7. Kapitel

Wenig später kam ein höchst eindrucksvoller BMW auf meinen Hof gerauscht und holte Müller mitsamt seinem Schützling ab. Müller sagte zum Abschied: »Bei Sonnenschein ist die Eifel wirklich phantastisch.«

Die Sonne stand hoch, es musste etwa vierzehn Uhr sein. Hinter dem Haus lag Krümel, gestreckt auf ungefähr fünfundsiebzig Zentimeter Länge, auf einer kühlen Schieferplatte und gähnte unablässig. Dann schlug sie matt nach einem kleinen Fuchs, der bernsteinfarben vor ihrer Nase flatterte. Sie erwischte ihn nicht.

Anni hockte in einem Gartenstuhl an meiner Natursteinmauer und las in irgendeinem Buch.

»Wo ist eigentlich Clara?«

»Sie liegt auf deinem Bett und denkt darüber nach, wie ihr vergangenes Leben ausgesehen hat. Da sie nichts von allem gespürt hat, macht ihr das Kummer. Willst du sie sprechen?«

»Wir wissen nichts von diesem Bleibe«, meinte ich zerstreut. »Von diesem Kompagnon des Kanter aus Chemnitz.«

»Ich schicke dir Clara«, seufzte sie. Als sie an mir vorbeikam, fragte sie: »Blickst du noch durch?«

Ich schüttelte den Kopf und verzichtete auf eine Antwort. »Was ich über meinen Vater gesagt habe, war übrigens nicht so gemeint.«

»Ja, ja, ich weiß. Aber trotzdem könntest du Recht haben.« Sie verschwand um die Hausecke, und ich hockte mich unter den Haselbusch, um auf Clara zu warten. Als sie schließlich kam, sagte ich: »Setz dich und hör mir zu. Ich versuchte, Klarheit in meinem Gehirn zu bekommen. Dabei fiel mir ein, dass ich eigentlich nichts über diesen Doktor Bleibe weiß, diesen Kumpel von Dr. Kanter. Was kannst du mir denn über ihn berichten?«

Sie spielte mit einem trockenen Aststückchen herum. »Er heißt Dr. Werner Bleibe, ist Kaufmann und Chemiker. Ein beschissener Wissenschaftler, wie Kanter immer sagt, aber ein erstklassiger Manager. Er muss jetzt einundfünfzig Jahre alt sein. Er ist natürlich Mitglied der SED gewesen, weil du ohne die Partei wohl nicht mal husten durftest. Er ist Sachse und hat eine furchtbare Frau. So eine Wasserstoffblonde, weißt du? Sie hat eine hohe Stimme und kreischt immer, wenn sie lachen will. Der Mann leidet stark unter dieser Frau. Kinder haben sie, soweit ich weiß, keine. Nach der Wende haben die Leverkusener mit ihm kooperiert. Sie haben jede Menge Geld in den Chemnitzer Betrieb gesteckt, er gehört jetzt ihnen. Kanter führte natürlich die Verhandlungen. Kanter kennt Bleibe schon seit 1980, also mehr als zehn Jahre. Bleibe ist ein unheimlicher Raffer. Wir hatten einmal ein kaltes Buffet bei Kanter zu Hause. Morgens, als alle anderen schon längst besoffen waren und ich dabei war aufzuräumen, kommt doch dieser Bleibe und packt sich jede Menge Steaks in eine Plastiktüte. Er sieht mich, blinzelt mir zu und sagt: ›Es wäre ja schade, das alles den Schweinen vorzuwerfen!‹ So ist Bleibe.«

»Wie fing denn das alles an? Du musst doch damals Kanters Sekretärin gewesen sein.«

»Das war ich«, sagte sie. Sie zündete sich eine Zigarette an und sah dem träge aufsteigenden Rauch nach. »Normalerweise sind wir an diese ostdeutschen Manager nur im Rahmen von Kongressen herangekommen. Also, da treffen sich Chemiker in New York oder Tokio, und bei der Gelegenheit konntest du dann mal einen Kollegen aus der DDR kennen lernen. Ich weiß genau, dass Kanter zum ersten Mal in Stockholm auf Bleibe traf. Das muss wie gesagt so 1980 gewesen sein. Du musst wissen, dass die DDR-Leute in Plasten und Elasten Klasse waren. Von denen konnten wir viel lernen. Natürlich hat Kanter das gewusst und den Dr. Bleibe systematisch eingewickelt. Das war ja nicht schwer. Das fängt bei Naturalien an, wie immer.«

»Was sind denn Naturalien in diesem Fall?«

»Mädchen, Frauen, irgendetwas mit Pep, irgendetwas, wovon der Herr Generaldirektor schon immer geträumt hat.«

»Hat denn Kanter etwas von Bleibe gekauft?«

»O ja, die hatten in der DDR durchaus Dinge, die wir von ihnen haben wollten. Bestimmte Plastikmischungen, bestimmte elastische Stoffe und so weiter.«

»Es wurde also eine richtige Männerfreundschaft?«

»Die haben sich sicher sechs- bis achtmal pro Jahr irgendwo getroffen. Manchmal in Leverkusen, aber meistens im Ausland. Kanter war Bleibes Wessi-Schatz. Ich habe all die Sachen ausgesucht, mit denen Bleibe seine Frau beruhigte. Einmal war ich mit Kanter in Chemnitz. Das ganze Haus vom Bleibe war voll mit dem Scheiß, den ich für ihn immer besorgen musste: Fernseher, Waschmaschinen, Videogeräte, Möbel. Der Witz war, dass mir diese superblonde Osttussi das alles vorführte, um damit anzugeben, dass sie alles hatten. Die wusste nicht, dass ich das alles bestellt und ihr ins Haus geschickt hatte.«

»Moment, Moment, das war doch sicher nicht einfach. Wie kamen diese Sachen über die Grenze?«

»Das war sogar sehr einfach. Die DDR-Leute hatten jede Menge Firmen bei uns, vor allem in West-Berlin. Die hast du angerufen, dass hier das und das abzuholen und an eine bestimmte Adresse in der DDR zu liefern sei. Dann fuhr ein Lkw vor, und alles ging seinen Weg. Ich habe sogar für Bleibe drei Nummernkonten einrichten müssen, eins in Vaduz, eins in St. Gallen und eins in Hongkong.«

»Bekam er auch Geld?«

»Er bekam Beratergebühren, wenn er mit uns ins Geschäft kam. Das war so üblich. Die DDR-Bonzen verdienten ja an uns gemessen wirklich beschissen. Wenn wir also mit Bleibe ein Geschäft von zweihundertfünfzigtausend Dollar machten, bekam er zehn Prozent auf eines dieser Konten. Kanter sagte immer: ›Sie brauchen doch Bewegungsgeld, mein Lieber!‹ Ich weiß, dass das viele Betriebe machten.«

»Also: Wenn Bleibe Kanter irgendwo im Ausland traf, bekam er Miezen und Kaviar und Sekt und so weiter. Und dafür verteidigte er den menschlichen Sozialismus?«

Wir sprachen miteinander wie zwei flüchtige Bekannte, freundlich und fremd.

»So war das die ganze Zeit.«

»Und wie ist das jetzt?«

»Na ja, die Mauer ist weg, die DDR auch. Jetzt ist Bleibe mit seinem Unternehmen ein Teil von Leverkusen. Und Bleibe ist wirklich clever, den bootet kein Mensch aus.«

»War er auch Agent der Stasi?«

»Das weiß ich nicht genau, aber wir sind immer davon ausgegangen, dass die Stasi systematisch von ihm Berichte über seine Westkontakte bekam. Und ich erinnere mich, dass Kanter ihm einmal im besoffenen Kopf so einen Bericht diktiert hat. Es war eben der reine politische Wahnsinn.«

»Überleg mal genau: Welche Vorteile hatte Kanter eigentlich durch die Verbindung mit Bleibe?«

»Na ja, das ist einfach: erstens die Geschäfte und zweitens die Verbindung. Über Bleibe führte der Weg zu den Russen, auch zu den Ungarn und Tschechen. Glaubst du eigentlich, dass ich das alles noch einmal raffe?«

»Aber sicher. Du wirst es im Laufe der Zeit verstehen lernen, und du wirst lernen, dir deine Blindheit nicht mehr übel zu nehmen. Hast du irgendeine Vorstellung, wohin die Grenzow verschwunden sein kann?«

»Ich habe darüber auch schon nachgedacht. Nein, ich weiß es nicht. Aber wenn ich sie wäre, würde ich in der Ex-DDR untertauchen. Und wahrscheinlich hat sie ja auch die Möglichkeit, an falsche Papiere zu kommen. Wenn ich Günther Schulze richtig verstanden habe, kann das keine Schwierigkeit sein. Geld genug hat sie sicher auch.«

»Ja, sicher.« Ich war müde und enttäuscht, und mir fiel keine Frage mehr ein. »Ich gehe eine Weile spazieren.«

»Hm.« Sie nickte, und dann trollte sie sich, hockte sich unter die Birke und hielt das Gesicht in die Sonne. Sie war sehr allein in diesen Stunden, und ich konnte ihr nicht helfen.

