, Sie kennen zu lernen.‹« Sie versuchte erfolglos, eine Träne zurückzudrängen.

»Was trieb er eigentlich am Wochenende? Weißt du etwas darüber?«

»Nicht viel. Sie hatten zwei Enten, er eine, sie eine. Und sie schaukelten damit in der Gegend herum. Wenn gutes Wetter war, zelteten sie irgendwo an der Mosel oder so. Ich erinnere mich an die Mosel. Oder war das die Sieg? Na ja, was die grün Angehauchten eben so treiben.«

»Wie schätzt du seine Frau ein? Hätte sie sich an irgendjemanden gewandt, wenn sie eine Ahnung von der Gefahr für ihren Mann gehabt hätte?«

»Ja. Ich wette, sie hätte Vera Grenzow angerufen oder Sahmer oder mich. Sie hätte sich gemeldet. Aber sie hat sich nicht gemeldet.«

»Moment mal«, sagte ich, »das wissen wir doch gar nicht. Du bist in Ferien, Sahmer ist tot, Schulze verschwunden – es war niemand da außer der Grenzow.«

»Doch, da ist noch jemand. Wenn von uns keiner da ist, dann ist immer noch Harry Lippelt da. Er kann auch die Telefonzentrale bedienen.«

»Weißt du, wo er wohnt?«

»Ich weiß alles über die Firma«, sagte sie schnell, biss sich dann auf die Lippe und murmelte: »Jedenfalls habe ich mir das immer eingebildet.«

»Also, noch einmal zu Günther Schulze. Er spielt Schach, er zeltet, er fährt eine Ente. Aber er verdient doch verdammt gut, was macht er mit dem Geld?«

Sie überlegte eine Weile. »Das weiß ich nicht genau. Ich erinnere mich daran, dass er kurz nach seiner Hochzeit einmal sagte, er könne mit Geld überhaupt nicht umgehen und er wolle seine Frau zum Finanzminister machen.«

»Du hast erzählt, dass ihr in der Firma oft über Klamotten und neue Autos und Ferienreisen geredet habt. Er auch?«

»Er nicht. Er war die absolute Ausnahme. Wenn ich von einem BMW-Cabrio schwärmte, hat er mich lieb angesehen und leicht gelächelt. Es war kein Spott, er hatte einfach kein Ohr für so was.«

»Wenn du so über den Schulze sinnierst, fällt dir dabei nicht etwas auf?«

»Nein, was sollte mir auffallen?«

»Pass auf: Vera Grenzow hat einen Freund, der Volker heißt. Der liegt tot im Windbruch in der Eifel. Dein zweiter Chef, der Dr. Jürgen Sahmer, will zu dir in die Eifel kommen, um irgendetwas zu erzählen. Das heißt: Er sagt, er will dir etwas erzählen. Kurz vorher ist der Günther Schulze spurlos verschwunden. Und nun kommt dieser Sahmer und wird vor deinem Haus umgelegt. Fällt dir immer noch nichts auf?«

»Nein, verdammt noch mal. Was soll mir auffallen?« Sie ging zwei schnelle Schritte, drehte sich dann um, hielt den Kopf gesenkt und fragte: »Meinst du etwa die Eifel?«

»Natürlich meine ich die Eifel. Deine ganz kleine Firma hatte angeblich nie etwas mit der Eifel zu schaffen, aber dieser tote Volker liegt hier, Sahmer stirbt hier und wir beide werden von einem irren Motorradfahrer beschossen – auf dem Weg in die Eifel. Also lautet die nächste logische Frage: Hatte Günther Schulze etwas mit der Eifel zu tun?«

»Das weiß ich nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Wir können ja seine Frau anrufen und … o Scheiße!« Sie schlug beide Hände vors Gesicht.

Es begann zu nieseln, wir kehrten um und schwiegen eine Weile.

»Darf ich dich etwas fragen?«, begann sie.

