38

Ich aß im Freien zu Mittag – ich hatte mich im Tyson Park, einem langen baumbestandenen Rasenstreifen in der Nähe des Campus, an einen Picknicktisch gesetzt und schlang ein Sandwich von einem Drive-through-Schalter herunter –, als das Handy klingelte. Auf dem Display war BURTON DEVRIESS, LLC. zu lesen. Als ich ranging, war ich freudig überrascht, statt Burt am anderen Ende Chloe zu hören. »Dr. Brockton?« Die Blase platzte schnell. »Mr. DeVriess würde gerne mit Ihnen sprechen. Können Sie dranbleiben, während ich Sie verbinde?«

»Sicher, Chloe«, seufzte ich, »obwohl ich lieber mit Ihnen plaudern würde.«

»Aber Sie müssen mit ihm reden. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«

»Noch bin ich ein freier Mann, es könnte also schlimmer sein.«

»Das ist die richtige Einstellung. Bleiben Sie dran.«

Ich blieb dran. In letzter Zeit hing ich ziemlich oft in der Leitung. Und in der Luft. »Bill? Burt hier. Wie geht es Ihnen?«

»Fragen Sie mich das am Ende unseres Gesprächs noch einmal. Was gibt’s?«

»Können Sie heute Nachmittag herkommen? Ich würde gerne zwei Beweismittel mit Ihnen durchgehen, die wir im Laufe der Ermittlungen erhalten haben.«

»Welche Beweismittel?«

»Gute und schlechte Beweismittel. Welche wollen Sie zuerst hören?«

»Zum Teufel, die schlechten zuerst.«

»Das ist ein Beweismittel, mit dem die Staatsanwaltschaft im Prozess versuchen wird, Eindruck zu schinden. Das Video aus der Überwachungskamera auf dem Dach des Unikrankenhauses.«

»Aus derjenigen, die auf das Tor der Body Farm gerichtet ist?«

»Genau. Rund drei Stunden bevor Sie die Polizei angerufen haben, zeigt die Kamera einen Wagen, der sehr nach dem Ihrem aussieht, wie er durch das Tor auf das Gelände der Body Farm fährt.«

»Ich sage Ihnen dasselbe, was ich auch Evers gesagt habe. Das ist unmöglich. Ich war nicht dort. Ich schwöre Ihnen, ich war nicht dort.«

»Trotzdem. Ich habe mir die Kopie des Videos angesehen, und ich muss sagen, wenn es nicht Ihr Wagen ist, dann ist es ein Doppelgänger. Besteht die Chance, dass jemand sich in dieser Nacht ohne Ihr Wissen Ihren Wagen ausgeborgt hat?«

»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Tagsüber lasse ich ihn normalerweise in der Einfahrt stehen, aber nachts fahre ich ihn in die Garage. Und das Garagentor klappert ziemlich laut beim Öffnen, davon wäre ich bestimmt wach geworden.«

»Hm«, meinte er. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das auf der Anklagebank zum Besten geben sollten. Egal, heute Mittag kommt ein Video- und Audioexperte, der sich das Originalband ansieht und schaut, ob er einen Ansatzpunkt findet, um dieses Beweismittel infrage zu stellen. Wäre gut, wenn Sie dabei wären.«

»Ich würde es gerne sehen«, sagte ich. »Unfassbar, wie sorgfältig diese Karten gegen mich gezinkt wurden. Und welches ist das gute Beweismittel? Statt der Todesstrafe gehen sie nur auf Lebenslänglich ohne Bewährung?«

»Ha«, sagte er, gefolgt von einem richtigen Lachen. »Freut mich, dass Sie Ihren Sinn für Humor noch nicht verloren haben. Nein, ein wenig besser als das. Etwas, was wir nutzen können, um in den Köpfen der Geschworenen berechtigte Zweifel zu säen.«

»Was? Jetzt sagen Sie schon.«

»Die telefonischen Nachrichten, die Jess bekam, nachdem sie in den Fernsehnachrichten war, wo sie sich für Sie und die Evolution eingesetzt hat.«

»Die, wo ein Typ ihr drohte, einige hässliche Dinge mit ihr anzustellen? Es überrascht mich, dass sie die Nachrichten nicht gleich gelöscht hat.«

»Vielleicht fand sie es besser, sie nicht zu löschen, falls er nicht aufhören würde, sie zu belästigen«, sagte er. »So konnte sie der Telefongesellschaft beweisen, dass es keine typischen anonymen Anrufe waren.«

»Aus welchem Grund auch immer, ich bin froh, dass sie sie gespeichert hat«, sagte ich.

»Ich auch. Der Experte, den ich hinzugezogen habe, müsste in der Lage sein, Ihre Stimme mit den Anrufen zu vergleichen und zu beweisen, dass nicht Sie die Drohanrufe getätigt haben.« Er unterbrach sich kurz. »Bill, es gibt doch keinen Grund, warum wir ihn nicht bitten sollten, diesen Vergleich zu machen, oder?«

Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er da andeutete. »Gütiger Himmel, Burt, natürlich nicht. Ich habe diese Drohanrufe nicht gemacht.«

»Ich wollte nur ganz sichergehen«, sagte er. »Ich habe mir die Nachrichten angehört. Die Stimme klingt nicht wie Ihre, und es ist auch nicht Ihre Ausdrucksweise. Sie sind ziemlich deftig – sadistische sexuelle Drohungen und ein paar reichlich kranke Morddrohungen. Wenn ich Geschworener wäre und hören würde, wie ein Scheißkerl sie so bedroht, dann würde ich mich fragen, ob der Mörder nicht dieser Typ wäre und nicht der sanfte Dr. Brockton.«

»Glauben Sie, die Geschworenen denken wie Sie?«

»Zum Teufel, nein. Niemand denkt wie ich. Aber wenn es sein muss, kann ich mich in Geschworene hineinversetzen.«

»Ich hoffe, Ihre Kristallkugel sagt in diesem Punkt die Wahrheit.«

»Self-fulfilling Prophecy«, sagte er. »Ich pflanze diese Samen des Zweifels, und sie wuchern wie der Teufel.«

Ich hatte den Fiesen oft genug in Aktion erlebt, um zu wissen, was er meinte. Und um zu wissen, dass er es perfekt hinkriegen würde. »Wie düngen Sie sie, mit zwei Wagenladungen Scheiße?«

»Doc, Sie verletzen mich tief«, sagte er. »Meine Scheiße ist so unglaublich fruchtbar, dass ich nicht mehr als eine Schaufel voll brauche.«

Jetzt musste ich lachen. »Wann erwarten Sie diesen Experten?«

»Um zwei. Schaffen Sie das?«

»Ich habe doch sonst nichts zu tun. Die Uni hat mich zwangsbeurlaubt, und die Polizei überschüttet mich auch nicht gerade mit forensischen Fällen, seit sie mich wegen Mordes verhaftet hat.«

»Verdammt kurzsichtig von ihr«, sagte er. »Dann sehen wir uns um zwei.«

Die nächsten zwei Stunden vergingen unerträglich langsam. Um Viertel nach eins hielt ich es nicht mehr aus und fuhr zu DeVriess’ Büro. Obwohl ich den langen Weg um den Campus der Universität herum nahm, fuhr ich gut zwanzig Minuten zu früh in die Tiefgarage unter dem Riverview Tower. Zu dumm, dachte ich. Na ja, schlimmstenfalls muss ich eine Weile im Wartezimmer sitzen. Auch nicht schlechter, als irgendwo anders zu sitzen. Vielleicht sogar besser – Chloe ist immer nett zu mir.

