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Das Maschendrahttor kreischte im trüben Licht der Morgendämmerung auf wie ein wütender Kater. Sobald sich mein Kiefer wieder entspannt hatte, machte ich mir im Geiste eine Notiz, beim nächsten Mal, wenn ich raus zur Body Farm fuhr, Schmierfett für die Scharniere mitzubringen. Vergiss das nicht, schalt ich mich, genau wie bei den letzten zehn Malen, als ich es mir hinter die Ohren geschrieben und dann doch wieder vergessen hatte.
Nicht, dass mit meinem Erinnerungsvermögen etwas nicht in Ordnung gewesen wäre, das glaubte ich jedenfalls nicht. Aber wenn ich zur »Gerichtsmedizinischen Forschungseinrichtung« fuhr, wie die Body Farm als Teil der University of Tennessee offiziell hieß, hatte ich einfach Interessanteres im Sinn als WD-40 oder irgendein anderes Schmiermittel. Etwa die Tatortrekonstruktion, die ich mit der Leiche in dem Pick-up vorhatte, den Miranda gerade rückwärts auf das Tor der Einrichtung zusteuerte.
Es erstaunte und frustrierte mich immer wieder aufs Neue, dass die Body Farm immer noch die einzige Forschungseinrichtung der Welt war, die sich dem systematischen Studium der Leichenzersetzung widmete. Als unvollkommenes menschliches Wesen mit Schwächen und Eitelkeiten war ich natürlich ziemlich stolz auf meine einzigartige Schöpfung. Als forensischer Anthropologe jedoch – als »Knochendetektiv«, der sein Arbeitsgebiet auf die Suche nach Spuren in verwestem Fleisch ausgedehnt hatte – freute ich mich auf den Tag, an dem wir unsere Daten über die Verwesungsgeschwindigkeit im feuchten, gemäßigten Klima von Tennessee mit Zahlen aus ähnlichen Forschungseinrichtungen in der Wüste von Palm Springs, der höher gelegenen Wüste von Albuquerque, den Regenwäldern der Olympic-Halbinsel oder den alpinen Hängen der Montana Rockies vergleichen konnten. Doch jedes Mal, wenn ich dachte, ein Kollege in einem dieser Ökosysteme stehe kurz davor, ein Pendant zur Body Farm zu gründen, kniff die entsprechende Universität, und so blieben wir einzigartig, einsam und wissenschaftlich isoliert.
In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hatten meine Doktoranden und ich Hunderte von menschlichen Leichen an verschiedenen Schauplätzen und unter verschiedenen Bedingungen in Szene gesetzt, um die unterschiedlichsten Aspekte von Verwesung zu erforschen. Flache Gräber, tiefe Gräber, feuchte Gräber, mit Beton versiegelte Gräber. Klimatisierte Gebäude, beheizte Gebäude, verglaste Veranden. Kofferräume, Rücksitze, Campinganhänger. Nackte Leichen, in Baumwolle gekleidete Leichen, Leichen in Polyesteranzügen, in Plastik eingewickelte Leichen. Doch auf die Idee, so etwas wie die grausige Szene nachzustellen, die Miranda und ich für Jess Carter inszenieren würden, war ich nie gekommen.
Jess – Dr. Jessamine Carter – war Medical Examiner in Chattanooga. In den vergangenen sechs Monaten hatte sie ihre Arbeit auch im regionalen rechtsmedizinischen Institut in Knoxville ausgeübt. Auf diesen doppelten Posten war sie »befördert« worden, falls man das so nennen konnte, weil unser eigener Medical Examiner, Dr. Garland Hamilton, mächtig Murks gebaut hatte. Bei etwas, was nur Hamilton selbst als Obduktion bezeichnen würde, hatte er die Todesursache eines Mannes dermaßen falsch bestimmt – er hatte einen oberflächlichen Schnitt als »tödliche Stichwunde« bezeichnet –, dass ein unschuldiger Zuschauer am Ende des Mordes angeklagt worden war. Als sein Fehler ans Licht kam, wurde Hamilton umgehend von seinem Posten beurlaubt; jetzt stand er kurz davor, auch seine Approbation zu verlieren, falls das Gremium seine Arbeit richtig machte. Bis qualifizierter Ersatz gefunden war, sprang Jess ein und nahm immer dann, wenn in unserer Ecke der Wälder von Tennessee ein ungeklärter oder gewaltsamer Todesfall auftrat, die hundertsechzig Kilometer Fahrt über die I-75 von Chattanooga nach Knoxville auf sich.