»Frag nur.«

»Heißt das, dass du glaubst, dass wir den Günther Schulze irgendwo hier finden?«

»Das heißt es.«

»Tot?«

»Wahrscheinlich.«

»Ich will keine Toten mehr finden. Ich finde das alles grässlich.«

Das konnte ich gut verstehen. Dennoch musste ich weitermachen: »Ich frage dich noch einmal: Hältst du es für total normal, dass dieser Dr. Jürgen Sahmer mit seiner Angst, mit irgendeiner bösartigen Nachricht ausgerechnet zu dir wollte?«

»Ja«, murmelte sie und machte wieder ein paar schnelle, nervöse Schritte zur Seite und nach vorn. »Ich denke, es war vollkommen normal, dass er in so einer Situation zu mir kommen wollte. Ich … ich war immer für ihn da, wenn es ihm beschissen ging.« Bei den letzten Worten versiegte ihre Stimme.

»Warst du seine Geliebte?«

»Nein, nein, nein. So war das nicht, so war es nicht.«

»Du sollst nicht aufgeregt werden, ich urteile doch nicht, ich will etwas wissen.«

»Ja, ja, wir waren befreundet«, murrte sie.

»Was heißt das, zum Teufel?«

»Ich … ja, ich habe ein paarmal mit ihm geschlafen. Wenn es ihm schlecht ging, kam er zu mir.«

»In deine Wohnung?«

»Ja, auch. Wir waren ein paarmal am Wochenende zusammen weg. Auch hier in der Eifel. Wenn er Zoff hatte mit seiner Frau, zum Beispiel. Er hatte sonst niemanden, verstehst du?«

»Du hast auch mit dem Chef des Jürgen Sahmer geschlafen, nicht wahr?«

»Ja und?«

»Hast du auch mit Günther Schulze geschlafen?«

»Baumeister, ich bitte dich, jetzt wirst du geschmacklos. Es geht doch nicht um mein Liebesleben?«

»Das weiß ich nicht so genau. Hast du mit Schulze geschlafen?«

»Ja. Einmal. Kurz bevor er heiratete und vollkommen durcheinander war und nicht wusste, ob er seine Frau heiraten sollte oder nicht.«

»Da hast du mit ihm geschlafen, um ihm klarzumachen, er soll sie heiraten?«

»Du lieber Himmel, er war vollkommen durch den Wind. Was hat denn das mit diesen fürchterlichen Toten zu tun?«

»Du begreifst es immer noch nicht. Aber erst noch eine Frage: Wie haben sich Dr. Sahmer und Günther Schulze verstanden? Waren sie Freunde oder Feinde?«

»Sie mochten sich. Jeder hat auf seine Weise über den anderen gelächelt. Aber sie mochten sich und sprachen oft über irgendwelche politischen Dinge, über gesellschaftliche Entwicklungen und so.«

»Verstehst du mich immer noch nicht?«

»Was meinst du denn, Baumeister, verdammt noch mal?«

»Bleib einmal stehen und mach die Augen zu und höre. Also: Der Sahmer entdeckt irgendetwas, was ihm panische Angst macht. Und er rennt sofort zu dir. Der Schulze …«

»O Gott, meinst du, der … der wollte auch zu mir?«

»Das meine ich. Und wir haben jetzt nur die Frage zu klären, ob er tot ist oder noch lebt.«

»Aber wo könnte er sein, wenn er noch lebt?« Sie nahm die Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger und zog sie nach vorn. »Weißt du, eigentlich habe ich dauernd Angst und weiß nicht, vor wem oder was. Irgendwie, na ja, also ich denke, ich bin nirgendwo mehr zu Hause, seit die Sache mit diesem Volker passiert ist.«

Sie rannte ins Haus und hockte sich zu Anni, die vor dem Fernseher saß und irgendeinem sehr klug aussehenden Mann zuhörte, der sich leidenschaftslos darüber verbreitete, warum die Regierung nun endlich in die neue deutsche Hauptstadt Berlin umzuziehen habe.

»Anni«, sagte Clara ganz aufgeregt. »Stell dir vor, Baumeister denkt, dass Schulze wahrscheinlich auch zu mir wollte. Und irgendwie ist er unterwegs verlorengegangen.«

»Das habe ich auch schon gedacht«, sagte Anni und sah mich an.