Als ich in den Aufzug trat und den Knopf für die Etage drückte, in der DeVriess’ Kanzlei lag, fiel mein Blick auf einen schmächtigen Mann, der einen großen Koffer auf Rollen in meine Richtung zog. Es erforderte nicht übermäßig viel Intelligenz, um zu erkennen, dass er nicht die Treppe nehmen würde, also hielt ich die Aufzugstüren für ihn auf. Der Koffer – eigentlich zwei Koffer aufeinander – holperte über die Schwelle in die Aufzugskabine. »Danke«, sagte der Mann, der heftig schnaufte und schweißgebadet war. Für einen Ausfahrer war er nicht muskulös genug, und Hemd und Krawatte ließen ahnen, dass er irgendeinen Bürojob ausübte. Die Tatsache, dass die Krawatte eine Clipkrawatte war, deutete darauf hin, dass in den stabilen schwarzen Koffern irgendwelche Computerausrüstung war.

»Sie haben aber schwer zu schleppen«, sagte ich.

»Ja«, meinte er. »Wiegt mehr als ich. Die Luftfracht für das Zeug ist auch teurer als mein Flugticket, wenn ich das ganze Übergepäck bezahle.«

»Computer?«

»Gewissermaßen«, sagte er. »Video- und Audioausrüstung. Und ein Computer.«

Das erklärte, warum er auf die Anzeige geschaut und keinen Knopf gedrückt hatte: Er wollte in dieselbe Etage wie ich und in dieselbe Kanzlei. Ich hätte mich ihm gerne vorgestellt, doch ich wusste einfach nicht, wie ich das taktvoll anstellen sollte. »Hi, ich bin Bill Brockton, des Mordes angeklagt?« Oder vielleicht: »Gott, ich hoffe, Sie sind so gut, dass Sie mich vor dem elektrischen Stuhl retten können?« Also konzentrierte ich mich stattdessen auf ihn. »Wozu brauchen Sie die Geräte?«

»Ich mache forensische Video- und Audioanalysen.«

»Sie meinen, so etwas wie Aufnahmen verstärken?«

»Ich versuche das Wort ›verstärken‹ bei Gericht möglichst nicht zu verwenden«, sagte er. »Das Wort ›verstärken‹ klingt immer leicht danach, als würde man etwas hinzufügen. Was ich eigentlich tue, ist subtrahieren – Geräusche ausfiltern, statisches Rauschen und andere Störungen –, um die bestmöglichen Bilder und Geräusche aus dem zu bekommen, was bereits aufgenommen wurde.«

»Wie viel ist da rauszuholen?«

»Sie würden staunen«, sagte er. »Vielleicht wären Sie auch enttäuscht, falls Sie ein Fan von CSI sind. In solchen Sendungen ist eine Videoanalyse wie Zauberei: Sie nehmen wirklich miserable, verschwommene Bilder und vergrößern sie ungefähr um das Zehnfache, und dann drücken sie auf einen Knopf, und plötzlich sind die Bilder rasiermesserscharf. So funktioniert das im wirklichen Leben leider nicht. Wenn man eine miserable Kamera hat und ein abgenudeltes Band, kann man am Ende kein scharfes Bild kriegen. Aber das Fernsehen suggeriert den Leuten, es ginge.«

»Ich glaube gehört zu haben, dass man das den ›CSI-Effekt‹ nennt«, sagte ich.

»Genau«, sagte er. »Die Öffentlichkeit – und die Geschworenen – erwarten inzwischen Wunder von den Menschen bei den Strafverfolgungsbehörden. Sie denken, diese ganze effekthascherische Technologie, die schnelle Lösungen produziert, müsste es doch in Wirklichkeit auch geben. Und wenn ein Staatsanwalt solche Sachen bei Gericht nicht vorzeigen kann, dann haben sie leicht Vorbehalte gegen die Beweismittel.«

»Was ist mit der Verteidigung?«

»Das ist witzig«, sagte er. »Im Fernsehen sind es fast immer die Polizei und die Staatsanwaltschaft, die das Kaninchen aus dem Hightech-Hut zieht. Folglich erwarten die Geschworenen von ihnen mehr Schnickschnack als von der Verteidigung.«

Das tröstete mich ein wenig.

Der Aufzug hielt in Burts Etage, und ich drückte auf den Knopf, der die Tür offen hielt, damit der Mann seine Ausrüstung über die Schwelle hieven konnte. Dann schob ich mich an ihm vorbei, um ihm die Tür zu Burts Kanzlei aufzuhalten. »Danke«, sagte er, »das war sehr nett von Ihnen.«

»Vielleicht können Sie mir ja bei Gelegenheit auch mal einen Gefallen tun«, sagte ich lächelnd.

Chloe war verdutzt, als sie mich in Begleitung des Videoexperten hereinkommen sah. »Na, hallo, Dr. Brockton«, sagte sie. »Sie sind aber früh dran.«

»Ja«, sagte ich, »und schauen Sie, wen ich auf der Gay Street getroffen habe.« Jetzt war sie ganz durcheinander. »Ich mache nur Witze, Chloe«, sagte ich. »Wir sind bloß zufällig zusammen im Aufzug hochgekommen.«

Ihre Erleichterung war fast spürbar. »Hi, Sie müssen Mr. Thomas sein«, sagte sie. »Herzlich willkommen in Knoxville. Ich bin Chloe Matthews, Mr. DeVriess’ Assistentin. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug?«

»Ja«, sagte er. »Wir sind eine Weile über Atlanta gekreist – ein Gewitter ist durchgefegt, und die Flugzeuge wurden praktisch gestapelt –, also war es nett, in der ersten Klasse zu fliegen.« Ich sah Chloe mit hochgezogenen Augenbrauen an, doch sie ignorierte mich geflissentlich. »Ich hatte gerade genug Zeit, um den Anschlussflug nach Knoxville zu kriegen«, sagte Thomas. »Zum Glück hat mein Gepäck es auch geschafft. Ohne es wäre ich hier kaum von Nutzen.«

»Und Dr. Brockton haben Sie auch schon kennen gelernt«, sagte sie.