Die Pendelei war für Jess nicht so zeitaufwändig, wie sie es für mich gewesen wäre. Mit ihrem Porsche Carrera – passenderweise feuerwehrrot – brachte sie die hundertsechzig Kilometer meist in rund fünfzig Minuten hinter sich. Der erste Streifenpolizist, der sie an den Straßenrand gewunken hatte, hatte kurz einen Blick auf ihre Dienstmarke werfen und sich einen forschen Vortrag über die Dringlichkeit ihrer Mission anhören dürfen, bevor sie ihn auf der Standspur der Interstate hatte stehen lassen. Der zweite unglückliche Beamte erfuhr eine Woche später eine verbale Vivisektion, gefolgt von glühend heißen Handygesprächen mit der Dienststelle der Autobahnpolizei und dem Polizeichef. Ein drittes Mal wurde sie nicht angehalten.
Jess hatte um sechs Uhr angerufen, um Bescheid zu sagen, dass sie am Vormittag nach Knoxville kommen würde. Falls sie in der letzten halben Stunde nicht an einen Mordschauplatz in Chattanooga gerufen worden war, war sie jetzt in ihrem Carrera unterwegs und schoss förmlich auf uns zu wie eine Cruise Missile. Ich hoffte, die Leiche an Ort und Stelle bringen zu können, bevor sie in Knoxville eintraf.
Miranda setzte den institutseigenen Pick-up rückwärts an den Zaun, und im Licht der Rückfahrscheinwerfer gelang es mir nun leichter, den Schlüssel ins Vorhängeschloss am inneren Tor zu stecken. Das innere Tor war Teil eines zwei Meter fünfzig hohen Sichtschutzzauns, der aufgestellt worden war, um marodierende Kojoten und zimperliche – oder voyeuristische – Menschen abzuhalten. Ursprünglich hatten wir nur einen Maschendrahtzaun, doch nach zwei Jahren, einigen Beschwerden und einer Hand voll Sensationslüsterner setzten wir Stacheldraht oben auf den Maschendraht und säumten das Gelände auf den ganzen achthundert Metern mit einem Bretterzaun. Für flinke Viecher und resolute Menschen war der Zaun immer noch kein wirkliches Hindernis, doch nun mussten sie immerhin etwas mehr Mühe aufbringen.
Das Vorhängeschloss am Holztor sprang mit einem befriedigenden Klicken auf. Ich löste ein Ende der Kette aus dem Bügel des Schlosses und schob das Tor nach innen. Die Kette verschwand in dem Loch, das am Rand in das Tor gebohrt worden war, als würde eine stählerne Nudel mit einem genüsslichen Rasseln aufgeschlürft. In den Schlund des Todes gesaugt, dachte ich. Vermische ich da zwei Metaphern, oder ist das nur ein hässliches Bild, das ich am besten für mich behalte?
Ich hielt das Holztor auf, und Miranda manövrierte den Wagen mit Leichtigkeit durch die schmale Öffnung, als würde sie täglich Lieferungen zum Eingang des Totenreichs bringen. Was sie praktisch tat. Dank einer Flut von Fernsehdokumentationen und der Beliebtheit von CSI – einer Sendung, die ich mir nur ein einziges Mal ungläubig angesehen hatte – wurden wir in den vergangenen drei Jahren von gespendeten Leichen überschwemmt, und die Warteliste (derer, die uns ihre Leichen eines Tages versprochen hatten) belief sich inzwischen auf fast tausend. Bald würden wir keinen Platz mehr haben; und es war jetzt schon schwierig, einen Schritt zu tun, ohne über eine Leiche zu stolpern oder auf glitschigen Boden zu treten, wo kürzlich eine Leiche verwest war.