Wenn du dem Fluss einer Handlung stromaufwärts folgst, kommt unweigerlich der Punkt absoluter Erblindung. Du siehst nichts mehr, du stehst vor einem breiten Wüstenstreifen, hörst das Wasser gluckern und kannst nicht herausfinden, wo es entspringt. An diesem Punkt musst du dich fügen, nicht ins Grübeln geraten. Du musst versuchen, wieder auf den Teppich zu kommen, das Leben zu sehen.

In solchen Fällen gehe ich in die Kneipe zu Mechthild oder in die ›Tasse‹ nach Hillesheim. Es ist gleichgültig, ob Erwin mich mit fröhlich glitzernden Augen einen ›Hungerlappen‹ schimpft oder Trixi mir erzählt, wie bitter und lehrreich es war, als ihre Mama starb: Sie holen mich sanft aus dem Chaos meiner durchaus nicht geordneten Überlegungen.

Was blieb? Da war die verschwundene Vera Grenzow, da war ihr Chef und Geliebter, der Dr. Helmut Kanter. Da war der SPD-Bundestagsabgeordnete Sven Sauter, da war der Motorradfahrer Harry Lippelt, da war der Kanter-Kumpel Dr. Werner Bleibe.

Trixi sagte, das Walnusseis sei phantastisch, also bestellte ich mir davon und bekam augenblicklich Magenprobleme, was wohl mehr mit meiner Nervosität als mit der Qualität des Eises zu tun hatte. Ich bat Trixi um das Telefon und rief bei mir zu Hause an. Anni nahm beim zweiten Läuten ab, und ich sagte ihr: »Gib mir Clara, bitte. Und geht nicht aus dem Haus, während ich weg bin.«

»Wohin willst du denn?«

»Ich weiß noch nicht.«

Dann kam Clara an den Apparat. Ich fragte: »Wo wohnt dieser Harry Lippelt?«

»Südstadt, Düsseldorf. Da gibt es so einen kurzen Straßenstrich. Du findest ihn fast immer in einer Kneipe namens ›Oppossum‹. Falls er da nicht ist, musst du eine Gertie suchen. Das ist eine Nutte, mit der er lebt. Sie arbeitet in einem schmalen Hotel Garni um die Ecke. Er wohnt in der Gertrudenstraße siebzehn, auch mit dieser Gertie. Aber da ist er erfahrungsgemäß selten.«

Ich wunderte mich ein wenig, wie genau sie Bescheid wusste. Aber in ihrem Job war sie wohl wirklich gut. Also sagte ich bloß: »Okay. Danke und bleib sauber, oder was man so sagt.«

»Aber du hast doch gar kein Auto«, sagte sie drängend. Es war klar, sie wollte mit mir kommen.

»Ich besorg’ mir eins«, sagte ich. »Tut mir Leid, das muss ich alleine machen. Ich kann das Risiko nicht eingehen, dass dir etwas geschieht.«

Ich sagte ihr nicht, dass ich ein Risiko für sie eigentlich gar nicht sah: Sie war in diesem Spiel die jugendliche Naive, und alle Beteiligten hatten sich blind darauf verlassen, dass es bis zum Ende ihres Lebens so blieb.

Ich bat Ben in der ›Tasse‹ um sein Auto, und er gab es mir, ohne zu fragen. Es hatte zu regnen begonnen, und ich fuhr vorsichtig.

Das ›Opossum‹ in Düsseldorf war eine Kneipe, die dermaßen mit verschnörkelter Massiveiche zugestellt war, dass man sie entweder auf Anhieb hasste oder liebte. Ich entschloss mich zur ersten Variante. Aus einer Anlage dröhnte jemand, der dauernd ›Lieb’ Mütterlein mein‹ brüllte und nach zu viel Alkohol klang. An der Theke standen Frauen und Männer in zwei Reihen und tranken Alt, berufsmäßig schnell, versteht sich. Die Tische waren vollbesetzt mit zufrieden wirkenden Ehepaaren, die so aussahen, als besäßen sie alle einen Campingbus mit dazugehörigem Vorzelt. Ausgesprochen junges Volk gab es nicht, es handelte sich eindeutig um die Arrivierten, die nicht mehr ganz jungen Männer mit Bauch, die angemalten Damen mit viel Gold und Glitzer.

Hinter dem Tresen agierte ein Schnauzbart mit stoischem Gesicht, der seinen Verkauf dadurch ankurbelte, dass er von Zeit zu Zeit einen dreckigen Witz aufsagte und selbst nicht lachte. Das war richtig wunderbar.

»Einen Apfelsaft willste, Jung?«, fragte er ungläubig. »Du meinst Apfelkorn.«

Schon lachten sie wieder.

Als ich meinen Apfelsaft bekam, fragte ich: »Harry und Gertie suche ich, bitteschön.«

Er schoss einen scharfen Blick auf mich ab und deutete dann über meine Schultern hinweg. »Da sitzt Gertie, Harry kommt später.«

Ich drehte mich herum. Sie hatte eindeutig die Figur der pretty woman, aber das Gesicht der Heidi Kabel nach sechs Stunden Ohnsorg-Theater. Sie trug etwas Feuerrotes, das ihr knapp über den Hintern reichte. Und selbstverständlich lange Stiefel. Wer macht es schon noch ohne …

An ihrem Tisch saß eine Träne von Kerl, der sie offenkundig distanzlos anhimmelte und kein Wort sagte, aber so aussah, als würde er im Ernstfall stottern. Gertie war Sünde, und Sünde war angesagt. Ich fasste also mein Glas fester und marschierte auf den Tisch zu, beugte mich zu ihr hinab und fragte: »Kannst du mir eine Verbindung zu Harry Lippelt machen?«

Sie sah mich kurz an und meinte dann zu der Träne. »Kundschaft, Junge. Mach dich vom Acker!«

»Heh«, widersprach er, »ich bin auch Kundschaft.«

»Ja, ja«, sagte sie mürrisch, »aber du bist Kundschaft im Schlussverkauf mit Ratenzahlung. Also marschier schon ab.« Die Träne erhob sich, nahm das Bierglas und entschwand irgendwohin.

»Ich suche eigentlich nur den Harry«, sagte ich.

»Das macht ja nix«, sagte sie. »Ich schätze mal, er kommt gleich. Aber gut drauf ist er nicht. Ich sag’ das nur, falls du irgendwas Geschäftliches mit ihm hast. Er ist gar nicht gut drauf.«

»Das ist mir egal«, meinte ich. »Ich bringe ihm Bares. Wenn er es haben will, gut, wenn nicht, auch gut.«

Sie grinste mit einem schneeweißen Pferdegebiss, worauf sie stolz war. »Um das Bare kann ich mich auch kümmern.«

Eigentlich sah sie genauso gierig aus wie ein Haifisch, aber sie war ein sympathischer Hai. Daher reizte ich sie noch ein wenig. »Es kann um eine Menge Geld gehen, das weiß man nicht so genau. Aber du kannst mir wenig helfen, es geht eigentlich nicht um Harry persönlich, sondern um seine Freundin. Du verstehst schon.«

Sie verstand gar nichts. »Freundin? Wieso Freundin?«

»Ach, das war nur so’n Ausdruck von mir. Ich meine seine Chefin, diese etwas arrogante Type, diese … diese …«

»Diese Doktor Grenzow, Frau Doktor. Um die?«

»Genau um die.«

»Und was soll er da machen?«

»Machen soll er gar nichts. Er soll nur ein wenig reden. Komisch, diese Frau.«

»Sag mal, bist du ein Bulle?« Sie hatte auf einmal ganz verkniffene Augen, und ihr Mund war nur noch ein Strich. Rechts und links liefen zwei scharfe Falten von ihren Mundwinkeln herunter.

