40
Um sieben Uhr am nächsten Morgen klingelte mein Handy; und in der frühmorgendlichen Dunkelheit in der Hütte musste ich eine Weile herumtasten, bis ich es fand. »Bill, ich bin’s, Burt. Hören Sie, ich habe heute Nacht Owen Thomas’ Bericht bekommen. Er ist phantastisch. Abgesehen davon, dass er die Videoanalyse schriftlich festgehalten und mir per E-Mail einen Film geschickt hat, der die Unterschiede zwischen Ihrem Wagen und dem geheimnisvollen Pick-up – wie wir ihn von jetzt an nennen – hervorhebt, hat er auch noch eine zusätzliche Stimmanalyse durchgeführt, und die ist äußerst interessant.«
»Inwiefern?«
»Nun, nachdem er bestätigt fand, dass das nicht Ihre Stimme auf Jess’ Anrufbeantworter ist, hat er sich einige Nachrichtenbeiträge über die Demonstration der Kreationisten runtergeladen. Einer der Kreationisten – der Anwalt, der im Hintergrund die Fäden zieht – hat in seinem Interview einige Wörter benutzt, die auch auf Jess’ Anrufbeantworter waren. Also konnte Thomas ein paar Vergleiche anstellen.«
»Jennings Bryan hat in seinem Fernsehinterview Flüche und Morddrohungen geäußert?«
»Nein, nein. Wörter wie ›der‹ und ›wir‹. Ein paar Wortkombinationen – ›wünschen wird‹ und ›hätte niemals‹, glaube ich. Egal, für einen schlüssigen Beweis reicht es nicht, aber basierend auf den Wellenformen und dem Abstand zwischen den Worten und so weiter konnte er feststellen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach Bryan war, der die Nachrichten auf Jess’ Anrufbeantworter hinterlassen hat. Wir reichen das an die Staatsanwaltschaft und an Detective Evers weiter und drängen sie, den Typ zu vernehmen. Schauen wir mal, ob sie ihn vorladen und ihn die Nachrichten Wort für Wort wiederholen lassen, genau wie Thomas bei Ihnen. Wenn er sich weigert, haue ich ihnen dieses Versäumnis beim Prozess um die Ohren – womit bei den Geschworenen der Eindruck entsteht, die Polizei habe andere Verdächtige außer Acht gelassen, um Sie unrechtmäßig zu verurteilen. Inzwischen werde ich mal in aller Freundschaft mit Mr. Bryan plaudern und schauen, ob ich ihn überzeugen kann, die Klage gegen Sie fallen zu lassen.«
»Sie wollen ihn erpressen?«
»Gott behüte!«, sagte er. »Wir Anwälte bezeichnen solche Verhandlungen als ›alternative Streitbeilegungsmethoden‹. Klingt viel moralischer.«
»Können Sie die Stimmanalyse auch in Ihren Antrag auf Klageabweisung mit einbauen?«
»Nein, denn das ist nicht dasselbe wie bei den Videobeweisen. Die Staatsanwaltschaft behauptet nicht, es sei Ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter, wogegen sie durchaus behauptet, auf dem Videoband sei Ihr Auto zu sehen. Machen Sie sich keine Sorgen, der Antrag ist ziemlich stark. Wie gesagt, ich erwarte nicht, dass ihm stattgegeben wird, aber wir können sehr viel dabei herausholen. Falls Sie bereit sind zu helfen.«
»Wie?« Ich hörte im Hinterkopf schon die Alarmglocken schrillen.