Rund die Hälfte der Leichen wurde nur zum Skelettieren hergebracht. Hier ging es zwar etwas langsamer als im Labor, aber es war sehr viel einfacher, Zeit, Bakterien und Insekten – besonders Insekten – ihre schmutzige Arbeit tun und das Fleisch von den Knochen trennen zu lassen. Dank der Effizienz der Natur, ihre Toten wieder zu verwerten, blieb uns nach dem Aufenthalt der Leichen auf der Body Farm nichts mehr zu tun, als die Knochen abzuschrubben und zu desodorieren, die genauen Maße zu nehmen, diese in unsere forensische Datenbank einzugeben und das Skelett unserer wachsenden Sammlung einzuverleiben. Die University of Tennessee besaß inzwischen die größte Sammlung moderner Skelette, deren Alter, Geschlecht und Ethnie bekannt waren. Das war nicht nur wichtig, um damit zu prahlen, vor allem bot es Rechtsmedizinern eine riesige und stets wachsende Quelle von Vergleichsdaten, die sie zu Rate ziehen konnten, wenn sie es mit dem Skelett eines unbekannten Mordopfers zu tun hatten.
Die Leiche hinten im Wagen würde jedoch mehr beitragen als nur ihre Knochen. Sie sollte ein entscheidendes Licht auf eine ungeklärte forensische Frage werfen. Rund fünfzig Leichen pro Jahr fanden in institutseigenen oder studentischen Forschungsprojekten Verwendung, bei denen es in der Regel darum ging, eine Variable der Verwesungsgeschwindigkeit zu untersuchen. Eines unserer letzten Experimente hatte zum Beispiel ergeben, dass Menschen, die kurz nach einer Chemotherapie starben, sehr viel langsamer verwesten als »organische« oder »ganz natürliche« Leichen, wie ich sie seither insgeheim bezeichnete. Chemotherapie war also so etwas Ähnliches wie eine Einbalsamierung vor dem Tod, ein Gedanke, den ich nicht besonders tröstlich fand.
Sobald Miranda durch war, schloss ich das Tor hinter ihr und schob die Kette wieder durch das Loch. Das Vorhängeschloss ließ ich offen, damit Jess auch reinkam. Miranda war schon aus dem Wagen gestiegen. Jetzt klinkte sie den Aufbau auf der Ladefläche des Pick-ups und die Hecktür auf. Dabei drehte sie die Riegel langsam und öffnete die Ladefläche des Wagens fast behutsam, eine Geste, die mir an diesem friedlichen Morgen richtig und rücksichtsvoll erschien. Es war früh; noch nahm die Frühschicht des Krankenhauses den angrenzenden Parkplatz nicht in Beschlag, sodass das einzige Verkehrsgeräusch das ferne Dröhnen von Autos auf dem Alcoa Highway war, gut anderthalb Kilometer westlich des Krankenhauskomplexes. Tennessee erwachte gemächlich, und die frühe Märzluft war gerade so kühl, dass unser Atem in Wölkchen aufstieg. Von einigen frischeren Leichen stieg feuchter Dunst auf – nicht vom Atem oder Restwärme, sondern von dem Gewimmel der Maden, die sich an ihnen gütlich taten. Aus irgendeinem Grund freute es mich, im Besitz des geheimnisvollen Wissens zu sein, dass die Nahrungsaufnahme für die angeblich kaltblütigen Maden ein exothermer Vorgang war – er produzierte Wärme. In der Wissenschaft waren nur wenige Dinge so schwarz-weiß, wie Begriffe wie »kaltblütig« es implizierten, und im Vorübergehen überlegte ich, ob es wohl die chemischen Reaktionen im Verdauungstrakt der Insekten waren, die die Hitze produzierten, oder ob die Umwandlung von Kalorien in Brennstoff in ihren sich windenden Muskeln sie erwärmte. Vielleicht würde ich das eines Tages untersuchen.