»Quatsch. Sehe ich aus wie ein Bulle? Nein, nein. Ich habe einen Chef, und der traut ihr nicht übern Weg. Und da soll ich Auskünfte einholen. Geht um Geld, verstehst du?«

»Das versteh’ ich. Aber Harry sagt bestimmt nichts gegen die. Auf die lässt er nichts kommen. Er nennt sie immer Königin-Mutter. Königin-Mutter will dies, Königin-Mutter will das. Und Harry macht es. Besonders die Kissenschlachten.«

»Die was?«

Sie kicherte, jetzt hatte sie endlich ein gutes Thema. »Na, die Kissenschlachten. Also Harry ist da ja Hausmeister und Maschinenwart und Schlosser und Laufbursche und alles eben. Aber Harry ist auch ein guter Bock, ein wirklich guter. Und da hat sie sich angewöhnt, ihn ab und zu kommen zu lassen. Da muss Harry Böckchen spielen, verstehst du? Und weil Harry gut ist, verdient er da locker einen bis zwei Tausender im Monat. Wie bist du denn eigentlich auf Harry gekommen?«

»Frag mich nicht. Das war ziemlich einfach. Ich habe erst über die Firma ein paar Erkundigungen eingezogen, und dabei bin ich auf Harry gestoßen. Harry, hat man mir jedenfalls gesagt, ist ziemlich helle in der Birne. Und also will ich ihn was fragen, verstehst du? Das ist alles. Ganz seriös. Und es ist echt was für ihn drin dabei.«

»Tja, wenn das alles ist. Was ist mit uns, mein Schatz?«

»Vielleicht ’ne Pulle, vielleicht reden, aber nicht auf die Matratze.«

»Vielleicht ein Joint? Vielleicht ein Speed, eine schöne kleine Tablette, damit du gut drauf bist?«

»Nichts, Gertie. Na gut, du bist Harrys Braut. Also schieben wir ab. Hast du eine Pulle? Wir gehen zu dir und reden, und ich schieb’ dir eine Nummer Bares rüber. Okay so?«

»Okay«, sagte sie. »Ist gleich um die Ecke.«

Sie stakste auch wie pretty woman, ausgreifend, ein wenig breitbeinig, erobernd.

»Hast du auch einen bürgerlichen Beruf?«

»Nie gehabt«, sagte sie. »Man versucht es, aber du fällst immer wieder auf die Schnauze. Harry will ja ’ne Kneipe irgendwann oder ein Café, irgendwas in der Art. Aber ich sage immer: Junge, lass die Finger davon! Erstens bist du selbst dein bester Gast, und zweitens greifst du pausenlos in die Kasse. Aber er will es nicht kapieren. Ich wollte neulich mal in ein Sonnenstudio reinriechen. Ich dachte: Vielleicht ist das was für Mutters Töchterlein. Also hab’ ich da als Geschäftsführerin angeheuert. O Mann, das war ein Ding. Mein Chef hat siebzehn oder achtzehn Studios. Als er merkte, dass mir das richtig Spaß macht, hat er erst mal die Putzfrauen rausgeschmissen und mir den Job zusätzlich aufs Auge gedrückt. Dann habe ich entdeckt, dass der in seinen Grills noch Röhren von 1986 drin hatte. Die sind dauernd durchgeknallt. Dann funktionierten die Schiebetüren in diesen Bratröhren nicht, und die Kunden waren eingeschlossen und flippten aus. O Mann, nein.« Sie warf die Hüften nach vorn und ging ein wenig so, als befände sie sich im Ansturm auf eine Liegewiese.

Zwei Männer kamen uns entgegen, die nach Kanalmatrosen aussahen.

»Heh, Jungens!«, sagte sie fröhlich.

»Hallo, Baby«, sagte der Dünnere von den beiden. Der Dickere starrte sie an und sagte nichts.

»Bin gleich wieder im ›Opossum‹«, sagte sie und zeigte ihr Pferdegebiss.

»Wir warten, Baby«, sagte der Dünne und wiegte sich in den Schultern.

Das Schild über der Haustür lautete: ›.ote. garn.‹. Sie schloss auf, und im Flur roch es eindeutig nach Pissoir.

»Die haben hier nicht mal eine Putzfrau«, sagte sie. »Aber sie kassieren pro Tag zweihundertfuffzig für das Loch. Da muss eine alte Frau lange für stricken. Außerdem zahlst du satte zweieinhalb Riesen, wenn du dich einmietest. Die kriegst du nur wieder, wenn dein Macker dem Hausbesitzer aufs Dach steigt und ihm zeigt, was eine Harke ist. O Mann, diese Welt ist echt geldgeil.«

Ihr Zimmer war wirklich ein Loch, mit uralter Blümchentapete, deren Farben in dem schummrigen Licht nicht mehr auszumachen waren. Das Bett in Rot, die Fenstervorhänge in Rot. Über dem Bett an der Wand ein Kruzifix. Ich erinnerte mich an eine andere Prostituierte in einem anderen Land, die ausgewaschene Präservative über die Querbalken des Kreuzes hängte, um sie dort zu trocknen.

»Darf ich mir die Schuhe ausziehen?«

»Du darfst alles ausziehen«, sagte sie. »Wie ist es mit einer Flasche Schampus?«

»Trink nur. Ich bezahle die Flasche und eine Nummer. Und wir reden.«

Sie fummelte an dem kleinen Eisschrank herum und stellte zwei Gläser auf den Boden neben das Bett.

»Nicht für mich. Ich muss klar bleiben.«

»Wie du willst. Aber hinlegen darf ich mich schon, oder?« Sie legte sich hin und sah einen Augenblick lang wie eine sehr alte, erschöpfte Frau aus.

»Also hat Harry mit seiner Chefin geschlafen?«

»Muss er, mein Lieber, muss er. Gehört zum Job.«

»Was erzählte er davon?«

»Nichts Besonderes. Harry sagte: Jedesmal, wenn es ihr kommt, schreit sie erst oh, oh, und dann gelobt sei Marx und Lenin, also diese toten Kommunisten. Es gibt eben schon komische Vögel.«

»Sonst nichts?«

»Sonst nichts. Na ja, sie lässt sich halt Tricks beibringen und sagt zu Harry, er sei der heimliche Schulmeister der Oberen Zehntausend, oder so. Aber das verstehe ich nicht.«

»Was ist mit diesem Kanter, diesem Dr. Helmut Kanter hier aus Düsseldorf?«

»Das ist der Ständige von der Grenzow. An den gibt sie auch die Tricks dann weiter. Manchmal kommt er auch ins ›Opossum‹. Wenn er schon genug getankt hat. Manchmal sagt er dann auch, er braucht eine Bude hier. Dann geht er mit der Frau Doktor hierhin, und sie bezahlen mich gut. Ein Tausender pro Nacht. Aber das ist selten.«

»Was ist mit dem Bundestagsabgeordneten Sven Sauter? Kennst du den?« Für einen Moment dachte ich, das sei die falsche Frage gewesen; sie blickte mich lauernd an. Dann aber machte sie weiter, als wäre nichts gewesen: »Na sicher. Der ist immer um Kanter herum. So ein Schleimtyp.«

Sie war von der Sorte gefährliche Zeugen, sie war jemand, der gerade so viel sagte, dass man aus ihren Äußerungen alles und nichts interpretieren konnte. Ich streckte mich neben ihr ein wenig aus. Ich fühlte mich erschöpft. Aus dieser Perspektive sah ihr Gesicht zuweilen fast schön aus, zuweilen sah man die Falten am Hals, die groben Poren der Haut.