»Nicht unbedingt«, sagte ich. »Auf der Fahrt hier rauf haben wir uns hauptsächlich über das Fernsehen und die Wirklichkeit und den Unterschied zwischen beiden unterhalten.«

»Oh, dann lassen Sie mich Sie einander vorstellen«, sagte sie. »Dr. Brockton, dies ist Owen Thomas, unser Audio- und Videoexperte. Mr. Thomas, dies ist Dr. Bill Brockton. Er ist …« Hier kam sie ins Straucheln.

»… der Grund, warum Sie hier sind«, sagte ich.

»Er ist ein berühmter forensischer Anthropologe«, sagte sie. »Das wollte ich über Sie sagen.«

Ich lächelte. »Chloe, Sie sind keine gute Lügnerin. Mr. Thomas, man hat mich eines Verbrechens angeklagt. Eines Mordes, um genau zu sein. Die Staatsanwaltschaft behauptet, ein Überwachungsvideo zeige mich und meinen Pick-up, wie wir die Leiche an den Ort bringen, an dem sie gefunden wurde. Ich hoffe, Sie können beweisen, dass das nicht stimmt.«

Thomas schaute unbehaglich drein, was ich ihm nicht verübeln konnte. »Ich werde mein Bestes tun, das Videoband zu klären«, sagte er. »Was auch immer darauf ist, ist darauf. Wie ich Mr. DeVriess schon gesagt habe, ich betrachte mich nicht als jemand, der für die Verteidigung oder für die Anklagebehörde arbeitet. Meine Rolle besteht darin, die Wahrheit zu klären.«

»Gut für Sie«, sagte ich. »Das ist auch meine Philosophie. Wissen Sie, wenn ich nicht gerade des Mordes angeklagt werde. Als forensischer Anthropologe werde ich normalerweise von der Staatsanwaltschaft hinzugezogen, aber vor kurzem habe ich für den F… für Mr. DeVriess ausgesagt und ihm geholfen, einen Unschuldigen vom Vorwurf des Mordes reinzuwaschen. Ich hoffe, das gelingt ihm auch diesmal.«

Burt DeVriess kam um die Ecke des Flurs in den Empfangsbereich. »Sie halten das Treffen ohne mich ab?« Er schüttelte mir die Hand und stellte sich dann Thomas vor.

»Gehen wir in den Konferenzraum«, sagte Burt. »Das ist besser als mein Büro. In meinem Büro ist es zu hell, um Videos anzuschauen.«

Der Konferenzraum lag Burts Büro gegenüber auf der anderen Seite des Flurs; es war ein Raum ohne Fenster, nur mit einer Wand aus Milchglas, Burts Markenzeichen, zum Flur hin. Durch das Fenster in Burts Büro und die Milchglaswand kam ziemlich viel Tageslicht herein, doch DeVriess zog einige Rollos herunter, und das Tageslicht verschwand. »Ist das dunkel genug?«

»Oh, reichlich«, sagte Thomas. Burt schaltete eine Reihe Art-déco-Wandleuchten ein, und der Raum entfaltete sein ultramodernes Design, in dem das Licht selbst wirkte wie eine Skulptur. Angesichts des Bentley, des Erste-Klasse-Flugs und der Innenausstattung hier beschlich mich der leise Verdacht, dass mein 20000-Dollar-Vorschuss wahrscheinlich nur die erste von vielen, vielen Raten war.

»Wie lange brauchen Sie, um alles aufzubauen?«, fragte Burt.

»Sieben Minuten«, sagte Thomas. Die Clipkrawatte war keine Effekthascherei.

»Okay, wir sind sofort zurück. Bill, kommen Sie doch kurz mit mir über den Flur, um unsere Strategie vor Gericht zu besprechen.« Ich folgte ihm in sein Büro, wo die Fensterwand den Blick auf eine Regenbö freigab, die als solide graue Wand über den Fluss zog. Als sie näher kam, hüllte sie die Eisenbahnbrücke ein, die eleganten Bögen der Henley-Street-Brücke und die strahlendgrüne Stahlkonstruktion der Gay-Street-Brücke, Knoxvilles beliebteste Schauplätze für selbstmörderische Brückensprünge.

Ich sah wie gebannt zu, wie der Sturm den Fluss selbst und seine Ufer auslöschte und dann Knoxvilles Innenstadt. Es war, als markierte der Sturm den Rand der Welt – einen Rand, der mit jeder verstreichenden Sekunde näher rückte. Plötzlich klatschte der Regen gegen den Büroturm, und die Wucht des Wassers und der Böen ließen die Scheiben erzittern. Ich trat einen Schritt zurück. »Werden Sie hier bei Gewitter nicht manchmal nervös?«

Burt schaute aus dem Fenster, als ein Blitz über den Hügeln niederging, die das ferne Flussufer begrenzten. Ein Lächeln spielte um seinen Mund, und ich hörte, wie er die Sekunden zählte – »eins, Mississippi, zwei, Mississippi, drei, Mississippi, vier, Mississippi« –, bis der Donner an den Fenstern rüttelte. »Nein«, sagte er. »Ich liebe Gewitter. Ich wünschte, ich könnte ein bisschen was von der Energie in Flaschen packen und mit ins Gericht nehmen.«

»Das tun Sie womöglich«, sagte ich. »Bei ein oder zwei Kreuzverhören haben Sie mir fast die Haare versengt.«

»Ach, kommen Sie, Doc«, sagte er. »Ich habe Sie im Zeugenstand doch immer mit Samthandschuhen angefasst.«

»Dann sind Sie die eiserne Faust in Samthandschuhen.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Warten Sie erst mal ab, was ich mit einigen Zeugen in diesem Fall hier mache. Dann werden Sie zu schätzen wissen, wie sanft ich mit Ihnen umgegangen bin.«

»Und wen haben Sie vor, in Stücke zu reißen? Wissen Sie schon, wen die Staatsanwaltschaft laden wird?«

»Einige, nicht alle. Sie stützen sich ziemlich schwer auf Evers. Normalerweise schlägt er sich gut im Zeugenstand. Er ist gründlich, er sieht gut aus – das spielt alles eine Rolle, ob Sie’s glauben oder nicht –, und er lässt sich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Sie rufen zwei Kriminaltechniker in den Zeugenstand, die aussagen, dass sie Ihre Haare in Dr. Carters Haus – in ihrem Bett – gefunden haben. Und ihr Blut und Haare von ihr auf den Laken in Ihrem Haus.« Die Laken kamen mir immer noch vor wie ein Alptraum, aus dem ich einfach nicht erwachte. »Den größten Schaden wird jedoch Dr. Garlands Aussage über die Obduktion anrichten. Sie hat sehr gelitten, bevor sie starb, und die Geschworenen werden wollen, dass jemand dafür bezahlt.«