Über den unzähligen Maden schlugen allmählich die Eichen und der Ahorn aus, die den Hügel sprenkelten. In ihren Ästen zwitscherte und trillerte ein ganzer Chor von Kardinälen und Spottdrosseln. Zwei Eichhörnchen jagten sich den Stamm einer fast dreißig Meter hohen Weihrauch-Kiefer rauf und runter. Es gab Leben im Überfluss hier draußen auf der Body Farm. Solange man über die mehr als hundert Leichen, die in verschiedenen Stadien der Verwesung überall herumlagen, hinwegsehen konnte.
Miranda und ich standen ein Weilchen schweigend da und nahmen das Vogelgezwitscher und das goldene frühmorgendliche Licht in uns auf. Eines der übermütigen Eichhörnchen regte sich über das andere auf, weil es einige Spielregeln gebrochen hatte, und Miranda lächelte. Sie wandte sich mir zu, und ihr Lächeln wurde breiter. Es überrumpelte mich und traf mich unvorbereitet mit der Wucht eines Kantholzes am Kopf.
Miranda Lovelady war inzwischen seit vier Jahren meine Forschungsassistentin. Wir waren ein eingespieltes Team – wenn wir im Faulleichen-Séparée die Knochentrümmer eines tödlichen Verkehrsunfalls auf der Autobahn oder eines Mordopfers sortierten, wirkten unsere Bewegungen oft wie choreographiert, und unsere stillschweigende Kommunikation erinnerte fast an Telepathie. Doch in letzter Zeit machte ich mir Sorgen, ob ich bei ihr nicht eine unsichtbare Grenze überschritten und zugelassen hatte, dass sie zu anhänglich wurde. Vielleicht war ich auch zu anhänglich geworden. Obwohl sie genau genommen noch Studentin war, war Miranda keineswegs mehr ein Kind; sie war inzwischen eine kluge, selbstbewusste Frau von sechsundzwanzig – oder siebenundzwanzig? – Jahren, und ich wusste, dass der Elfenbeinturm zum Bersten voll war mit Professoren, die sich mit Schützlingen eingelassen hatten. Doch ich war dreißig Jahre älter als Miranda, und selbst wenn ihr dieser Altersunterschied im Augenblick annehmbar erschien, konnte ich mir nicht vorstellen, dass das immer so bleiben würde. Nein, ermahnte ich mich, ich war ihr Mentor und vielleicht auch ein wenig ein Freund, aber nicht mehr. Und das war für uns beide das Beste.
Ich griff in den hinteren Teil des Wagens, holte ein Paar purpurrote Nitril-Handschuhe heraus und konzentrierte mich wieder auf das Experiment, das wir aufbauen wollten. »Jess – Dr. Carter – müsste jeden Moment hier sein«, sagte ich. »Suchen wir einen guten Baum und machen uns daran, den Kerl hier zu fesseln.«
»Ah, Dr. Carter.« Miranda grinste. »Ich dachte mir doch, dass Sie ein bisschen nervös sind. Sind Sie eingeschüchtert oder verknallt?«
Ich lachte. »Wahrscheinlich ein wenig von beidem«, sagte ich. »Sie ist klug, und sie ist stark. Und witzig. Und ein hübscher Anblick.«
»Stimmt alles«, sagte Miranda. »Sie würde Sie sicher auf Trab bringen. Wird Zeit, dass Sie jemanden finden, der Sie ein bisschen auf Trab bringt.«
Das war mir auch klar. Meine Frau Kathleen, mit der ich fast dreißig Jahre verheiratet gewesen war, war vor mehr als zwei Jahren an Krebs gestorben, und ich erholte mich erst jetzt allmählich von dem Schlag. Im vergangenen Herbst hatten sich zum ersten Mal zaghaft wieder Interesse und Verlangen gerührt. Entfacht worden, wie ich mir peinlicherweise in Erinnerung rufen musste, dadurch, dass eine Studentin mich spontan geküsst hatte. Ebenso glücklicher- wie beschämenderweise war der Kuss von Miranda unterbrochen worden, die in der Tür zu meinem Büro aufgetaucht war. Kurz nach diesem ungehörigen, aber denkwürdigen Kuss hatte ich eine Frau, die eher in meinem Alter war – nämlich keine Geringere als die bereits erwähnte Dr. Jess Carter – zum Abendessen eingeladen. Jess hatte die Einladung angenommen, hatte sie jedoch im letzten Augenblick absagen müssen, weil sie in Chattanooga an einen Mordschauplatz gerufen wurde. Ich hatte nicht den Mut gefunden, sie noch einmal zu bitten, mit mir auszugehen, obwohl mir der Gedanke jedes Mal kam, wenn sich unsere Wege wegen unserer Arbeit – ihrer frischen Toten und meiner nicht mehr ganz so frischen – kreuzten.