»Hast du mit diesem Sauter irgendwas zu tun gehabt?«

Wieder zögerte sie. Dann sagte sie betont forsch: »Na ja, einmal schon. Da war er nicht schlecht. Harry hat ja den Offenbarungseid geleistet, als er zuletzt aus dem Knast kam. Das haben die ja alle. Und da schreibt er alles, was er hat, auf mich um. Da brauchten wir einen besseren Dauerkredit, und die Bank wollte nicht. Na ja, das habe ich Sauter so erzählt, weil er sagte, er hätte Bankleute, die fressen ihm aus der Hand. Eines Tages ruft mich ein Typ von einer Bank an und sagt, er würde sich freuen, mit mir Geschäfte zu machen. Und ob ich nicht mal vorbeikommen wollte. Na ja, ich also hin. Hab’ mich angezogen wie die Friseuse von nebenan. Da sagt der Bankfritze doch, er könne mir für den laufenden Überziehungskredit doch glatt zehntausend mehr zu gleichen Konditionen bieten. Das ist doch was, sage ich. Aber ich brauche noch einen Sonderkredit für ein Motorrad. Ja, macht doch nix, sagt er. Können wir bereden. Also habe ich alles festgemacht und Harry die Maschine geschenkt. Hatte er auch verdient, weil er ist eigentlich gut. Und wenn ich mal schlecht drauf bin, kann ich blaumachen.«

»Das war die schwarze Yamaha, nicht wahr?«

Sie sah mich an, zog beide Augenbrauen hoch und strahlte: »Dass du das weißt. Na klar, wir haben die ganz normale Ausgabe gekauft, und Harry hat sie zu einem Kumpel gefahren und schwarz spritzen lassen. Ich war erst fast ein bisschen sauer. Ein Geschoss ist das, sage ich dir.«

»Aber er hatte doch vorher schon so eine Maschine, aber mit Werkslackierung. Hat er die denn auch noch?«

»Na sicher, aber die benutzt er ja nur hier. Die Schwarze ist doch für den Ring, also den Nürburgring. Weil er doch zu denen gehört, die dauernd in die Eifel rasen und da ihre Rennen machen. Der Hammer war ja, dass ich die Maschine gekauft habe, und vierzehn Tage später kommt Harry mit einem Scheck, und da steht genau der Zaster drauf, den die schwarze Maschine gekostet hat. Zahl ein, Baby, sagt er. Meine Frau Doktor ist der Meinung, ich hätte das verdient. Aber das kam mir gerade recht. Ich also zur Bank und sage dem Fritzen: Also, hier hätte ich eigentlich das Geld für den Kredit, aber ich brauche das noch. Macht nix, sagt er, wir können es weiterlaufen lassen. Auf diese Weise habe ich mir nämlich ein BMW-Cabrio kaufen können. Harry sagte, ich wäre ein Ass.«

Sie war sehr mit sich zufrieden, sie räkelte sich und nippte an dem Sekt. »Hat Harry irgendwann mal etwas erzählt, dass er auch private Aufträge seiner Chefin erledigen muss?«

»Dauernd«, sagte sie. »Da war ich auch schon sauer. Weil ich dachte, was will die alte Schabracke denn dauernd von meinem Harry? Dauernd irgendwelche Aufträge. Manchmal raste er mir nix dir nix zu so einem blöden Volker nach Wien. Dann wieder zu demselben Volker nach Stockholm. Er schleppte irgendwelche Zettel mit, sonst nix. Er wurde gut bezahlt dafür. Ich war richtig sauer, dass er mich nicht mitnahm. Aber er sagte: ›Die Bedingung ist, dass ich alleine und schnell fahre. Zu Kanter, zu Sauter, zum Außenministerium in Bonn.‹ Ich sage, was machst du denn da? Und er sagt: ›Weiß ich doch nicht. Ich muss nur irgendeinem Bonzen einen Brief geben. Nicht beim Portier abgeben, sondern persönlich in die Hand drücken.‹« Jetzt wurde sie ganz vertraulich. »Einmal hatte er auf so einer Tour einen Unfall. Also, er war gar nicht schuld, da ist einer bei Gelb an der Kreuzung voll durchgefahren. Harry hatte einen dicken braunen Umschlag nach Bonn zu bringen. Und er ist auf dem Asphalt voll auf die Schnauze gefallen, und der Umschlag in der Lederjacke ist auf dem Asphalt völlig aufgescheuert. Nanu, denkt Harry ganz perplex«, sie lachte richtig amüsiert »da flattern doch tatsächlich Geldscheine um ihn rum. Tausender. Genau sechzig Stück.«

»Wahnsinn«, murmelte ich verwundert. »Und was hat er gemacht, dein Harry?«

»Na ja, er hat die Kohle eingesammelt. Dann kamen die Bullen und so. Später ist er dann in ein Bürogeschäft gegangen, hat einen neuen Umschlag gekauft, das Geld reingetan und überbracht. Der Bonze hat ihm den Brief aus der Hand genommen und gesagt: ›Aha, der Bauplan von Frau Dr. Grenzow! Vielen Dank, lieber Mann! Und hier haben Sie eine Marke, Sie können sich in der Kantine ein Bier geben lassen!‹ Mann, haben wir gelacht.«

»Er scheint ein guter Typ zu sein, dein Harry. Wie ist er denn eigentlich an diese Dr. Grenzow gekommen?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Er hatte Verhandlung wegen irgendeiner Einbruchsache. Oder warte mal, nein, er war Zeuge. Und da tauchte sie auf und sagte, das wäre eine Vertrauensposition. Ob er nicht Lust hätte? Da hat er es eben gemacht.«

»Die Grenzow ist meiner Meinung nach manchmal ja echt heavy. Hat sie Harry jemals mit seinen Vorstrafen erpresst oder so?«

»Nein, davon hat Harry nichts gesagt. Da ist er auch unheimlich empfindlich. Da sagt er immer: ›Wenn mir mit einem so was passiert, blase ich den auf und lass ihn platzen.‹ Sagt er.«

»Er bläst ihn auf und lässt ihn platzen, aha. Und was heißt das?«

»Das weiß ich nicht, aber ich hab’ mal erlebt, dass ein Macker an mich ranwollte. Lieber Himmel, hat er den durch den Rinnstein gezogen.«

»Kann er eigentlich auch schießen, dein Harry?«

Sofort wurde sie wieder misstrauisch.

»Heh, was willst du? Ich denke, du bist hinter der Grenzow her?«

Ich lachte beruhigend.

»Bin ich ja auch. Aber was du da erzählst, sieht ja doch so aus, als würde die Grenzow ihn zu allem möglichen benutzen, oder?«

Ganz war sie immer noch nicht überzeugt. Doch schließlich redete sie weiter: »Ach so. Na ja, so was hat er noch nicht erzählt. Er war bloß mal mit Kanter jagen, der hat wohl ’ne eigene Jagd in der Eifel. Meist redet er sowieso bloß von seiner Chefin. Er sagt, die Grenzow kann alles, wenn sie will. Wirklich alles. Er sagt, für die Frau gibt es kein Hindernis, absolut kein einziges Hindernis. Er ist ja auch der Babysitter bei der Grenzow.«

»Was, bitte, ist denn ein Babysitter?«

»Na ja, wenn sie zum Beispiel nach Wien musste, flog sie natürlich. Also sie setzt sich hier in Lohhausen in ein Flugzeug, und Harry setzt sich auf die Maschine …«

»Auf die schwarze?«

»Nein, nein, auf die Normalausgabe, und er rast also auch runter. Und dann blieb er immer um sie herum, weil sie sagte, manchmal lebe sie gefährlich. Ich hab’ dann Harry auch gefragt, warum sie denn gefährlich lebt, wo sie doch nur Pappschachteln für Parfüms und Seifenpulver und all so ein Zeugs macht. Aber sie hat ja, wie Harry sagt, noch diesen anderen Job. Sie ging ja auch nie ohne Waffe. Und …«

Mit einem wissenden Blick sah sie mich an. Zwei Dinge waren mir völlig klar: Sie glaubte mir kein Wort von meiner Story, und sie würde alles tun, um Vera Grenzow in die Pfanne zu hauen. Jedenfalls hatte sie es faustdick hinter den Ohren. Schließlich fuhr sie fort: »Na, das kannst du den Harry ja besser alles selber fragen. Ich muss zurück ins ›Opossum‹, meine Kunden warten nicht, wenn’s drängt. Ich kriege drei Lappen von dir.«

»Ich gebe dir fünf, wenn du mir sagst, wo ich Harry finde. Und ich gebe sie besonders gern, wenn du mir sagst, was denn dieser andere Job der Frau Dr. Grenzow war.«

»Aber das musst du doch wissen, wo du doch sowieso soviel weißt. Sie arbeitet für diesen Geheimdienst, wie heißt er doch gleich …?« Sie grinste herausfordernd.