»Ich würde dieses Beweismittel gerne sozusagen vor das Gericht der öffentlichen Meinung bringen. Ich möchte noch vor Prozessbeginn anfangen, Ihren guten Ruf wiederherzustellen; die Saat des Zweifels jetzt gleich säen. Ich würde gerne eine Pressekonferenz abhalten und den Medien den Antrag und das Überwachungsvideo samt Thomas’ Ergebnissen vorlegen.«
Ich hatte Burts Pressekonferenzen bei zahllosen anderen Prozessen beigewohnt, und seine pompöse Theatralik war mir stets unziemlich erschienen. So auch diesmal. »Ist das wirklich nötig?«
»Ob das nötig ist? Nein«, sagte er. »Hilfreich? Allerdings. Bis jetzt wurde alles, was in die Medien kam, von der Staatsanwaltschaft oder der Polizei herausgegeben. Und bis jetzt sieht das alles so aus, als wären Sie schuldig wie die Sünde.« Da hatte er, wie ich zugeben musste, recht. »Dieses Überwachungsvideo – zusammen mit Thomas’ schriftlichem Bericht und seinem Film, der die Unterschiede zwischen Ihrem Auto und dem geheimnisvollen Pick-up auf dem Video hervorhebt – wird allen klarmachen, dass Sie das Opfer eines kunstvoll ausgeheckten Plans sind.«
Das klang gut, aber ich wusste, dass nicht alle so reagieren würden, wie Burt es vorhersah; einige würden so reagieren, wie auch ich immer reagierte, und die ganze Vorstellung als Effekthascherei abtun. »Ich weiß nicht, Burt.«
»Bill, Sie bezahlen mich – und Sie bezahlen mich gut –, um in den Genuss meiner Erfahrungen und meiner anwaltlichen Fähigkeiten zu kommen, richtig?«
»Richtig …«
»Meine ganzen Erfahrungen und all meine Fähigkeiten sagen mir, dass dies ein entscheidender Schritt ist, um eine starke Verteidigung für Sie aufzubauen. Ein Prozess findet nicht im luftleeren Raum statt. Der Richter, die Staatsanwaltschaft und ich bringen uns fast um, um so zu tun, als wäre es so, um die Illusion aufrechtzuerhalten, Geschworene wären völlig unbeeinflusst von der Nachrichtenlage. In Wahrheit ist das Quatsch, und das wissen auch alle. Unsere Seite ist bis jetzt weit hintendran, Bill. Wir müssen zusehen, dass wir da einen Fuß in die Tür kriegen.«
Es gefiel mir immer noch nicht, aber es klang logisch. Burts Tricks waren, wie ich annahm, für seine Mandanten stets von Nutzen gewesen. Ich erinnerte mich an den alten Spruch, man solle einen anderen Menschen nicht beurteilen, bevor man nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen sei. Im Augenblick kam ich mir vor, als würde ich in einem Paar mächtig stinkender Schuhe, in denen mir etwas unangenehm zwischen den Zehen hochquoll, einen Marathon laufen. »Verdammt«, sagte ich. »Okay, machen Sie.«
»Ich denke, wir sollten bald noch zwei weitere Schritte zu Ihrer Rehabilitation unternehmen«, sagte er.
»Was für Schritte?« Bei dem Wort quietschte es wieder zwischen meinen Zehen.
»Sie müssen bei der Pressekonferenz an meiner Seite sein. Und dann müssen Sie wieder zu Hause einziehen. Aus der Abgeschiedenheit auftauchen.«
»Jetzt aber mal langsam, Burt«, sagte ich. »Überall waren Kameras, am Fundort der Leiche, vor meinem Haus, vor dem Untersuchungsgefängnis und wieder vor meinem Haus. Wie können Sie mich bitten, in so einem Goldfischglas zu leben?«
»Wenn wir diesen Antrag einreichen und die Videoanalyse veröffentlichen, wird es erst einmal einen ziemlichen Medienwirbel geben«, sagte er, »aber in vierundzwanzig Stunden hat sich das alles wieder gelegt, und dann bleibt es bis zum Prozessbeginn erst mal ruhig. Sie müssen wieder das Leben eines unschuldigen Mannes führen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Bill Clinton, Ronald Reagan, Dick Cheney und all den anderen großen Tieren in Washington. Selbst wenn sie aller möglicher Schandtaten beschuldigt werden, winken sie lächelnd in die Kameras. Und die Leute denken: ›Der nette Mann da, der kann doch unmöglich so etwas Schreckliches getan haben!‹«
»Muss ich bei der Pressekonferenz auf Fragen antworten?«
»Nein, das unterbinde ich von Anfang an. Sie halten nur eine Hand hoch und machen ein betrübtes Gesicht, weil ich Ihnen nicht erlaube, einen Kommentar abzugeben. Das gehört alles zum Spiel, Bill. Wenn Sie es als Spiel betrachten können, ist es vielleicht nicht ganz so unerträglich. Und wenn Sie es wenigstens ein bisschen nach den Regeln der Medien spielen – ihnen ein bisschen was geben, womit sie das klaffende Loch, das sie jeden Abend füllen müssen, stopfen können –, hören die auch auf, Sie als Verbrecher darzustellen. Sie wären überrascht, wie sich der Tonfall der Berichterstattung ändert. Ich habe es hundertmal erlebt.«
»Okay, Herr Anwalt«, sagte ich. »Sie haben gewonnen.«
»Das ist gut«, sagte er, »denn Chloe hat bereits sämtliche Nachrichtenredaktionen angerufen, um ihnen von dem Plan zu berichten.«
Ich schüttelte nur den Kopf. »Unglaublich. Wo soll ich mich mit Ihnen treffen, Machiavelli, und wann?«
»In meinem Büro. Um Viertel vor zwei. Um zwei gehen wir zum Gericht, um den Antrag einzureichen und unmittelbar danach vor dem Gebäude die Pressekonferenz abzuhalten. Dann haben die Fernsehsender genug Zeit, die Geschichte heute Abend in beiden Nachrichtensendungen zu bringen.«
»Und Sie glauben wirklich, das nützt etwas?«
»Es muss«, sagte er. »Kann sein, dass das unsere einzige Chance vor dem Prozess ist. Sobald der Staatsanwalt sieht, dass wir uns zur Wehr setzen, erwirkt er womöglich eine Verfügung, die den Medien verbietet, über das Verfahren zu berichten. Vielleicht kommt auch der Richter selbst auf diese Idee. Wir müssen jedenfalls alles versuchen.«
Um halb zwei fuhr ich in die Tiefgarage des Riverview Towers. Oben begrüßte Chloe mich freundlich. »Bereit für die Nahaufnahme?«, fragte sie.