Ich verzog mich und rief Alfred an. »Ich brauche heute nacht dein Auto. Und wenn möglich, weißt du nichts davon.«

In der Eifel verleiht man Autos höchst ungern und selten. Aber er sagte ohne zu zögern: »Steht in der Garage, Schlüssel ist drin.«

»Du bist ein Schätzchen.«

»Mir ist es lieber, du bringst ihn heil zurück.«

Anni kam und fragte, ob ich etwas essen wollte. Sie fragte eigentlich dauernd danach, und wahrscheinlich würde ich eine furchtbare Wampe haben, wenn sie hier vier Wochen blieb.

Ich sagte: »Nein, danke. Ich gehe überlegen.«

»Wo passiert das?«

»Im Steinbruch. Ich gehe immer in den Steinbruch, wenn ich überlege.«

»Du hast etwas vor, nicht wahr?«

»Natürlich, ich will überlegen.«

»Glaubst du an eine Spionagegeschichte?«

»Ich weiß nicht genau. Vieles deutet darauf hin.«

Sie schnaufte und nickte. »Ich bin ja nur eine Kriminalbeamtin. Kannst du mir erklären, was das für eine Sorte Spionage sein kann?«

»Gute Frage. Keine Spionage im Sinn irgendwelcher kriegstechnischen Dinge. Es geht nicht um Raketen, Panzer, Flugzeuge. Es geht um Wirtschaftsprodukte. Also zum Beispiel um lächerliche Plastikteile, die irgendjemand besonders kostengünstig herstellt, um sie an irgendeinen anderen besonders billig zu liefern. Wenn du weißt, auf welche Weise man sie herstellt, hast du die Hälfte des Erfolgs. Wenn du weißt, an wen sie auf der Welt zu welchen Bedingungen geliefert werden, hast du das ganze Geheimnis. Du brauchst bloß hinzugehen und dasselbe Stückchen Plastik einen Pfennig billiger anzubieten.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie ziemlich verwirrt.

»Ein Beispiel: Nissan braucht für das Armaturenbrett seiner Autos einen ganz bestimmten Hebel, um die Scheinwerfer der Autos an- und auszustellen. Nehmen wir an, dieser Hebel kostet beim Hersteller dreißig Pfennig. Es ist eine bestimmte Plastiksorte von ganz bestimmten Eigenschaften. Du brauchst Spezialmaschinen, um ihn herzustellen. Zuerst besorgst du dir ein Exemplar dieser Maschine, das heißt, du stiehlst entweder eine komplette Maschine, oder aber du stiehlst die Konstruktionszeichnungen. Dann brauchst du das Plastikmaterial. Du stiehlst davon ein paar Kilo, oder aber du stiehlst gleich das Rezept. Dann stellst du diesen Hebel her und sagst den Leuten von Nissan: ›Ich kann das Hebelchen für fünfundzwanzig Pfennig liefern.‹ Nissan braucht pro Jahr von diesem Ding etwa sechs Millionen Stück. Damit nicht genug, stiehlst du alle Herstellungsanleitungen von Plastikteilen für Nissan, die aus demselben Material mit derselben Maschine hergestellt werden können. Davon braucht Nissan insgesamt pro Jahr vielleicht sechzig Millionen. Fängst du an zu verstehen?«

»Es geht um Millionen Mark, nicht wahr?«

»Um Millionen Dollar, liebe Anni. Aber wir wissen nicht, ob es in unserem Fall so ist. Wir wissen noch gar nichts.«

»Dann geh überlegen«, sagte sie. »Da kann ich dir nicht helfen.«

Ich ging hinauf zu Clara, die sich auf ihr Bett gehockt hatte und eine Zigarette rauchte. »Störe ich euch nicht? Ich meine, ich kann doch auch wieder nach Hause gehen.« Sie war unsicher.