Mirandas Frage erinnerte mich wieder an die Aufgabe, die vor mir lag. »Spielt es eine Rolle, an was für einen Baum wir den Kerl fesseln?«
»Wahrscheinlich nicht, aber das Opfer war an eine Kiefer gefesselt, und davon haben wir mehrere, also können wir es auch so wirklichkeitsgetreu machen wie möglich. Kostet nichts extra.« Ich zeigte auf den Baum, auf dem die Eichhörnchen herumgetollt waren. »Wie wär’s mit dem?«
Miranda schüttelte den Kopf. »Nein, den nicht.« Sie runzelte die Stirn. »Der steht zu … exponiert. Könnte für die Campuspolizei oder Gastwissenschaftler hart sein, wenn sie durchs Tor kommen und als Erstes auf dieses Tableau stoßen.« Da hatte sie nicht unrecht. »Abgesehen davon, haben Sie nicht gesagt, das Opfer wurde tief im Wald gefunden?« Auch da hatte sie nicht unrecht.
»So habe ich es verstanden. Im Prentice Cooper State Forest. Der State Forest erstreckt sich stromabwärts von Chattanooga über ziemlich zerklüftetes Gelände entlang der Tennessee River Gorge.« Ich zeigte weiter den Hügel hinauf auf eine andere Kiefer in der Nähe der oberen Grundstücksgrenze. »Bitte schön. Ist die abgeschieden genug?«
Miranda nickte. »Ja, viel besser. Ein bisschen Schlepperei, ihn da raufzukriegen. Aber wahrscheinlich ein gutes Training.«
»Was uns nicht umbringt, macht uns stark?«
»Richtig«, meinte sie und streckte mir die Zunge heraus.
Einmütig beugten wir uns in den hinteren Teil des Wagens und packten die Schlaufen, die seitlich an den schwarzen Leichensack genäht waren. Wir schoben ihn über die Hecktür, bis er rund dreißig Zentimeter hinten über die Ladefläche ragte. »Bereit?«, fragte ich.
»Bereit«, antwortete sie, und damit schnappten wir uns jeweils eine zweite Schlaufe im unteren Drittel des Leichensacks. Wir ließen ihn vollends über die Hecktür gleiten und übernahmen nach und nach immer mehr das Gewicht der Leiche. Sie war schwer – neunzig Kilo, was in etwa dem Gewicht des Opfers entsprach, dessen Leichenfundort wir rekonstruieren würden. Je getreuer die Nachstellung das Verbrechen spiegelte – nicht nur, was das Gewicht des Opfers anging, sondern auch seine Verletzungen, seine Kleidung und seine Körperhaltung –, desto exakter würde am Ende unsere Schätzung der Leichenliegezeit sein, was der Polizei erlaubte, ihre Ermittlungen zeitlich genauer einzugrenzen.
Wir hatten ihn kaum fünfzehn Meter den Hügel hinaufgeschleppt, da brach ich in der kühlen Morgenluft auch schon in Schweiß aus. Ich sah Miranda an, dass sie ebenfalls zu kämpfen hatte, doch ich wusste, dass sie eher zusammenbrechen würde, als sich zu beklagen. Das war für mich vollkommen in Ordnung, ich war bereit, für uns beide zu jammern. »Wollen Sie sich das mit dem ersten Baum nicht noch mal überlegen? Der stand doch gar nicht so schlecht.«
»Hmpf«, stöhnte sie mit zusammengebissenen Zähnen und schüttelte zur Bekräftigung den Kopf.