»Und ich bin die einzige Option, die sie haben.«

»Leider«, sagte er, »für diesen speziellen Posten haben Sie keine Mitbewerber. Es sei denn, es war nicht Ihr Sperma.«

»Und was setzen wir all dem entgegen? Zum Teufel, wenn ich in der Geschworenenjury säße, würde ich zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich auch dafür stimmen, mich zu verurteilen.«

»Alles, was wir nicht bestreiten können, stellen wir einverständlich fest, und alles andere schwächen wir ab. Wir stellen einverständlich fest, dass die Haare und Fasern aus ihrem Bett von Ihnen stammen. Wir stellen einverständlich fest, dass Ihr Sperma in ihrer Vagina war.«

»Aber das hatte nichts mit ihrem Tod zu tun«, widersprach ich. »Das war eine Nacht reiner …« Ich unterbrach mich – die Worte hätten nur erbärmlich oder sentimental klingen können, wie die in Serie produzierten Sentimentalitäten auf Valentinskarten.

»Die müssen nur dafür sorgen, dass es den Anschein eines Zusammenhangs erweckt«, sagte er. »Ihre Theorie des Verbrechens ist ein Stück in drei Akten: Akt eins, Sie haben was mit ihr, Akt zwei, sie lässt Sie für ihren Ex fallen, Akt drei, Sie bringen sie in eifersüchtigem Zorn um. Das ist sehr simpel und kommt bei den Geschworenen gut an. Der Staatsanwalt wird alles an Beweisen zusammenkratzen, was diese Version der Ereignisse stützt. Indem wir, während die Anklage ihren Fall vertritt, einige dieser Beweise nicht anfechten, geben wir ihnen im Gerichtssaal weniger Sendezeit, und damit haben sie bei den Geschworenen weniger Gewicht.«

»Und was passiert, wenn wir dran sind?«

»Wenn wir dran sind«, sagte er, »präsentieren wir eine große Zahl anderer Erklärungen und anderer Menschen, die Dr. Carter den Tod gewünscht haben könnten. Ihr Ex. Verwandte von Menschen, an deren Verurteilung wegen Mordes sie mitgewirkt hat. Wer auch immer ihr diese hässlichen Nachrichten hinterlassen hat. Zum Teufel, wenn es vorbei ist, habe ich die Geschworenen so weit, dass sie sich fragen, ob der Staatsanwalt oder der Richter sie womöglich umgebracht haben. Vergessen Sie nicht, wir müssen nicht beweisen, wer es wirklich getan hat, wir müssen nur berechtigte Zweifel säen, ob Sie es wirklich waren.« Er schaute auf seine Armbanduhr – ein europäisches Modell, das wahrscheinlich meinen halben Vorschuss gekostet hatte – und sagte: »Schauen wir mal, ob der Videoexperte seine dreitausend am Tag wert ist.«

»Dreitausend am Tag? Das ist aber ein Haufen Geld«, zeterte ich. »Zum Teufel, das ist das Doppelte von dem, was ich Ihnen im Fall Eddie Meacham in Rechnung gestellt habe.«

Er lächelte. »Und die Hälfte von dem, was ich Ihnen in Rechnung stellen werde. Sie haben recht – es ist ziemlich viel.« DeVriess’ Wechselsprechanlage piepste. »Ja, Chloe?«

»Hier ist ein Polizeibeamter.« In meiner Miene zeigte sich wohl Panik, denn der Fiese machte mit einer Hand eine besänftigende Geste in meine Richtung.

»Bitten Sie ihn, Platz zu nehmen, und sagen Sie ihm, wir sind bei ihm, sobald wir die Videoausrüstung gegengecheckt haben.« Nachdem Chloe die Verbindung getrennt hatte, beantwortete er meine unausgesprochene Frage. »Er bringt das Band aus der Überwachungskamera. Ist das zu glauben? Die Polizei von Knoxville traut mir nicht mit dem Band.«

Ich lachte. »Das hebt meine Meinung über die Urteilsfähigkeit unserer Polizeitruppe doch ein wenig.«

Er streckte mir die Zunge heraus – nicht gerade die Art von Geste, die man von einem teuren Anwalt in Nadelstreifen erwartete – und führte mich über den Flur in den Konferenzraum.

Der halbe Tisch war jetzt mit Ausrüstung vollgepackt. Ich erkannte einen Panasonic-Videorekorder und eine Computertastatur, doch die Tastatur schien an ein klobiges Fernsehgerät angeschlossen zu sein. Ebenfalls daran angeschlossen war ein schmales, aufrecht stehendes Gehäuse ungefähr von der Größe eines gebundenen Buches. Es bestand aus gebürstetem Stahl, und hinten an der Rückseite spross ein ganzes Bündel Kabel daraus hervor. AVID MOJO stand darauf. Dann war da noch ein Mikrofon auf einem Ständer.

»Bevor wir uns das Video ansehen«, sagte DeVriess, »sollten wir das Sonogramm des Doktors aufnehmen.« Thomas nickte.

»Was ist ein Sonogramm?«

»Wir haben die Drohanrufe bekommen, die auf Dr. Carters Anrufbeantworter waren«, sagte der Fiese. »Wir möchten darauf hinweisen, dass derjenige, der diese Nachrichten hinterlassen hat, auch ihr Mörder sein könnte. Wir brauchen eine Stimmprobe von Ihnen; und zwar müssen Sie, um Sie als Anrufer ausschließen zu können, dieselben Worte auf dieselbe Art und Weise sagen. Das sollte bei den Geschworenen einiges an Gewicht haben.«

Burt nickte Thomas zu, und Thomas spielte die erste Nachricht ab, jeweils eine widerliche Phrase nach der anderen. Jess hatte gesagt, sie seien plastisch, doch mit den Einzelheiten hatte sie mich verschont. »Ich kann das nicht sagen«, sagte ich.

»Sie müssen«, sagte Burt. »Wir brauchen einen Eins-zu-eins-Vergleich – Sie müssen genau dieselben Worte mit derselben Modulation im selben Tempo sagen. Machen Sie sich keine Sorgen, wir spielen das nicht vor Gericht ab.«

»Besteht die geringste Chance, dass die Anklagebehörde es abspult?«

»Dagegen würde ich mich energisch verwehren«, sagte DeVriess. »Ich denke, dass ich das verhindern könnte. Es wäre irrelevant und nachteilig.«

»Ich fühle mich dabei wirklich nicht wohl«, sagte ich.