»Du bleibst hier. Und nach Hause kannst du nicht, das wäre zu riskant. Sag mal, wie sieht der Günther Schulze eigentlich aus?«

»Mittelgroß, so um die einhundertfünfundsiebzig Zentimeter, würde ich sagen. Ein heller Typ. Sein Haar ist so hellblond, dass wir alle den Verdacht hatten, er würde es färben. Aber es ist Natur. Schlank ist er. Aber wieso sage ich das? Ich habe noch ein Bild vom letzten Betriebsausflug.« Sie holte eine Brieftasche aus einem Lederbeutel und suchte ein wenig darin herum. »Wir waren in Rothenburg ob der Tauber. Das da rechts außen ist Günther.« Günther Schulze lachte in die Kamera. Er schien ein ausgesprochen sympathischer Typ zu sein, einer, der eher pfiffig wirkte als naiv.

»Kann ich das eine Weile behalten?«

»Na sicher. Er ist kein Allerweltstyp, du kannst ihn gar nicht übersehen, falls du ihn triffst. Und außerdem hat er immer seine Ente bei sich. Die ist grau-schwarz lackiert und sieht uralt aus, fast schon ungepflegt. Er sagt, die Ente als Antiquität sei ihm am liebsten.« Sie wirkte ziemlich schutzlos, und sicher kam sie sich verloren vor. Sie war jetzt nirgendwo zu Hause und konnte diesen Zustand nur schwer ertragen.

»Schlaf dich aus.«

Sie nickte wortlos und fummelte mit ihrer Zigarette im Aschenbecher herum.

Es war längst dunkel, es hatte zu regnen begonnen; der Wind ging sanft, er war lauwarm. Ich schlenderte durch das Dorf zu Alfreds Hof und sah durch einen Spalt der Jalousie die Familie vor dem Fernseher hocken. Nur Alfred war nicht dabei; er ist kein Mann, der seine Zeit mit Fernsehen vertut.

Ich fuhr nach hinten hinaus vom Hof und kam über einen langen Feldweg auf die Straße. Auf der Kreuzung in Kerpen nahm ich die Straße Richtung Ahrtal. Die ganze Zeit dachte ich über diesen seltsamen Mann namens Schulze nach, der angeblich so leidenschaftlich Schach spielte und so unglaublich naiv war.

Das Restaurant vor dem Campingplatz in Ahrdorf war noch hell erleuchtet. Ich stellte den Wagen ein paar Meter weiter ab. Durch das Fenster sah ich, dass eine Gruppe von Frauen und Männern an der Theke stand. An einem Tisch abseits saß ein Pärchen, sie auf der einen Seite, er auf der anderen, und starrte sich wortlos an. Die beiden wirkten wie eine Szene in einem Wachsfigurenkabinett.

Ich ging hinein und bat um einen Apfelsaft.

Ein großer Mann mit feuerrotem Gesicht, der wahrscheinlich binnen eines Jahres an Bluthochdruck sterben würde, grölte: »Wenn ich jetzt einen Apfelsaft trinken müsste, käme mir der Kommunionskaffee hoch.« Zwei Frauen neben ihm kreischten vor Vergnügen über diese köstliche Bemerkung.

Ich nahm den Apfelsaft, hockte mich an einen Ecktisch und stopfte mir eine Pfeife.

Die Wirtin war jung und robust und schien mir der Typ, der genau wusste, was auf dem Campingplatz vor sich ging. Ich trank den ersten Apfelsaft sehr schnell und ging, um mir ein neues Fläschchen zu holen.

»Ich suche einen Kumpel, der hier sein könnte«, erklärte ich leise. »Er fährt eine graue Ente, so ein altes Schätzchen. Ist er auf dem Platz?«

»Da ist einer mit Ente«, nickte sie. »Wie heißt er denn?«

»Unter uns Kumpels sagen wir immer Blondie«, meinte ich grinsend.