»Bundesnachrichtendienst?«

»Ja, genau für den.«

»Etwas genauer wäre mir schon lieber gewesen. Egal, also, wo kann ich Harry finden?« Ich reichte ihr fünfhundert Mark, als wäre es gar nichts, und stellte mir meinem Bankmann vor, wie er vorwurfsvoll sagte: »Aber Herr Baumeister, was haben Sie denn mit einer Prostituierten?«

»Harry ist in meiner Wohnung, Gertrudenstraße siebzehn. Du musst zweimal rechts gehen, ganz einfach. Du musst zweimal kurz schellen, dann dreimal, sonst macht er nicht auf. Und sag’ ihm, er soll Brot und Würstchen kaufen, wir haben nix mehr.«

»Gutes Geschäft wünsche ich dir. Du bist wirklich klasse!« Ich ging hinaus in das elende, nach Pissoir stinkende Treppenhaus. Sie blieb zurück und pfiff einen Gassenhauer.

Gertrudenstraße siebzehn war ein Haus aus den Fünfzigern, blau verkachelt, kastenförmig und total heruntergekommen. An der Klingel stand Gertie Wehner, und im Treppenhaus schimpfte eine Frau mit schriller, blecherner Stimme auf zwei Kleinkinder ein. Sie hörte nicht eine Sekunde auf, als ich vorbeiging, sie sagte nur knapp: »Tach auch!« und fuhr dann damit fort, ihren Nachkommen die Furcht Gottes einzubläuen.

Gertie wohnte im dritten Stock. Vor der Wohnungstür hatte sie eine Kokosmatte liegen, auf der HERZLICH WILLKOMMEN! stand. Ich hatte Herzklopfen. Dann schellte ich kurzentschlossen im vereinbarten Rhythmus und wartete. Es tat sich nichts. Ich wiederholte das Signal. Die Tür gegenüber ging auf, und ein alter Mann streckte den Kopf hinaus. Er hatte vergessen, seine Zahnprothese einzusetzen, und nuschelte: »Harry ist nicht da. Er ist schon weg, seit die Frau heute morgen da war.«

»Welche Frau? Gertie?«

»Nee, Gertie war schon lange weg. Nein, diese Chefin von Harry.«

Ich sagte »Scheiße!«, aber er verstand es nicht. Also sagte ich laut: »Ich komme später wieder.« Er nickte mir durch das Treppengeländer nach.

Ich rannte zu Bens Wagen und hoffte, dass er irgendein werkzeugähnliches Instrument im Wagen hatte. Im Kofferraum fand ich das lange Ansatzstück eines Wagenhebers. Ich rannte zurück und wartete vor der Wohnungstür, bis ich wieder ruhig atmen konnte. Dann klemmte ich das Ding unter die Tür und hob an.

Der Erbauer dieses schönen Hauses musste sich darauf eingerichtet haben, dass seine Mieter im Bruch erfahren waren. Also hatte er Metalltüren und Metallzargen verwendet. Bei so etwas kann man sich die kostbare Plastik-Kreditkarte sparen, das gibt doch nur eine Lachnummer mit Plastikabfall. Die einzige Möglichkeit besteht darin, die ganze Tür von unten nach oben zu drücken, so dass vielleicht der schwächste Punkt nachgibt. Entweder es klappt, oder es klappt nicht.

Diesmal klappte es. Es knallte wie ein Kanonenschuss, als die Tür nach oben aus dem Rahmen flutschte. Ich drückte sie schnell auf und konnte sie hinter mir sogar wieder schließen. Die Wohnung war ganz still und roch intensiv nach Tosca. Das Zeug kenne ich, weil ich einmal in einem Krankenhaus einen Bettnachbarn hatte, der es statt Waschwasser zu verwenden pflegte.

»Hallo«, sagte ich vorsichtig. Sämtliche Türen, die von einem kleinen Flur ausgingen, standen weit offen. Im Badezimmer und Schlafzimmer war niemand. In der Küche nichts außer einer ziemlich beeindruckenden Ansammlung leerer Flaschen. Im Wohnzimmer saß jemand im Sessel, mit dem Rücken zu mir. Ich sagte zaghaft »Hallo«, aber ich wusste schon, dass ich keine Antwort bekommen würde. Harry saß leicht vornübergeneigt und konnte nicht fallen, weil seine angewinkelten Knie gegen die Tischkante stießen. Er hatte den Schuss mitten in die Brust bekommen, die Plastikmasse sah aus wie ein obszönes blassrosa Ungeheuer aus dem Weltraum. Sie hatte ihn aufgefressen, erstickt, platzen lassen.

Harrys Augen standen weit offen, und seine rechte Hand krallte sich in die Sessellehne.

»Man hat dich aufgeblasen und platzen lassen«, sagte ich traurig, nur um die Stille zu verscheuchen.

Ich ging zum Telefon und rief mein Zuhause in der Eifel an. »Anni, hör zu. Nimm Clara und verdrück dich. Ich fürchte, da ist einiges außer Kontrolle geraten. Bestell ein Taxi und lass dich in ein Hotel fahren. Schließ das Haus ab und stecke den Schlüssel hinter den linken Blumenkasten. Ich komme, sobald ich Zeit habe.«

»Was ist denn?«, fragte sie besorgt.

»Keine Zeit«, sagte ich bloß und hängte ein. Dann war Müller an der Reihe.

»Dieser Harry Lippelt ist tot«, sagte ich statt einer Begrüßung. »Er hockt in der Wohnung einer Nutte, Gertrudenstraße siebzehn, Gertie Wehner. Er hat Plastik im Leib. Die Nutte müssen Sie kassieren. Nicht weil ich glaube, dass sie bösartig ist, aber weil ich sicher bin, dass sie eine Menge weiß. Also ist sie gefährdet. Und die gute Dr. Grenzow, die Ihren Leuten entwischt ist, hat durchblicken lassen, dass sie für den BND arbeitet.«

»So ein Stuss!«, sagte er heftig.

»Die Nutte hat es mir gesagt«, entgegnete ich lakonisch.

»Bleiben Sie dort?«

»Na sicher.«

»Dann müssen wir alle Beteiligten schnellstens vom Spielfeld nehmen. Die Gütt auch.«

»Schon passiert. Dann ist da aber noch etwas.« Ich zögerte, weil ich das Risiko nicht abschätzen konnte. Dann fuhr ich fort: »Diese Gertie hat mir auch erzählt, dass zumindest Sauter und Kanter irgendwie verstrickt sind. Ich habe keinerlei Ahnung, inwieweit sie wirklich was wissen; ich gebe nur zu bedenken.«

»Jetzt ziehe ich erst einmal alle aus dem Verkehr. Ich komme.« Müller legte auf.

Ich dachte, dass selbst in solchen etwas unordentlichen Haushalten eigentlich ein Fach oder eine Schublade existieren müsste, in dem man alles findet, was etwas aussagt über Pleiten, Pannen, Wohlergehen und Arbeit.

Es war die Schublade des Küchenschrankes. Da war das Übliche: Die Bundespost drohte an, das Telefon abzustellen, die Stadtwerke wollten den Strom abdrehen, der Vermieter beklagte sich über vier Monate fehlende Miete, eine Bank schrieb: ›… und waren Sie seit drei Monaten nicht mehr in unseren Räumen‹; eine Kette kleiner Katastrophen, nicht besonders, das Tagebuch eines mühsamen Lebens. Erfreuliches gab es seltener. Eine Bank schrieb immerhin ›… und freuen wir uns, Ihnen gedient zu haben.‹

Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich ging erneut zum Telefon und rief das Forstamt in Kerpen an.

»Baumeister hier. Ich rufe aus Düsseldorf an. Hier in der Gegend gibt es einen Manager, der eine Jagd in der Eifel hat. Der Mann heißt Dr. Helmut Kanter. Wissen Sie etwas von dem?«

»Aber ja«, sagte er. »Soweit ich weiß, liegt die Jagd im Gebiet rechts der Ahr zwischen Antweiler und Schuld.«

»Das dachte ich mir«, sagte ich.

»Wieso dachten Sie sich das?«, fragte er erheitert.