»Okay«, keuchte ich, »Sie sind die Chefin. Wenn ich einen Schlaganfall kriege, bevor wir oben sind, dann verwenden Sie meine Leiche bitte für ein besonders spektakuläres Experiment.«
»Mit Vergnügen«, schnaufte sie.
Wir blieben zweimal stehen, um Luft zu schnappen und uns die Stirn zu wischen, doch selbst mit den Ruhepausen zerrten wir den Leichensack bereits halb über den Boden, als wir die Kiefer nahe des oberen Zauns endlich erreichten. Als ich jedoch den langen Reißverschluss aufzog, der an den Seiten des Sacks entlanglief, musste ich Miranda zustimmen, dass für diese spezielle Tatort-Rekonstruktion ein abgeschiedener Platz sehr viel besser war.
Wir hatten die Leiche im Leichenschauhaus vorbereitet, also wusste ich, was mich erwartete, und trotzdem schnappte ich nach Luft, als ich den Sack zurückschlug und unsere Versuchsperson sichtbar wurde. Die blonde Perücke war ein wenig verrutscht, sie hatte sich über das Gesicht geschoben und verbarg einen Großteil der Verletzungen, die ich der Leiche zugefügt hatte, doch das, was noch zu sehen war, war starker Tobak. Jess zufolge waren die meisten Knochen im Gesicht des Opfers durch stumpfe Gewalteinwirkung zertrümmert worden – sie tippte auf etwas ziemlich Großes, vielleicht einen Baseballschläger oder ein Stahlrohr, und nicht etwas Kleineres wie zum Beispiel einen Reifenmontierhebel, denn der hätte an den Knochen schärfere, deutlicher zu unterscheidende Spuren hinterlassen. Ich hatte es nicht über mich gebracht, eine gespendete Leiche mit solcher Gewalt zu traktieren, also hatte ich mich damit begnügt, die Jochbögen – die Backenknochen – und den Unterkiefer an mehreren Stellen mit einer Autopsiesäge zu durchtrennen und an diesen Stellen dann freigebig Blut auf die Haut zu schmieren, um die Blutung zu simulieren, die die Verletzungen unmittelbar vor oder während des Todes verursacht hätten. Miranda, die in der Kunst des Make-ups erfahrener war als ich, hatte die Wangen grundiert und Rouge sowie violetten Lidschatten aufgetragen und zwei lange falsche Wimpern angelegt. Ich hatte meine Zweifel, dass das Make-up die Verwesungsgeschwindigkeit beeinflussen würde, doch ich wollte keine unnötigen Variablen in die Gleichung einbringen.
Das Lederkorsett zu beschaffen, das wir unserer Versuchsperson um den Torso schnallten, war am Ende sehr viel leichter gewesen, als ich erwartet hatte. Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte Miranda fünf Minuten lang im Internet gesucht und dann die institutseigene Kreditkarte verlangt. Noch ein paar Mausklicks, und sie verkündete: »Erledigt. Ein Bustier Größe XXL wird dank der zügigen Zusammenarbeit von FedEx und Naughty & Nice.com per First Overnight morgen früh um sechs Uhr geliefert.« Ich ahnte, dass ich den Buchprüfern der Universität mit hochrotem Gesicht die American-Express-Abrechnung würde erklären müssen, doch das war gelegentlich der Preis der Grundlagenforschung.
»Haben Sie die Schnur?«, fragte ich, »oder muss ich zurück zum Wagen, um sie zu holen?« Miranda trug einen schwarzen Overall, der vor Taschen nur so strotzte.
»Nein, ich hab sie«, sagte sie. Sie öffnete den Reißverschluss einer großen Tasche kurz oberhalb des linken Knies und fischte eine Rolle Nylonschnur und ein großes Army-Taschenmesser heraus. Mit einer Drehung des Daumens ließ sie eine gemeine gezahnte Klinge herausspringen.