»Reiten Sie bloß nicht noch darauf herum«, sagte ich. »Ich tue das wirklich nur äußerst ungern.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Nicht jeder sonnt sich gern im Rampenlicht wie Mr. DeVriess. Aber es wird helfen, ganz sicher. Eine Freundin von mir arbeitet beim News Sentinel, und sie sagt, in den Nachrichtenredaktionen werde über nichts anderes mehr gesprochen. Sie haben drei investigative Reporter beauftragt, nach diesem Pick-up zu suchen und andere Geschichten auszugraben, die die Polizei womöglich übersehen hat. Oh, und Larry King und 20/20 haben schon angerufen.«
»Larry King? 20/20? Wie zum Teufel haben die denn schon Wind davon bekommen?«
»Wir hatten schon mal ein oder zwei Fälle, die in den Medien große Beachtung fanden«, sagte sie. »Wir rufen nicht oft Leute auf nationaler Ebene an, aber wenn wir es tun, wissen die, dass wir eine gute Geschichte haben.«
»Gütiger Himmel, was habe ich bloß getan? Ich hätte mich niemals dazu überreden lassen dürfen.«
»Doch. Unbedingt. Kann ich Ihnen ganz im Vertrauen etwas sagen?« Ich nickte misstrauisch. »Wenn Sie es Mr. DeVriess erzählen, fliege ich raus.«
»Meine Lippen sind versiegelt«, sagte ich und hielt drei Finger hoch, das Pfadfinderzeichen fürs Ehrenwort.
»Ich respektiere unsere Mandanten nicht immer, und es gefällt mir auch nicht immer, was Mr. DeVriess für sie tut. Aber bei Ihnen ist das anders. Und das weiß er auch. Was er tut, könnte helfen, Sie zu retten.« Plötzlich wirkte sie befangen. »Es könnte auch helfen, ihn zu retten. Klingt das irgendwie nachvollziehbar?«
»Sie meinen, weil er damit andere Fälle wettmacht? So etwas wie Wiedergutmachung?« Sie nickte. »Es sind schon seltsamere Dinge passiert«, sagte ich. »Besonders in letzter Zeit.« Ich hörte, wie DeVriess’ Bürotür aufging und seine italienischen Schuhe den Flur herunterkamen. Ich hielt einen Finger an die Lippen und zwinkerte Chloe verschwörerisch zu. Sie zwinkerte zurück. Ich hoffte, ihr Zwinkern und die Großzügigkeit, die dahintersteckte, würden mich in der nächsten Stunde durch den surrealen Einsatz aller gerade noch erlaubten Mittel tragen.
»Kopf hoch«, sagte Burt, als der Aufzug in der Eingangshalle ankam. »Gehen Sie flotten Schrittes, als hätten Sie ein Ziel. Lächeln Sie, aber nicht zu breit, und nicken Sie gelegentlich in die Kameras. Halten Sie bei jeder dritten oder vierten Frage respektvoll und entschuldigend die Hand hoch.« Mit diesen Anweisungen schob er die Tür zum Bürgersteig der Gay Street auf, wo wir von einer ungeduldigen Meute von Reportern erwartet wurden. Ich sah Kameras sämtlicher örtlicher Fernsehsender sowie von CNN und Fox News. Ich zählte außerdem ein Dutzend oder mehr Fotografen sowie schätzungsweise annähernd hundert Zuschauer. Wo kamen die alle her? Und warum?