»Er sagt zwar, er heißt Fred«, lächelte sie. »Aber Blondie ist gut, Blondie passt.«

»Na also«, sagte ich. »Wo hat er denn sein Zelt aufgebaut?«

»Also, wenn Sie aus dem Haus rausgehen rechts, dann über die Brücke auf den Platz. Dann wieder rechts und durch bis zum Ende. Da ist das Stück für die Durchreisenden. Der muss eine gute Kondition haben. Bei der Saukälte nachts.«

»Hat er«, beruhigte ich sie, »hat er immer gehabt.«

Ich bezahlte, ging hinaus und wandte mich nach links. Hier hatte ich das Problem, irgendwie über die Ahr zu kommen, die an dieser Stelle schmal und stark gestaut reißend fließt. Sie ist zu breit, um zu springen, zu tief, um schnell durchzulaufen; die Ahr ist an dieser Stelle richtig mies.

Ich sagte mannhaft: »Gott steh mir bei« und rutschte ins Wasser. Es reichte mir etwa bis zum Nabel, und es war kalt. Ich kam überraschend glatt durch, aber es nahm mir den Atem. Ich kletterte hoch und blieb eine Weile stehen, bis meine Atmung sich beruhigte.

Der Wind kam stetig und gleichmäßig von Westen, es hatte aufgehört zu regnen, die Wolken rissen auf, und ein schmaler Mond gab ein wenig Licht.

Ich fühlte mich recht sicher, denn auf diesem Teil des Platzes war sein Zelt das einzige. Der Abstand zum nächsten Wohnwagen betrug sicherlich sechzig Meter. Ich schlich mich also zu seinem Auto und probierte vorsichtig die Tür. Es war offen. Er hatte rechts auf einer selbst gebastelten Ablage eine Taschenlampe liegen. Ich leuchtete die Zündvorrichtung an. Von Elektrik verstehe ich nichts, daher riss ich den blauen Draht einfach ab. Dann schloss ich den Wagen wieder und setzte mich unmittelbar neben den Zelteingang. Ich begann allmählich richtig zu frieren. Ich sagte: »Herr Schulze? Hören Sie mich? Ich möchte mit Ihnen reden.«

Im Zelt gab es eine schwache Bewegung.

»Keine Angst«, meinte ich beruhigend. »Ich bin nicht von der Polizei. Ich bin nur ein Freund von Clara Gütt. Ich muss mit Ihnen sprechen.«

Er schien ohne jeden Übergang wach zu sein. Er sagte klar und mit überraschend heller Stimme: »Augenblick bitte.« Nach einer Weile zog er den Reißverschluss in der Zeltwand unmittelbar neben mir hoch und streckte den Kopf hinaus. »Wie haben Sie mich gefunden?« Er bewegte sich schnell und leicht und hockte sich neben mich.

»Ich habe überlegt«, erklärte ich. »Zuletzt war es dann ganz einfach. Mein Name ist übrigens Baumeister. Wenn mich nicht alles täuscht, kennen Sie mich.«

»Wieso das?«, fragte er, nicht sonderlich interessiert.

»Weil ich denke, dass Sie es waren, der mich im Windbruch niedergeschlagen hat.«

Er schwieg eine Weile und murmelte dann: »Das ist richtig. Was wollen Sie von mir?«

»Auskunft darüber, wie die Gruppe aussah, in der Sie gearbeitet haben.«

Er überlegte wieder eine Weile. »Das kann ich nicht tun«, entschied er.

»Warum denn nicht? Volker ist tot, Sahmer ist tot.« Einen Augenblick spielte ich mit dem wahnwitzigen Gedanken hinzuzufügen: »Ihre Frau übrigens auch.« Aber ich ließ es, es war noch zu früh.

»Wie geht es Vera?«, fragte er.

»Eine Weile war sie in Schutzhaft. Jetzt ist sie wieder frei. Wer um Gottes willen versucht denn eigentlich, euch alle zu töten?«

»Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier«, sagte er.

»Kommen Sie mit? Ich habe in der Nähe ein Haus. Clara Gütt ist auch dort. Sie sind dort sicher.«

»Ich bin nirgends sicher«, sagte er, und er hatte Recht. »Wenn Sie nur die geringste Ahnung haben, könnten Sie so eine Bemerkung nicht ernsthaft machen.« Da war eine Spur von Verachtung.