»Weil das irgendwie passt«, sagte ich und hängte ein.

Dann hockte ich mich auf den Küchenstuhl und wartete.

Der Himmel über Düsseldorf war stockfinster, es begann zu regnen, und ich fragte mich, ob ich im Chaos dieser Geschichte versinken könnte, ohne jemals richtigen Durchblick zu haben.

Als Müller mit seiner Truppe ankam, stand mein Entschluss fest. Er setzte sich nach kurzer Betrachtung des Toten zu mir in die Küche. »Wir haben Kanter und Sauter in Sicherheit gebracht. Beide fluchten und beriefen sich abwechselnd auf ihren Einfluss, ihre Immunität, ihre Macht und ihr was weiß ich.«

»Haben Sie die Grenzow?«

»Nicht mal eine Spur von ihr. Ehrlich: Glauben Sie, dass sie es war?«

»Es kann sein, aber es muss nicht sein. Sie war heute morgen jedenfalls hier«, sagte ich. »Haben Sie ihre Wohnung unter Kontrolle?«

»Aber sicher. Grenzows Wohnung, Schulzes Wohnung, beide Wohnungen von Clara Gütt, Sauters Wohnung, Kanters Wohnung.«

»Ich fahre in die Eifel zurück …«

»Aber nicht in Ihr Haus. Jeder von denen, die der Mörder sein könnten, muss jetzt zwangsläufig begriffen haben, wie viel Sie wissen. Also: Ich verbiete Ihnen, zu Ihrem Haus zurückzukehren. Wohin wollen Sie denn?«

»Ich weiß es nicht. Nachdenken. Nein, wahrscheinlich will ich gar nicht nachdenken. Ich brauche einfach frische Luft, ich kann diesen Stadtmief nicht ertragen. Und ich brauche meine Freunde aus der Eifel. Die sind so vernünftig und fröhlich. Und sie denken auch noch anders als nur in Hundertmarkscheinen. Also gut, ich fahre nicht nach Hause.«

Er war der erste leitende Kripobeamte meines Lebens, der mich ohne Einschränkung arbeiten ließ und darauf verzichtete, mir dauernd gute Ratschläge zu geben. Verwirrt trollte ich mich.

Im Rheintal war die Nacht lauwarm. Ich fuhr von Düsseldorf nach Köln-Süd, von dort auf die Autobahn nach Bonn und dann in das Ahrtal hinein. Die Kneipen mit Tischen unter den Bäumen waren randvoll; die, die keinen Garten hatten, hatten ihre Tische einfach an die Straße gestellt – wohltuender Einfluss einer neuen Lebensweise, die es zulässt, etwas zu tun, ohne die zuständige Behörde zu fragen.

Über Insul und Schuld fuhr ich bis Antweiler und ging dort in das Haus ›Sophie‹, das sich ›BAR-CLUB‹ nennt und darauf besteht, genauso sauber und anständig zu sein wie die Bürgerhäuser nebenan. Ein Mädchen der dortigen sehr schnellen Truppe fragte mich, ob sie sich eine Reblaus einschenken dürfe, und da ich etwas von ihr wollte, sagte ich: »In Gottes Namen, ja.« Sie würde mir für das winzige Glas voll Spülwasser mit null Prozent wahrscheinlich fünfundzwanzig Mark berechnen. Aber wenn du Auskünfte willst, musst du bezahlen. Ich trank einen Kaffee.

»Kennt ihr hier einen Mann aus Düsseldorf namens Dr. Helmut Kanter? Der muss irgendwo hier in der Gegend ein Jagdhaus haben.«

»Weiß ich nicht«, sagte sie automatisch. Dann zögerte sie: »Doch, warte mal, da war mal so ein Typ hier, der schwer Schotter hatte. Den nannten sie alle Doktor. Ich glaube, das könnte der gewesen sein. Soll ich mal den Chef fragen? Der sitzt in der Küche.«

»Na ja, denn«, sagte ich.

Rechts von mir saß ein höchst kummervoll betrunkener, völlig farbloser Vierziger, der sich leicht vor- und zurückneigte, als habe er mit intensiven Bauchschmerzen zu kämpfen. Er starrte mich an, sah mich aber gar nicht. Er stöhnte dauernd: »O Mann, o Mann, die Weiber!« Dann kam von irgendwoher eine blonde Kühle, nahm sich seiner an, indem sie die Krallen schärfte und ihm von hinten nach vorn durch das fettige Haar fuhr. »Süßer!«, sagte sie und bemühte sich dabei zu schnurren, was eher an eine Eisenfeile erinnerte. Der Mann sagte: »O ja«, und dann verlor sich seine Zustimmung in irgendeinem Gemurmel. »Na komm her«, sagte sie und trat den Weg zu irgendeiner Liegestatt an.

Sie ging an mir vorbei, raspelte »hallo!«, nahm die Kurve um die Theke und verschwand in einem sehr gutbürgerlichen Treppenhaus mit Blümchentapete. Der Mann eilte leicht schlingernd hinter ihr her, und schon war Erleichterung in seiner ganzen Körperhaltung.

Das Mädchen von meinem Tisch kam wieder, hinter ihr ein massiger Mann. Er fragte nicht, warum ich fragte, er sagte nur: »Sie reden vom Dr. Kanter? Also der hat sein Jagdhaus auf dem Weg nach Rodder. Oben, wenn Sie auf der Kuppe sind, sehen Sie es links am Waldrand liegen. Aber der ist bestimmt nicht da.«

»Das macht nichts«, sagte ich. »Ich will ja nur wissen, wo es ist. Ich kann ihn ohnehin nur besuchen, wenn er da ist.«

»Kann ja sein, dass Harry da ist«, meinte er.

»Der Motorradfahrer, der mit der Yamaha?«

»Genau der«, sagte er.

»Der wird auch nicht da sein«, sagte ich. »Der macht Ferien.«

»Prost«, sagte das Mädchen und hob das Glas Reblaus-Ersatz.

»Ist Kanter denn oft hier?«, fragte ich.

»Geht so«, meinte der Dicke, der offensichtlich viel Zeit hatte. »Manchmal ein langes Wochenende, im Sommer manchmal Wochen. Er jagt kaum, er benutzt das Haus zu Geschäftsbesprechungen und so. Manchmal muss ich ihnen Schampus raufbringen und Cracker und solche Sachen. Ja, ja, er ist eigentlich oft hier.«

Der Mann, dem Erleichterung versprochen worden war, stieß die Tür hinter der Theke auf, wankte herein und sagte beschwingt: »Hallo!« Die Blonde hinter ihm zupfte sich das kurze Röckchen über den braunen Beinen zurecht und fixierte mich, als wolle sie sagen: »Der Nächste, bitte.«

Ich bezahlte und entschwand in der Nacht. Sünde in der Eifel ist etwas ganz Besonderes und vollzieht sich immer so, als gäbe es sie nicht.

Ich fuhr nach Rodder.

Die Straße ist schmal und kurvenreich, und selbst bei Dunkelheit konnte ich im Licht der Scheinwerfer sehen, dass die Eifel im Sommer ertrank. Ich dachte, ich hätte noch niemals so viele blassblaue Glockenblumen an einer Straße gesehen, aber wahrscheinlich war das in jedem Jahr so.

Auf der Höhe, kurz vor Rodder, sind rechts und links der Straße Weiden und Kornfelder hinter einer Barriere aus Ginster. Ich parkte und stapfte los, weil ich dachte, es sei vielleicht nicht dienlich, am Jagdhaus vorzufahren. Ich entdeckte es schließlich als einen mattschwarzen Block unter einer Kieferngruppe. Die Fensterläden waren vorgelegt, kein Laut war zu hören.

Es hatte überhaupt keinen Sinn, auf dem Feldweg nach frischen Spuren zu suchen; die Sonne brannte seit Tagen recht unbarmherzig, der Boden war hart wie Beton. Nichts an dem Haus verriet, dass Leben darin war. Kein Küchentuch vor der Haustür, kein frischer Müll in der Plastiktonne, nichts.

Aber hinter dem Haus eine Yamaha Genesis, schwarz, neu, wie vom Fließband. Bisher war ich recht sorglos gewesen, jetzt wurde ich leise. Dann fiel mir ein, dass ich ein völlig argloser und harmloser Bürger war, und rief, »Hallo!« und schlug kräftig gegen die Holztür.