»Sie werden sich um einiges unwohler fühlen, wenn die Geschworenen Sie für schuldig erklären, Doc«, sagte er. »Abgesehen davon könnte die Nachricht ein Hinweis auf denjenigen sein, der Dr. Carter wirklich umgebracht hat. Indem wir beweisen, dass nicht Sie die Nachricht hinterlassen haben, bestärken wir die Polizei vielleicht, auch in andere Richtungen zu ermitteln.«

Es gefiel mir immer noch nicht, doch ich kooperierte. Bei jeder Botschaft brauchte ich mehrere Anläufe – ich stolperte über einzelne Wörter und Phrasen, denn sie waren unglaublich widerlich –, aber ich schaffte es. Die Nachrichten begannen mit einer Litanei sexueller Perversionen und endeten mit brutalen frauenfeindlichen Morddrohungen. »Pfui Teufel«, sagte ich, als es vorbei war. »Ich habe das Gefühl, als müsste ich jetzt erst einmal in Desinfektionsmittel baden. Der Gedanke daran, wie Jess sich gefühlt haben muss, als sie das hörte, gefällt mir gar nicht.«

Owen hatte mit ausdrucksloser Miene seinen Computerbildschirm beobachtet, während ich die Drohungen las, doch auch er wirkte erleichtert, dass wir die unangenehme Aufgabe hinter uns gebracht hatten. Er schloss das Computerprogramm, mit dem er meine Stimme aufgezeichnet hatte, zog das Mikrofon raus und wickelte das Kabel sorgfältig auf. »Okay, das wäre aus den Füßen«, sagte er. »Und jetzt schauen wir mal, was auf dem Videoband ist.«

DeVriess drückte an einem Telefon, das gefährlich nah an den Rand des Tisches geschoben worden war, den Knopf der Wechselsprechanlage. »Chloe, würde es Ihnen etwas ausmachen, den Beamten zu uns in den Konferenzraum zu bringen? Danke.« Er wandte sich Thomas zu. »Erzählen Sie uns ein bisschen was über das System«, sagte er. Er beäugte Thomas’ Clipkrawatte. »Aber nur ein bisschen.«

Falls Thomas beleidigt war, ließ er es sich nicht anmerken. »Das ist ein schlüsselfertiges System, das man dTective nennt«, sagte er, »von einer Firma namens Ocean Systems. Angefangen haben die mit einem Avid-Videoschnitt-System – so einem Ding, mit dem die meisten Fernsehsendungen zusammengeschnitten werden –, und dann haben sie Hardware- und Softwaretools entwickelt, um es für die forensische Arbeit nutzbar zu machen. Von dem System hier haben sie weit über tausend Stück an Polizeibehörden in ganz Nordamerika verkauft, einschließlich der Dienststelle hier in Knoxville. Die meisten sind Desktop- oder Rack-Systeme. Diese Version nennt sich ›tragbar‹, ich bezeichne ihn gerne als ›Leistenbrecher‹.« Er hatte also Sinn für Humor. Das gefiel mir.

Chloe erschien in der Tür und schob einen uniformierten Polizeibeamten herein, der in einer Hand eine Videokassettenhülle trug. Thomas streckte die Hand nach der Kassettenhülle aus. Der Beamte runzelte die Stirn und überreichte sie ihm dann widerwillig.

Thomas öffnete die Hülle und betrachtete sie. »Und das ist das Originalband, richtig?«

»Richtig«, sagte Burt, als wäre der Polizist gar nicht zugegen. »Sie würden nicht glauben, wie schwer ich darum kämpfen musste. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei haben darauf bestanden, Sie könnten mit einer Kopie arbeiten. Ich habe ihnen gesagt, das Original sei das beste Beweismittel, und sie daran erinnert, dass wir rechtlich einen Anspruch auf das beste Beweismittel haben.«

Er nickte. »Absolut«, sagte er. »Ich zeige Ihnen gleich auch, warum.« Er klickte mit der Computermaus, und der Bildschirm leuchtete auf. Ich hatte erwartet, er würde ein fernsehähnliches Bild aus der Überwachungskamera zeigen, doch stattdessen war es ein normaler Windows-Bildschirm, genau wie auf meinem Computer, außer dass darauf viel mehr Programm-Icons waren als die paar auf meinem Rechner, und die meisten davon kannte ich nicht.

Er klickte auf ein Icon, und der Bildschirm füllte sich mit mehreren horizontalen Streifen, zwei dunklen Kreisen, die fast ein wenig aussahen wie Karten vom Nachthimmel, und einem etwa zehn Zentimeter großen Quadrat. Dann schaute er sich eine Ecke der Kassette an, runzelte die Stirn und pulte mit dem Daumennagel eine kleine Plastiklasche ab.

»Hey«, fuhr der Beamte ihn an, »was zum Teufel machen Sie da?«

»Das ist die Löschsperre«, sagte Thomas. »Wenn Sie sichergehen wollen, dass das Band nicht versehentlich gelöscht oder überspielt wird, müssen Sie diese Lasche herausbrechen. Ihr Videospezialist hätte das in dem Augenblick tun müssen, als ihm die Kassette übergeben wurde.« Er legte die Kassette in seine Maschine ein und drückte auf PLAY. Das kleine Rechteck auf seinem Bildschirm wurde blau und füllte sich mit Ziffern, genau wie mein Fernseher zu Hause, wenn ich eine Videokassette in den Rekorder schob. Dann tauchten Bilder auf, eine Abfolge scheinbar unzusammenhängender Bilder, jedes für einen Sekundenbruchteil, wie ein visuelles Maschinengewehrfeuer. Nach wenigen Sekunden jedoch konnte ich ein Muster ausmachen. Die Bilder wiederholten sich in einem regelmäßigen Zyklus, den ich nach und nach als Krankenhauseingang, Parkhaus und – was mir am deutlichsten ins Auge fiel – das Tor der Body Farm erkannte. Es war, als wären die Seiten von zehn Büchern in der Buchbinderei zusammengeschoben worden, und um einer Geschichte zu folgen, musste man eine Seite lesen und dann zehn Seiten weiterblättern, um den Faden wieder aufzunehmen. Plötzlich blitzte mein Wagen ein paar Mal auf, und ich schoss vor, um auf dem Videorekorder die Pausentaste zu drücken. Thomas schmetterte meine Hand ab.

»Finger weg«, fuhr er mich an. »Fassen Sie das bloß nicht an.« Der Beamte packte meinen Arm und zog mich mehrere Schritte nach hinten.

»Ich wollte nur auf dem Auto anhalten«, sagte ich.