»Wow, das ist ja ein wahres Teufelswerkzeug«, sagte ich. »Was ist das, eine 15-Zentimeter-Klinge?«
Sie schnaubte. »Glauben Männer wirklich, das wären fünfzehn Zentimeter? Versuchen Sie’s mal mit neun.« Mit der Messerspitze riss sie sicher und geschickt die Plastikfolie auf, dann wickelte sie knapp zwei Meter Schnur ab – oder eher einen? – und schnitt sie mit einer flinken Bewegung ab. »Möchten Sie ihm die Hände zusammenbinden, während ich die Füße fessle?« Ich nahm die Schnur und machte mich daran, der Leiche die Handgelenke vor dem Körper zu fesseln. Miranda schnitt ein weiteres Stück Schnur ab und band ihr die Füße zusammen. Das Seil riss die Netzstrümpfe ein, als sie es über den Stilettoabsätzen festzurrte. »Ich habe noch nie verstanden, was am Cross-Dressing so anziehend ist«, sagte sie, »weder für den Typ, der es macht, noch für die Leute, die sich solche Transvestitenshows ansehen. Aber ich kann auch nicht nachvollziehen, dass sich jemand so darüber aufregt, dass er einen Mann zu Tode prügelt, nur weil der eine Perücke und nuttige Klamotten trägt.«
»Ich auch nicht«, sagte ich. »Aber nach all den Jahren und all den Morden verstehe ich eines, nämlich dass die menschliche Natur vieles beinhaltet, was ich nicht verstehe.«
Sobald unser Double so gefesselt war wie das Opfer aus Chattanooga, bestand die nächste Aufgabe darin, es an den Baum zu binden. »Jess sagte, dass die Hände über dem Kopf waren«, bemerkte ich, halb zu Miranda und halb zu mir. »Aber es wird schwer werden, die Leiche ohne Leiter hochzuhieven.« Ich spähte einen niedrigen Ast aus. »Vielleicht geht’s, wenn ich ein Seil über den Ast da werfe und wir die Leiche dann wie mit einem Flaschenzug hochwuchten.« Miranda schnitt noch ein Stück Seil ab, das ich da, wo er aus dem Stamm kam, über den Ast warf. Dann knotete ich ein Ende an der Handfessel fest, und zusammen zogen wir an der Schnur. Die dünne Nylonschnur schnitt uns beim Ziehen in die Handflächen, doch sobald wir den Körper aufrecht hatten, half die Reibung des Seils an dem Ast, sein Gewicht zu halten.
»Glauben Sie, Sie könnten ihn halten«, fragte ich, »während ich seine Beine an den Baum binde?«
»Ja«, meinte Miranda und wickelte sich die Schnur einmal um die Hand.
Ich kniete mich an den Fuß des Baums, zog die Füße an den Stamm heran und machte mich daran, sie festzubinden. Eine Kurzkopfwespe umsummte mein schweißnasses Gesicht, und ich wedelte sie ungeduldig weg. Plötzlich hörte ich einen schrillen Aufschrei – »Mist!« – gefolgt von einem Klatschen. Dann: »Oh, verdammt, passen Sie auf!«
Mit einem dumpfen Aufschlag stürzte die Leiche vornüber, landete auf meinem Kopf und meinen Schultern und streckte mich zu Boden. Zappelnd wie ein riesiges Insekt lag ich am Fuß des Baums unter der schrill gekleideten Leiche. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte Miranda, und dann fing sie an zu kichern. Doch plötzlich erstarb das Kichern, und bald sah ich auch, warum.
Ein Paar Klapperschlangenlederstiefel, die unter einer schwarzen Lederjeans hervorschauten, betrat mein Gesichtsfeld und pflanzte sich direkt vor meiner Nase auf. Noch bevor sie ein Wort sagte, wusste ich, dass die Klapperschlangenlederstiefel an den Füßen von Dr. Jess Carter steckten. Nach einem Augenblick fing sie mit dem rechten Fuß an, langsam und, soweit ich das beurteilen konnte, sarkastisch aufzutippen.