Jemand antwortete gedämpft: »Moment, Moment.« Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und die Tür ging auf. »Ja, bitte?«, fragte er. Er war ein kleiner, schmaler Mann, dreißig Jahre alt vielleicht. Und er hatte vor Misstrauen verkniffene Augen. »Ja, bitte?«

»Ich suche Dr. Kanter«, sagte ich möglichst unbefangen.

»Der ist nicht hier. Da müssen Sie in der Firma in Düsseldorf anrufen. Tagsüber.« Er sprach reines Sächsisch.

»Es geht darum, dass wir zwei Stück Rotwild hier oben haben, die ziemlich verletzt sind. Da war unten am Bach Kupferdraht zwischen den Erlen. Wilddiebe. Die Rehe haben sich verletzt, sie hinken irgendwo herum. Die müssen abgeschossen werden. Der Förster lässt fragen, ob das der Doktor besorgt, oder wer das machen soll.«

»Ach so«, sagte er mit merklicher Erleichterung in der Stimme. »Tja, wenn das so ist, dann komm rein. Mir ist sowieso langweilig.« Er war Sachse, er war so eindeutig Sachse, dass es fast weh tat. Und er war einer der Männer, die in Vera Grenzows Wohnung unter den Fahrern und Begleitern gewesen waren. Und er würde mich erkennen, sich erinnern, sobald ich im hellen Licht stand. Er sah aus wie ein Frettchen. Er drehte sich herum und ging vor mir her. Er hatte eine Spirituslampe angezündet, und er meinte mit einem Blick auf die Lampe: »Ich finde das so richtig gemütlich. Bist du also einer von hier?«

»Ja. Normal arbeite ich im Wald, aber nebenbei mache ich Jagdhilfe und so. Und ich bin Kanters Mann hier in der Gegend. Und was machst du hier?« Ich mied den Lichtkreis der Lampe.

»Ich warte auf einen Einsatz«, sagte er einfach, als liege er in irgendeinem Krieg an vorderster Stellung.

»Und was ist so ein Einsatz?« Ein bisschen Neugier schien mir ganz normal.

»Na ja«, meinte er. »Ein Einsatz ist, wichtige Papiere von Düsseldorf oder Leverkusen zum Chef nach Chemnitz bringen. Das ist ein Einsatz. Die Scheiß-Bundespost funktioniert nicht gut und nicht schnell genug. Telefone funktionieren nicht immer und so weiter und so fort. Also fahre ich schnell.« Er nickte. »Bringt richtig Geld, weißte?«

»Na sicher, wem sagst du das.« Wenn er es gewesen wäre, der auf Clara und mich im Wagen geschossen hatte, hätte er mich längst erkennen müssen. Also war er es vermutlich nicht gewesen. Ich sagte: »Du löst dich wahrscheinlich mit Harry ab, oder?«

»Woher weißt du das?«, fragte er schnell und misstrauisch.

»Weil Harry mir schon oft Sachen gebracht hat. Von Kanter und Vera Grenzow und Sauter und so.«

»Sauter«, sagte er lang gezogen. »Also bei der Grenzow und Kanter und meinem Chef versteh’ ich das alles ja. Da geht es eben um Kohle und schnelle Entscheidungen und so. Aber den Sauter kann ich nicht verknusen. Sauter ist so ein Politikerschwein, den ich nie verstehen werde. Sauter ist so was von neugierig, das hältst du im Kopf nicht aus. Da hab’ ich mal Papiere hierhergebracht und hier auf den Tisch gelegt. Alle anderen waren draußen hinter der Hütte am Grillen und Saufen. Ich hab’ das auch gemacht. Und plötzlich denke ich: Du musst die Papiere woanders hintun, sonst kann da ja jeder eingucken. Ich gehe also hier rein, und was sehe ich da? Da steht Sauter am Tisch mit so einer winzigen Kamera. Diese Dinger, die nicht mal so groß sind wie eine Streichholzschachtel. Und er holt gerade so einen Mikrofilm aus dem Ding. Er sieht mich und schreckt nicht mal zusammen, ist richtig cool, wie ihr immer sagt. Kein Wort sagt der. Und vor ihm liegt eine Mappe mit Papieren. Das waren keine verschlossenen Briefe, das waren alles lose Blätter. Dann sagt er: ›Wie geht es dir, Georg?‹ Sage ich: ›Gut, aber das sind dem Doktor seine Papiere.‹ Sagte er. ›Na ja, und? Habe ich nichts mit zu tun!‹ Sagt er. Ich sehe die Papiere an, und ich sehe, die liegen in einer anderen Reihenfolge als vorher. Die hat der Sauhund garantiert fotografiert. Ich habe nichts gesagt. Geht mich ja auch nichts an. Aber dem trau’ ich nicht. Willst du ein Bier?«

Ich war immer noch ganz verdattert über seine Auskunftsfreude. Er hielt mich offensichtlich für eingeweiht. Das musste ich ausnutzen. Also sagte ich: »Nee, kann ich einen Kaffee machen?«

»Na sicher. Wenn du das hier kennst, weißt du ja, wo alles ist.« Er holte sich im Eisschrank eine Flasche Bier, und ich suchte aus dem Hängeschrank über der Spüle Kaffee und Filtertüten raus. Zum Glück fand ich sie auf Anhieb. Ich überlegte, wo er seine Waffe haben könnte. Er trug ein schwarzes T-Shirt über Jeans, er konnte sie nicht am Körper haben.

»Da hast du Recht. Ich arbeite auch nicht gern für Sauter«, sagte ich. »Manchmal tut er so, als sei er der Chef, und irgendwie regt mich das auf.«

»Na ja, er macht ja nur die Absicherung vom Konzern in Bonn. Die Lobby, die Werbung. Er ist ein Scheißangeber.«

»Genau«, sagte ich. »Am liebsten arbeite ich für die Vera Grenzow. Das geht schnell, wird gut bezahlt, und sie fragt nicht.«

»Vera ist wirklich gut«, meinte er beifällig und rülpste. »Sie hat längst vor der Wende meinem Chef alles besorgt, was er wollte. Also die ganze Palette vom Computer bis zu Spülmaschine. Und das ging glatt und gut, kein Mensch hatte irgendwelche Malessen. Aber dieser blöde Sauter hat einmal die Chose fast geschmissen, weil er den großen IBM-Computer nicht über Ungarn schicken wollte, obwohl ich sagte: ›Jeder andere Weg ist gefährlich!‹ Aber er hat rumposaunt: ›Was ich schicke, kommt an, ohne dass irgendeiner es sieht.‹ Und dann mussten wir dem blöden Volkspolizeioberst auf Rügen noch zweitausend bare Dollar in die Tasche stecken, weil der den ganzen IBM-Transport gefilzt hat. Der Sauter ist ein Arschloch, und ich denke: Wenn so Leute mich regieren, kann ich es auch selbst machen.«

»Kannst du auch«, sagte ich.

Das Wasser kochte. Seine Lederjacke hatte er über eine Stuhllehne gebreitet. Wahrscheinlich war seine Waffe in der Jacke.

»Also ich finde, wie Kanter und Bleibe vor der Wende zusammengearbeitet haben, das funktionierte besser als jetzt. Jeder dumme Hund kann uns nach allem Möglichen fragen. Und alles ist demokratisch und erlaubt.« Ich sah zu, wie der Kaffee durch den Filter sickerte. Dabei konnte ich mein Gesicht weiter halb abgewandt halten.

»Sicher«, er nickte heftig und rülpste wieder. »Genau, sag’ ich auch immer. Aber was willst du machen. Wir wollten die Demokratie und die Westmark. Und nun haben wir sie und müssen uns irgendwie arrangieren. Aber ich denke mir: Solange ich für Bleibe und Kanter und Vera und so arbeiten kann, passiert mir nichts. Ab-so-lut nichts.«

»Ich muss mal pinkeln.« Ich ging in den Schatten an der Wand entlang zur Tür, trat hinaus, lief um die Hausecke und riß die Zündungskabel aus der Maschine. Dann stellte ich mich an die Hausecke und pinkelte mit Genuss. Das Frettchen kam heraus und sagte nach einem Blick in den Himmel: »Hier fehlt nur ein Swimmingpool, in den man reinhüpfen kann.«

»Ich muss weiter«, sagte ich. »Was machen wir jetzt mit den Rehen?«

»Ich sage Kanter Bescheid«, meinte er. »He, dein Kaffee steht noch auf dem Tisch.«

»Den hätte ich fast vergessen.« Wir gingen also wieder hinein, und ich hockte mich ihm gegenüber an den Tisch und trank von meinem Kaffee. Ich hoffte nur, das Zwielicht der Spirituslampe schützte mich weiter. Am liebsten hätte ich mich hinter dem Kaffeebecher versteckt.