»Drücken Sie bloß nicht auf eine der Tasten«, sagte Thomas. »Jedes Mal, wenn Sie ein Band anhalten, zerstören Sie es. Machen Sie das oft genug, und irgendwann haben Sie nur noch Schnee.« Er schaute in Burts Richtung. »Das ist einer der Gründe, warum ich nur ungern Mandanten dabeihabe«, sagte er. »Die verkomplizieren immer alles.«

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich tu’s nicht wieder. Versprochen. Ich wusste es bloß nicht.«

»Okay«, sagte er widerwillig und fügte dann – weniger widerwillig – hinzu: »Okay, aber Sie sind auf Bewährung.« Es klang, als würde ich vielleicht doch nicht rausgeworfen.

»Nun«, sagte ich, »das ist doch auf jeden Fall besser als der Todestrakt.«

Er schnaubte, und Burt lachte. Der Polizist runzelte die Stirn. »Wir sehen uns gleich ein Bild nach dem anderen an«, sagte Thomas. »Bei diesem Durchgang spule ich nur das Band zurück und optimiere die Level. Dann digitalisieren wir das Video – laden es auf die Festplatte des Computers –, und sobald wir das gemacht haben, können wir stoppen und starten, so oft wir wollen, ohne etwas zu zerstören. Okay?«

»Okay«, sagte ich. »Tut mir wirklich leid.«

»Vielleicht tröstet es Sie, wenn ich Ihnen sage, dass Polizisten diesen Fehler andauernd machen«, sagte er mit einem entschuldigenden Blick auf den Polizeibeamten. »Sie kommen an einen Punkt auf dem Band, wo sich etwas tut – eine Schießerei im Laden an der Ecke oder ein Bankraub –, und halten das Band an, spulen es zurück und lassen es in Zeitlupe ablaufen, und bis der Fall dann endlich vor Gericht kommt, ist das Band völlig unbrauchbar. Ich mache zwei Durchgänge, höchstens drei, ohne das Band in der Sequenz, wo etwas passiert, auch nur einmal anzuhalten.«

Während er sprach und die Bilder aufblitzten, schob er die Maus behände hin und her und klickte immer wieder etwas an, und der Cursor huschte von einem Pulldown-Menü zum nächsten. Dabei fielen mir an einigen Bildern, die aufflackerten, leichte Veränderungen auf – dunklere Bilder wurden heller, verwaschene Bilder wurden abgedämpft, und einige Farben schienen zu verblassen, während Details in Grauschattierungen schärfer wurden. Nach einigen Minuten wurden die dunklen Nachtaufnahmen abgelöst von sonnenbeschienenen Bildern, und ich sah Polizeiautos und uniformierte Polizisten auf der Body Farm. Thomas sah Burt an und fragte: »Sind wir jetzt durch die entscheidende Sequenz durch?« Burt nickte. Thomas drückte auf STOP und spulte das Band zurück, um dann noch einmal auf PLAY zu drücken.

»Wie wollen wir denn aus diesem Durcheinander von Bildern irgendetwas Sinnvolles herauskristallisieren?«, fragte ich, als alles erneut vorbeihuschte. »Es sieht aus, als hätten sie einen ganzen Haufen Kameras auf ein Videoband überspielt.«

»Genau das haben sie getan«, sagte er. »Das nennt man Multiplexverfahren. Spart sehr viel Geld für Aufnahmegeräte und Bänder. In einer idealen Welt hätte man jeweils ein Videoband für eine Kamera, die in Echtzeit aufzeichnet, und man würde alle Bänder archivieren. Aber dann hätte man am Ende siebzigtausend Videokassetten pro Jahr.«

»Das sind wirklich viele Kassetten«, räumte ich ein.

»Eine Videokamera zeichnet dreißig Bilder pro Sekunde auf, und es sieht aus, als hätten sie sechzehn Kameras, also wird bei dieser Anordnung von jeder Kamera etwa jede halbe Sekunde ein Bild aufgezeichnet. Kein schlechter Kompromiss.«

»Aber es ist alles durcheinander«, sagte ich.

»Geduld, mein Freund«, meinte er. »dTective hat ein Werkzeug, das ›dPlex‹ heißt und die sequenziellen Bilder ordnet – es trennt sie, als würde man einen Strick in die verschiedenen Seile aufdröseln –, sodass wir die Aufnahmen einer Kamera als Abfolge abspielen können.«

Nachdem er die ganze Nachtsequenz aufgezeichnet hatte, stoppte er das Band noch einmal und spulte es zurück, dann warf er es aus, tat es in die Videohülle und gab es dem Polizisten zurück. »Okay, wir sind fertig«, sagte er. »Vielen Dank.« Der Beamte nickte, zögerte dann jedoch, fast als hoffte er, zum Bleiben aufgefordert zu werden, bevor er sich umdrehte und den Raum verließ.

»Sie sind fertig?«, fragte ich. »Aber wir haben uns doch noch gar nichts angeschaut.«

»Ich meinte, dass ich mit der Digitalisierung des Originals fertig bin«, sagte Thomas. »Jetzt arbeiten wir mit der digitalen Kopie. Und wenn bei der Arbeit irgendetwas Schreckliches passiert, verlieren wir nur eine Kopie und nicht das Original.«

»Wie kommt es, dass die Uni immer noch auf Videokassetten aufzeichnet«, fragte ich, »wenn man bedenkt, dass selbst Videokameras für den Privatgebrauch schon auf Memory Cards und Festplatten speichern?«

»Lagerraum und Datenqualität«, sagte er. »Für eine Stunde Bilder aus dieser Kamera bräuchte man zweiundsiebzig Gigabyte Speicherplatz. Multiplizieren Sie das mit vierundzwanzig Stunden am Tag mal dreißig Tagen pro Monat, und bald bräuchten Sie, um alles zu speichern, einen Supercomputer. Man kann Platz sparen, indem man die Bilder komprimiert, aber wenn man komprimiert, verliert man viele Details. Um eine nichttechnische Analogie zu benutzen, die Bildqualität geht dann von einem Hochglanzfoto zu einem Zeitungsfoto, das sich in einer körnigen Ansammlung von Punkten auflöst, wenn man es genauer unter die Lupe nimmt. Immer mehr Überwachungssysteme stellen auf digital um«, räumte er ein, »aber fast alle großen Kasinos in Las Vegas – und die geben Millionen für Sicherheit aus – halten zum Beispiel immer noch an Videokassetten fest.« Er klickte noch ein paar Mal, und auf dem Bildschirm tauchten sechzehn briefmarkengroße Bilder auf. »Okay, hier sind die sechzehn Kamerawinkel, zu Sequenzen geordnet. Es sieht so aus, als wäre Kamera neun die, die uns interessiert.« Er klickte auf die »Briefmarke«, die das Tor zur Body Farm zeigte, erhellt von den Straßenlampen auf dem Parkplatz, und das Bild wurde größer, bis es die Hälfte des Bildschirms ausfüllte.