»Stimmt«, gab ich zu. »Kommen Sie trotzdem mit?«

»Wie soll das vor sich gehen?«

»Wir lassen das Zelt hier, die Ente auch. Wir waten da vorne durch das Wasser. Oben steht mein Auto. Zehn Minuten, und wir sind im Warmen.«

»Das klingt gut«, sagte er ausdruckslos. »Was für eine Rolle spielen Sie?«

»Ich bin der blöde Mann von der Presse«, meinte ich mürrisch. »Nein, ich bin durch Zufall hineingeraten. Gestern hat jemand versucht, mich von einem Motorrad aus zu erschießen. Sagt Ihnen das etwas?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das sagt mir nichts. Also Zelt und Auto hierlassen, durch das Wasser, rein in Ihr Auto und ab durch die Mitte. Ist das richtig so?«

»Ja.«

»Ist die Polizei schon in dem Fall?«

»Natürlich. Das Bundeskriminalamt. Aber das sollten Sie doch wissen.«

»Ja, ja«, murmelte er vage. »Der Platz hier war so sicher …«

»Weiß Ihre Frau denn, wo Sie sind?«

»Sie hat keine Ahnung«, sagte er. »Wie geht es ihr?«

»Ich weiß es nicht«, log ich. »Ich kenne Ihre Frau nicht.« Es wurde eng, mulmig, mir war gar nicht gut.

»Also lassen Sie uns gehen«, meinte er nach einem kleinen Seufzer. »Ich nehme nur ein paar Sachen in einer Tasche mit.«

»In Ordnung, ich warte. Was werden die Leute im Restaurant sagen?«

Er überlegte eine Weile. »Nichts. Ich kann anrufen und ihnen sagen, dass ich in ein paar Tagen wieder hier bin.«

»Gut.«

Er bückte sich und verschwand im Zelt, und ich stand da und überlegte, wie er reagieren würde, wenn er hörte, dass seine Frau ermordet war.

Er kam heraus, zog den Reißverschluss zu. »Also, los dann.«

Ich ging vor ihm her, und ich wollte mich gerade zu ihm hindrehen, um ihm zu sagen, dass ich ihn ziemlich gerissen fand, als er mich mit etwas Hartem, Schwerem seitlich am rechten Ohr traf.

Ich stürzte nach vorn und fiel flach auf das Gesicht. Es brannte, und ich sah nichts mehr und konnte mich nicht mehr rühren. Das Gras roch merkwürdig anregend. Dann hatte ich Blutgeschmack im Mund und konnte die Augen wieder öffnen. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah, wie er am Zelt vorbei zu der Ente lief, sie öffnete und hineinsprang.

Ich kam sehr mühsam hoch und wankte. Ich konnte die Dinge nicht klar sehen, sie alle hatten viele Konturen, die sich überschnitten.

»Lass sein, Bruder«, seufzte ich. »Ich hab’ deine Karre kaputt gemacht.«

Er öffnete die Tür, stieg aus und kam zu mir zurück. Er tanzte vor mir hin und her und traf mich erneut an der rechten Kopfseite.

Ich fiel auf die Knie, und im Bruchteil einer Sekunde dachte ich wütend: Kleiner, du bist Witwer! Aber ich sagte nur verquollen: »Lass doch den Scheiß!«

»Ich will hier weg!«, sagte er scharf. »Nur weg von euch Pinschern.«

»Das geht nicht«, brachte ich mühsam heraus. Ich kniete, konnte nicht aufstehen; ich wollte mich auf meine Arme stützen, aber das führte nur dazu, dass ich vollends nach vorn fiel. Er sagte fast sanft: »Tut mir Leid.« Er sagte das so, wie das harte Männer in zweitklassigen Filmen tun. Dann traf er mich erneut am Kopf. Irgend etwas explodierte, ich verlor das Bewusstsein.