»Meine Alte macht Schwierigkeiten«, meinte er vertraulich. »Ich hab’ das Problem, dass ich zu oft von Chemnitz weg bin. Neulich hat sie in einer Bar in einem Hotel zu bedienen angefangen, und ich hab’ nur durch Zufall davon erfahren.«

»In unserem Job sind Weiber schlecht«, sagte ich. Die Einsamkeit des Agenten: Fast tat er mir ein wenig Leid.

»Da sagst du was«, stimmte er zu. Er war müde, und das war gut so.

Aus diesem Blickwinkel sah ich, dass er seine Waffe in der linken Innentasche der Lederjacke stecken hatte. Die Frage war nur, wie ich darankommen konnte.

Es war merkwürdig, ich fühlte keine Furcht, ich wartete mit beinahe heiterer Gelassenheit auf die Sekunde, in der er sagen würde: »Warte mal, ich hab’ dich doch neulich bei Vera gesehen«, oder irgendetwas in der Art. Ich dachte: Es ist gleichgültig, ob er dich jetzt erkennt oder zehn Minuten später. Du musst ihn ausnutzen, du musst ihn jetzt ausnutzen!

»Das mit Sahmer war keine gute Lösung«, sagte ich.

»Wieso nicht?«, fragte er lebhaft. »Sahmer drehte eben durch, da war nichts zu machen. Da hilft nur die schnelle Lösung.«

»Aber Selma, also Schulzes Frau … ich meine, die war doch harmlos.«

»War die nicht«, widersprach er schnell. »Wir konnten doch nicht wissen, ob Schulze nicht auch irgendwie ausgeflippt war. Das konnten wir nicht wissen. Und wenn diese Typen ausflippen, fangen sie an zu reden. Und Schulze hat vielleicht alles gesagt, vielleicht auch nur ein bisschen. Nee, nee, musste sein. Ich habe das von Chemnitz und zurück in sieben Stunden durchgezogen. Rein ins Haus und ›Hallo‹ gesagt. Und schon kam die Frau die Treppe runter, direkt auf mich zu … Na ja, kannste nicht wissen, das musste aber sein.«

Das konnte doch nicht wahr sein; er plauderte wirklich völlig ungeniert alles aus. Was für ein eiskalter Typ! Und jetzt kam Angst, sie kam wie ein Schlag, und mein Atem ging stoßweise, mein Mund wurde ganz trocken.

»Ich mache mir noch einen Kaffee«, sagte ich. »Aber wenn du pennen willst, lass dich nicht abhalten.«

»Willst du denn nicht schlafen gehen?«

Dann kam das Erkennen. Ich hatte nicht aufgepasst, stand am Tisch, voll im Schein der Lampe, und er starrte mich an. »Moment mal … Du bist doch der Journalist, der mit Clara in Veras Wohnung war! Bleibe sagte, du hättest Vera schwer beleidigt. Und Kanter sagte, du bist ein Arsch. Moment mal, du bist gar kein Waldarbeiter. Und einer von uns bist du bestimmt nicht!« Er bewegte sich von seinem Stuhl hoch und glitt blitzschnell seitlich am Tisch entlang. Er erreichte den Stuhl, auf dem seine Lederjacke hing.

Ich sagte: »Jetzt bist du endlich drauf gekommen, du Frettchen.« Dann griff ich nach der Spirituslampe, nahm sie hoch und warf sie mit aller Gewalt gegen seinen Körper.

Die Lampe zerbrach, und es dauerte eine endlose Sekunde, bis sein Hemd und seine Hose zu brennen begannen. Er sprang jetzt etwa zwei Meter hinter dem Tisch herum und schlug wild auf die Flammen ein.

Ich kam um den Tisch herum, und er sah mich hysterisch an und schlug dabei immer noch gegen seine Kleidung. Seltsam, wie Feuer auch den Härtesten in Panik versetzen kann. Jetzt brannte auch der Fußboden.

Dann schrie er: »Scheiße!« und machte zwei schnelle Schritte nach vorn. Blind rannte er in mein ausgestrecktes rechtes Bein, und er schrie auf vor Schmerzen, ob wegen der Flammen oder wegen des Tritts konnte ich nicht unterscheiden. Ich gab ihm keine Pause: Er war ein Killer. Wild schlug ich auf ihn ein – in so etwas bin ich kein Experte. Ich traf sein Gesicht, seinen Unterleib, und er knickte nach vorn zusammen und verlor das Bewusstsein. Er brannte lichterloh. Ich rollte ihn auf den Rücken und versuchte, die Flammen auszuschlagen, aber es gelang mir nicht.

Ich rollte ihn hin und her und drehte ihn schließlich auf das Gesicht. Er brannte nun nicht mehr, aber der Fußboden und einer der Fenstervorhänge standen in hellen Flammen. Ich nahm seine Lederjacke und warf sie zur Tür. Dann packte ich ihn unter den Achseln und schleppte ihn aus der Hütte. Schließlich holte ich die Lederjacke.

Er hatte zwei Waffen bei sich. Das eine war eine Automatik, das andere ein schwerer Colt, wie man ihn häufig in Filmen sieht. Wahrscheinlich war ich jetzt im Besitz der Plastikmunition.

Ich nahm die Waffen und rannte los. Ich musste versuchen, an den Wagen zu kommen und ihn herzuholen, ehe das Frettchen das Bewusstsein wiedererlangte. Ich hatte keine Ahnung, wie schwer er verletzt war. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange das alles dauerte, aber als ich mit dem Wagen auf die Jagdhütte zufuhr, brannte sie lichterloh, und im heißen Luftzug der Rammen lag der Kerl nach wie vor bewusstlos auf dem Boden. Es war schwer, ihn auf die Ladefläche hinter den Rücksitzen zu kriegen, aber ich schaffte es.

Ich fuhr so schnell ich konnte zurück nach Antweiler und rief aus einer Telefonzelle das Bundeskriminalamt an. Ich sagte, sie sollten versuchen, Müller zu erreichen, schnell, unter allen Umständen. Dann gab ich durch, wo ich stand.

Es ist merkwürdig, mitten in der Nacht in Antweiler an einer Telefonzelle zu stehen und einen Mörder zu bewachen. Ich hatte den Colt im Schoß und starrte das Frettchen an, und ich wusste genau: Ich würde die Waffe unter keinen Umständen benutzen.

Als er blinzelte, sagte ich: »Halte dich ruhig, sonst muss ich schießen.«

»Mach doch keinen Scheiß«, sagte er lallend, als wäre er betrunken. »Du kriegst jede Menge Kies, wenn du mich laufen lässt. Ich sorge dafür. Garantiert.«

»Halt die Schnauze«, sagte ich. »Und hör auf zu reden, die Bullen sind schon unterwegs.«

»Wieso denn Polizei?«, stöhnte er schmerzverzerrt. »Was soll denn die Polizei mit mir? Wieso holst du denn die Bullen? Was haben die damit zu tun?«

Dann schwieg er und versuchte wahrscheinlich Klarheit darüber zu gewinnen, ob ich schießen würde. Und ehe er zu irgendeinem Schluss kommen konnte, schoss ein Streifenwagen unter Blaulicht heran. Die Beamten näherten sich mit gezogenen Waffen. Der Größere von beiden fragte vorsichtig: »Baumeister?«

»Das bin ich.«

»Wir sollen hier jemand einsacken und wegbringen. Schöne Grüße von einem Herrn Müller.«

»Da bin ich aber froh«, sagte ich.

Ich sah ihnen nach, wie sie mit ihrer Fracht abrauschten. Ein Punkt war erledigt: Selma. Sonst nichts, sonst absolut nichts. Und selbst Selmas Tod war ohne Hintergrund.

Irgendwo heulte eine Sirene. Die Feuerwehrleute mussten aus den Betten.