Er scrollte vorwärts, und als am Rand des Bilds einige Autos vorbeihuschten, sah ich, dass dPlex in der Tat aus der Vielzahl von Aufnahmen diese eine Sequenz von Bildern herausgedröselt hatte. »Das ist ja unglaublich«, sagte ich. »Wie funktioniert das?«

Owen schaute mich über die Schulter an. »Es gibt einen Fachausdruck dafür«, sagte er mit einem nervösen Lächeln. »Wir nennen es ›Zauberei‹.«

Plötzlich tauchte auf dem Bild ein Pick-up auf, der auf das Tor der Body Farm zufuhr. Er hielt an, und als ich das Profil des Wagens betrachtete – ein bronzefarbener General Motors Pick-up mit einem passenden Campingaufsatz – spürte ich, wie sich plötzlich der Boden unter mir auftat. »O Jesus«, hauchte ich. »Wie zum Teufel …« Evers hatte mir gesagt, auf dem Band sei mein Wagen, doch bis zu diesem Augenblick hatte ich zu hoffen gewagt, er hätte sich getäuscht.

Die Fahrertür ging auf, und wir beugten uns alle drei zum Bildschirm vor. Die Atmosphäre im Raum war so geladen wie der Gewittersturm, der um den Büroturm tobte, und mein Herz war mir so weit die Kehle hinaufgekrochen, dass es sich fast anfühlte, als läge es hinten auf meiner Zunge. Würde ich gleich mein Gesicht auf dem Bildschirm sehen? An diesem Punkt erwartete ich es halb.

Stattdessen sah ich überhaupt kein Gesicht. Der Mann – zumindest schien es ein Mann zu sein – trug eine Mütze, die er sich tief über die Augen gezogen hatte. Dunkle Hose, helles Hemd. Er hielt den Kopf gesenkt und seltsam verdreht. »Halten Sie hier mal an«, sagte ich und verschlang das Bild mit den Augen. »Er weiß es«, sagte ich. »Er weiß, dass da eine Kamera ist. Er weiß sogar ganz genau, wo. Sehen Sie, wie sorgfältig er darauf achtet, uns nicht das Gesicht zuzuwenden.«

Diese Erkenntnis elektrisierte mich. Zum ersten Mal seit Jess’ Tod spürte ich, wie etwas sich leicht verschob. Hier war etwas, womit wir arbeiten konnten, auch wenn es nur ein winziges Puzzlestück war. Ich war nicht mehr vollkommen machtlos. »Du Scheißkerl«, sagte ich zu dem Mann, der Jess Carter umgebracht hatte und es mir anhängen wollte. »Du jämmerlicher Scheißkerl. Ich krieg dich.«

Ich richtete den Zeigefinger auf Thomas, und er ließ die Bilder weiter abspulen. Der Mann ging zu dem Maschendrahttor und fummelte am Schloss herum. Dann schwang er das Tor ein Stück auf und ging zu dem inneren Holztor. »Er hat Schlüssel«, sagte ich. »Der Scheißkerl hat Schlüssel. Wer zum Teufel ist das?« In Gedanken ging ich sämtliche Männer durch, denen wir in den letzten Jahren, seit die Schlösser zum letzten Mal ausgetauscht worden waren, Schlüssel zur Einrichtung ausgehändigt hatten. Es war nur eine Hand voll – zwei Fakultätsmitglieder und vier oder fünf Doktoranden –, und es schien mir undenkbar, dass einer von ihnen Jess umgebracht hatte und mir die Schuld in die Schuhe schieben wollte.

Plötzlich traf mich ein Gedanke mit der Wucht eines elektrischen Schlags. »Gehen Sie noch mal zurück, zurück«, sagte ich. »Zeigen Sie mir das noch mal.« Diesmal schaute ich nicht nach dem Gesicht; diesmal schaute ich, ob die Gestalt Brüste hatte, weibliche Hüften, einen weiblichen Gang. Konnte das da Miranda sein? Sie hatte Schlüssel für die Body Farm und sogar für mein Auto, und ich hatte vor einigen Monaten bei einem Fall den Eindruck gewonnen, sie sei eifersüchtig auf Jess. Hatte diese Eifersucht an ihr genagt, war gewachsen, zu etwas Großem, etwas Unheilvollerem geworden, wie eine eiternde Wunde? Ich konnte es nicht glauben, aber ich konnte die Möglichkeit auch nicht ganz ausschließen. Als ich die Silhouette der Gestalt und ihren Gang genauer studierte, war ich erleichtert und zutiefst beschämt, dass beide unzweideutig männlich waren.

»Was ist?«, fragte Burt. »Haben Sie etwas gesehen?«

»Nein«, sagte ich. »Ich hatte es befürchtet. Aber ich habe mich getäuscht.«

Der Mann stieg wieder in den Wagen und setzte rückwärts aus dem Bild. »Wohin fahrt er?«, fragte Burt.

»Er hat zu nah am Tor geparkt«, sagte ich. »Er muss zurücksetzen, um es öffnen zu können. Den Fehler würde ich nie machen.« Genauso wenig wie Miranda, die im Augenblick öfter durch dieses Tor fuhr als ich.

»Gut«, sagte Burt. »Danach werde ich Sie im Zeugenstand auf jeden Fall fragen.«

»Aber wird der Staatsanwalt nicht dagegenhalten, ich hätte nur versucht, es so aussehen zu lassen, als wäre ich es nicht?«

»Vielleicht«, sagte Burt, »aber wenn Sie so clever wären, sich in diesem Punkt dumm zu stellen, wären Sie dann nicht auch so clever, nicht den eigenen Wagen zu fahren?«

»Moment«, sagte ich lachend, »Sie bringen mich ganz durcheinander.«

Er lächelte und verneigte sich leicht. »Verwirrung, mein Freund, ist nur einen Sprung, einen Hopser und ein Votum entfernt von berechtigtem Zweifel.«

Der Mann trat wieder ins Bild, auch jetzt mit gesenktem und von der Kamera weg, leicht nach rechts gedrehtem Kopf. Er schwang das Maschendrahttor nach außen und das Holztor nach innen, ging dann zurück zum Wagen und fuhr durch das Tor. Dann schloss er das Holztor hinter sich. Burt zeigte auf die Uhrzeit in der rechten oberen Ecke des Bildschirms, 05:30 Uhr. »Ziemlich gerissen«, sagte er. »So früh, dass noch niemand unterwegs ist.«

»Schichtwechsel im Krankenhaus ist erst gegen sieben«, stimmte ich ihm zu.