Ich folgte Burts Anordnungen aufs Wort, teils in der Hoffnung, den gewünschten Effekt zu erzielen, zum Teil, um etwas zu tun zu haben, statt zu flüchten oder das Gesicht zu verbergen wie ein Pfarrer, der im Bordell erwischt wurde. Burt ließ auf dem Weg zum Gerichtsgebäude sämtliche Fragen abblitzen und blieb nur einmal stehen, um zu sagen: »Sobald wir diesen Antrag auf Klageabweisung eingereicht haben, geben wir eine Stellungnahme ab, und wir verteilen Kopien der entlastenden Beweise, auf denen unser Antrag beruht.«
Es dauerte ganze sechzig Sekunden, den Antrag im Gericht abzugeben. Die Beamten dort warfen Burt einen Blick müder Nachsicht zu – sie hatten das unzählige Male mit ihm erlebt –, doch mir fiel auf, dass einige mich genauer beäugten. Als wir das Gebäude verließen, führte Burt die Medienmeute zu einigen Stufen auf einer Seite des Platzes, die er – und ich – hinaufsteigen konnten, um uns vorteilhafter zu präsentieren. Der Lärm war so groß, dass die Fragen nicht zu verstehen waren. Burt hielt beide Hände hoch, um um Ruhe zu bitten, und wie aufs Stichwort wurden über seinem Kopf zahlreiche Mikrofone in Position gebracht. »Wir haben gerade einen Antrag auf Abweisung der Klage gegen Dr. Bill Brockton eingereicht«, sagte er. »Wir haben dramatische neue Beweise, die – im Gegenteil zu dem, was die Anklagebehörde behauptet – schlüssig beweisen, dass es nicht Dr. Brocktons Pick-up war, der wenige Stunden bevor Dr. Carters Leiche gefunden wurde, auf das Gelände der Body Farm fuhr.« Eine weitere Runde Fragen wurde laut, doch Burt ignorierte sie und fuhr seinem Script gemäß fort. »Dieser Pick-up – der geheimnisvolle Pick-up – wurde von jemandem gefahren, der nicht nur die Absicht hatte, Dr. Carter zu töten, sondern auch, Dr. Brockton zu zerstören. Wenn wir das Rätsel um diesen Pick-up lösen, lösen wir auch das Rätsel um Dr. Carters Tod.« DeVriess blickte zur Seite, und Chloe tauchte aus der Menschenmenge auf. »Wir haben einige zusätzliche Informationen in diesen Mappen, einschließlich der technischen Details der Videoanalyse und einer fernsehtauglichen DVD mit dem Überwachungsvideo und dem Material, das die unwiderlegbaren Unterschiede zwischen Dr. Brocktons Wagen und dem geheimnisvollen Pick-up zeigt.« Er nickte Chloe zu, und sie fing an, die schwarzen Hochglanzmappen zu verteilen, die in geprägten Goldbuchstaben den Namen von Burts Kanzlei trugen. Die Bentley-Version von Aktenmappen, dachte ich mit einem schiefen Lächeln.
Burt war noch nicht ganz fertig. »Wir fordern das Gericht auf, die Klage in sämtlichen Punkten fallen zu lassen«, sagte er mit einer Stimme, die eines Kanzelredners würdig war. »Wir fordern den Staatsanwalt auf, Dr. Brockton nicht länger als Sündenbock zu behandeln. Wir fordern die Polizei von Knoxville auf, diesen geheimnisvollen Pick-up zu suchen. Und den wahren Mörder, um ihn für dieses schreckliche Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.« Mit dieser volltönenden Erklärung packte er mich am Ellbogen und zerrte mich praktisch zurück in sein Büro.
Das Ganze folgte einem sehr simplen Script, es war scharfzüngig inszeniert, und es war unglaublich effektiv. Während der Nachrichten um halb sechs, die ich mir zu Hause im Wohnzimmer anschaute, schaltete ich zwischen sämtlichen lokalen Sendern hin und her und bekam die Worte »geheimnisvoller Pick-up«, »geheimnisvoller Mann« und »geheimnisvoller Mörder« öfter zu hören, als ich mitzählen konnte.
Wir hatten noch nicht gewonnen – noch lange nicht –, aber DeVriess hatte recht gehabt: Es war an der Zeit, mich so zu verhalten wie ein unschuldiger Mann, und das hatte er mir gerade ermöglicht.