Als ich wach wurde, lag ich auf dem Rücken, und er ging mit einem Bündel in der Hand an mir vorbei. Es waren vermutlich Kleider. Ich rührte mich nicht. Er packte das Bündel auf den Rücksitz der Ente und kam zurück.

Ich blieb liegen und krächzte: »Mach doch keinen Scheiß, Junge. Diese Leute finden dich, egal wohin du gehst. Eines Tages kommt ein fröhlicher Motorradfahrer an dir vorbei und bläst dir das Gehirn raus.«

»Sie sind aber hartnäckig«, sagte er verwundert.

Ich begann ganz vorsichtig wieder normal zu atmen. Ich hörte, wie er an dem Zelt herumfummelte. Vermutlich wollte er es abbauen. Irgend etwas klapperte metallisch, wohl die Zeltstangen.

»Das ist doch kein Schachspiel«, sagte ich. Mein Kopf hämmerte wie verrückt.

»Auf gewisse Weise doch«, meinte er fast heiter und ging wieder an mir vorbei zu seinem Auto. »Ich habe den Zünddraht übrigens wieder angeschlossen«, sagte er mit einem unfrohen Lachen.

»Sie sind ein Arsch«, flüsterte ich.

»Ich kann damit leben«, antwortete er. Er kam zurück, direkt auf mich zu.

»Wollen Sie mich schon wieder bewusstlos schlagen?«

»Sicherlich«, stellte er nüchtern fest. »Wir sind ja nicht bei den Pfadfindern.«

»Und dann?«

»Dann fahre ich brav vom Platz, und Sie sehen mich nie mehr wieder«, meinte er zuversichtlich.

Er blieb vor mir stehen und war aus meinem Blickwinkel so hoch wie ein Kirchturm.

»So ein Scheiß!«, sagte ich heftig, zog die Beine an und trat zu.

Er schrie grell auf, klappte nach vorn und fiel auf mich. Er war schon bewusstlos, als er aufschlug; sein Ellenbogen traf mich seitlich im Magen. Ich rollte ihn von mir herunter, blieb liegen und schnaufte eine Weile. Dann begriff ich: Wenn ich nicht sofort hochkam, konnte es geschehen, dass ich erneut ohnmächtig wurde. Ich kämpfte mich also auf die Füße, kniete im Gras, ließ den Kopf hängen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Es war unmöglich, ihn quer über die Wiese, durch die gestaute Ahr und den Hang hinauf bis zum Auto zu schleppen. Ich konnte sein Zelt und sein Auto auch nicht einfach hierlassen. Im Restaurant hatte man mich gesehen, und es würde nur Minuten dauern, um festzustellen, wer ich war. Ich zerrte ihn also hinüber zu seinem Auto und verfrachtete ihn keuchend auf die Rückbank. Dann lud ich alles in das Auto, was ihm gehörte. Das Zelt und die Tasche warf ich einfach auf seinen vollkommen schlaffen Körper.

Dann startete ich das Vehikel und schaukelte über die Wiese. Ich kam mir vor wie in einem besonders bösartig konstruierten Karussell, aber das Ding fuhr. In Üxheim steuerte ich die Telefonzelle an und rief meine Nummer an. Anni war am Apparat.

»Hör zu und sage nichts. Ich hab den Mann, und ich will mit ihm sprechen, bevor andere das tun. Du gehst jetzt nur auf den Hof und machst das Gartentor auf. Ich fahre dann rein.«

»Warum machst du es so geheimnisvoll?«

»Lieber Himmel«, explodierte ich, »stell dir vor, dein Kollege Müller erfährt, dass wir Schulze haben. Der wird doch verrückt!«

»Oh, wie hübsch!«, hauchte sie und hängte ein.

Allmählich wurde mir flau, denn Schulze gab noch immer keinen Laut von sich, als ich wieder in seinem Vehikel saß.

»Heh«, sagte ich. »Wachen Sie auf. Zeit zu sterben haben Sie immer noch.«

»Ich habe Schmerzen«, sagte er gepresst.

»Das ist das sicherste Zeichen für Leben.« Ich war heiter, ich war ausgesprochen heiter.