»Aber es ist so kurz vor der Morgendämmerung, dass der Typ, der die Kamerabilder überwacht, sich denkt: Der verrückte Dr. Brockton ist heute aber früh dran. Diese Leute wissen alle, was für einen Wagen Sie fahren, nicht wahr?«

»Sicher«, sagte ich. »Sie haben mich Hunderte Male rein- und rausfahren sehen. Zum Teufel, ich habe sämtliche Beamten der Campuspolizei und die meisten Sicherheitsbeamten des Krankenhauses durch die Einrichtung geführt.«

»Und dieser Mann weiß das irgendwie«, sagte Burt. »Er weiß, dass die Ihren Wagen kennen.«

Owen scrollte vorwärts, bis der Mann das Holztor wieder aufmachte und herausfuhr. Diesmal fuhr er so weit, dass er das Maschendrahttor schließen konnte. Während er beide Tore hinter sich schloss, besah ich mir den Wagen genauer. Diesmal stand er auf dem leicht abschüssigen Parkplatz ein wenig nach vorn geneigt, sodass mehr vom Dach zu sehen war. »Da laust mich doch der Affe«, sagte ich. »Stopp.«

»Was ist?«, fragte Burt.

»Sehen Sie sich das Dach des Aufbaus an.«

»Was ist damit?«

»Was ist dieser dunkle Fleck da?«

Owen bewegte die Maus, fuhr die Helligkeit hoch und verdoppelte die Größe des Bilds. »Ein Hebedach aus Glas«, sagte er.

Ich lachte. Unbändig. Hysterisch.

»Was ist daran so witzig?«, fragte Burt.

»Mein Pick-up … hat kein … Debehach«, ich keuchte. »Hebedach.«

»Ganz sicher?«, fragte Burt.

»Sicher bin ich mir sicher. Es war eine Ausstattungsoption, aber es hätte fünfhundert Dollar extra gekostet, und dazu war ich zu geizig.«

Burt, Thomas und ich klatschten uns ab.

»O Gott, jetzt geht’s mir besser«, sagte ich.

»Mir auch«, sagte Burt. »Jetzt glaube ich Ihnen wirklich.«

»Sie haben mir vorher nicht geglaubt? Aber Sie haben so getan.«

»Das tut man aus Höflichkeit«, sagte er. »Meine Mandanten behaupten immer, sie wären unschuldig. Und ich tue immer so, als würde ich ihnen glauben. Es ist bequemer als umgekehrt. Nicht viele sagen die Wahrheit.« Er sah mir in die Augen. »Doc, ich bin wirklich froh, dass Sie zu den Ausnahmen gehören.«

Owen räusperte sich. »Sind wir jetzt fertig mit den Freundschaftsbekundungen? Sollen wir uns noch den Rest ansehen?«

»Sicher«, sagte ich. »Schauen wir mal, was wir noch entdecken.« Ich spürte, wie sich Aufregung in mir breit machte, dieselbe Aufregung, die ich oft an Mordschauplätzen spürte, sobald ich in verwestem Fleisch und zerstörten Knochen erste Hinweise fand.

Was wir noch entdeckten, war eine Hand voll Details, die die Behauptung der Staatsanwaltschaft, dass dies mein Auto sei, eindeutig widerlegten. Die Räder hatten fünf Speichen; meine hatten, wie ich wusste, da ich kürzlich eine Radkappe hatte ersetzen müssen, sechs Speichen. Ein Scheinwerfer schien verrückt nach unten rechts. »Das ist gut«, sagte Thomas. »Scheinwerferkegel sind so charakteristisch wie Fingerabdrücke. Sofern Ihre Scheinwerfer nicht im selben Winkel falsch eingestellt sind, ist das sehr überzeugend. Und wenn wir einen Wagen wie diesen finden, dessen Scheinwerfer genau so streut, haben wir ihn festgenagelt.«

»Selbst wenn nicht«, sagte Burt, »können wir ein Bild von Dr. Brocktons Wagen am selben Ort in der Nacht aufnehmen und darlegen, dass seine Scheinwerfer anders eingestellt sind, richtig? Und zeigen, dass er kein Hebedach hat?«

»Richtig«, sagte Thomas. »Das wird die Geschworenen umhauen. Geschworene lieben so etwas. Das ist fast so gut wie CSI.«

Ich missgönnte Thomas seine dreitausend Dollar pro Tag nicht länger. Er hatte sie sich gerade mehr als verdient, fand ich. Er hatte in der Tat jeden verdammten Cent verdient, den ich Burt DeVriess bisher berappt hatte. »Werden Sie all das Evers und dem Staatsanwalt sagen, oder warten Sie bis zum Prozess, um es dann aus dem Ärmel zu ziehen?«, fragte ich Burt.

»Sobald ich Owens Bericht habe, reiche ich einen Antrag auf Klageabweisung ein«, sagte er. »Damit kriegen wir gute Presse. Aber der Richter wird den Fall nicht niederlegen. Dazu gibt es zu viele andere Beweise. Kein vernünftiger Richter würde eine Klage gegen einen Mann abweisen, dessen Bett vom Blut seiner toten Geliebten durchtränkt ist.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Schande, dass diese Laken nicht einfach verschwunden sind.«

»Ich halte mich an die Regeln«, sagte ich. Und dann ging mir noch etwas auf. »Und der Kerl weiß das. Er hat sich darauf verlassen. Er hat sich darauf verlassen, dass ich die Polizei rufen würde, sobald ich die Laken finde. Er hat mir den Strick gereicht und genau gewusst, dass ich mich daran aufhängen würde.«

»Das verrät uns sogar noch mehr über ihn«, sagte Burt. »Vielleicht fällt Ihnen mitten in der Nacht ein Name ein. Vielleicht unterhält sich Evers noch einmal mit uns, und zwar diesmal etwas freundlicher. Vielleicht denkt er allmählich mal darüber nach, wer diese Tat noch begangen haben könnte, und stellt endlich die entsprechenden Fragen. Wirft sein Netz ein wenig weiter aus.«

Burt schlug Thomas auf die Schulter; Thomas fuhr zusammen, entweder wegen der Wucht von Burts Schlag oder wegen der Verletzung seiner persönlichen Grenzen. »Okay, ich glaube, wir haben’s fürs Erste«, sagte Burt. »Wie schnell können Sie mir Ihren Bericht schicken?«

»Ich schreibe ihn im Flugzeug und schicke ihn Ihnen heute Nacht noch per E-Mail. Ist das schnell genug?«

»Ja, das ist in Ordnung. Danke. Chloe meldet sich bei Ihnen, sobald wir den Prozesstermin wissen. Und ich mache mich daran, diesen Antrag zu formulieren.« Bevor er den Konferenzraum verließ, zog Burt die Rollos hoch, und plötzlich war der Raum lichtdurchflutet. Es war das wie frisch gewaschene Licht, das einem schweren Frühlingsgewitter folgt. Ich betrachtete es als gutes Zeichen.