»Lass dich nicht von ihm fertigmachen, Brockton«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, du kannst ihn schlagen. Wenigstens zwei von drei Mal?«
»Sehr witzig«, sagte ich. »Würde es euch etwas ausmachen, den Kerl von mir runterzuholen?«
Jess griff nach dem Seil an den Handgelenken des Toten, Miranda packte ein Bein. Zusammen hievten sie die Leiche herum, sodass sie neben mir auf dem Rücken zu liegen kam. Ich stand auf und bemühte mich, so gut es ging, meine Würde wiederzuerlangen. Jess zwinkerte mir mit dem Auge zu, das Miranda nicht sehen konnte. Ich wäre ja rot angelaufen, doch mein Gesicht war bereits feuerrot.
»Das gehörte nicht zu den Fragen, die wir für dich klären sollten«, erklärte ich ihr, »aber ich glaube, wir können jetzt schon sagen, dass an dem Mord womöglich mehr als eine Person beteiligt war. Ziemlich schwierig, seine Arme ohne Hilfe so hoch am Baum festzubinden.«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte sie. »Die Kriminaltechniker konnten es jedenfalls nicht sagen. Der Boden ist ziemlich felsig, und wir hatten zwei Wochen keinen Regen, also gibt es keine verwertbaren Fußabdrücke.«
»Es tut mir leid, dass ich nicht in der Stadt war, als er gefunden wurde«, sagte ich. »Meine Sekretärin sagte mir, du hättest um die Zeit angerufen, als gerade mein Flugzeug nach Los Angeles abhob.«
»Verdammt rücksichtslos von dir, der Polizei von Los Angeles bei einem Fall zu helfen«, sagte sie. »Wir müssen dich noch mit so einer elektronischen Fußfessel ausstatten, um dafür zu sorgen, dass du Tennessee nicht verlässt.«
»Ausgeschlossen«, sagte ich und zeigte auf meine ausgeblichene Jeans und meine Arbeitsstiefel. »Das würde meinen ganzen modischen Stil ruinieren.«
»Unsinn«, sagte sie. »Es geht das Gerücht, Martha Stewart bringt eine Design-Linie mit Gefängniskleidung und -accessoires heraus. Marthas Fußkettchen sieht an dir bestimmt ganz toll aus.« Jess reichte mir das Seil. »Sollen wir es noch mal versuchen?« Diesmal traf ich, nachdem wir unsere Versuchsperson in die Senkrechte gehievt hatten, die Vorsichtsmaßnahme, das Seil sofort an den Ast zu knoten. Ich band die Beine fest, und als Jess sich mit der Position zufrieden erklärt hatte, kürzte Miranda das lose Ende des Seils.
»Das Seltsame ist, dass Kopf und Hals in weit besserem Zustand waren, als ich erwartet hatte«, sagte sie. »Viele Verletzungen, aber angesichts dessen, wie viel Blut da war, um Fliegen anzuziehen, kaum Verwesung. Wäre nicht an den Unterschenkeln kaum noch weiches Körpergewebe gewesen, hätte ich vermutet, dass er doch nicht so lange da draußen war.«
»Glaubst du, das waren Raubtiere? Kojoten, Füchse oder Waschbären?«
»Könnte sein«, sagte sie, »aber ich habe auch so gut wie keine Bissspuren entdeckt. Ich hätte gern, dass du einen Blick auf ihn wirfst und schaust, ob ich vielleicht etwas übersehen habe.«
»Klar«, sagte ich, »ich könnte gegen Ende der Woche runter nach Chattanooga kommen. Aber eins wundert mich doch: Warum bearbeitest du den Fall überhaupt? Ich habe einen Blick auf die Karte geworfen, und der Prentice Cooper State Forest liegt doch jenseits der Grenze in Marion County, oder?«
Sie lächelte. »Ich wette, du warst als Pfadfinder eine Kanone mit Karte und Kompass.« Ich grinste; sie hatte recht, auch wenn sie mich nur aufzog. »Vor zwei Wochen ging eines Nachts bei der Polizei eine Meldung über eine Entführung vom Parkplatz des Alan Gold’s ein, einer Schwulenbar in Chattanooga. Die haben die beste Drag-Show im ganzen Osten von Tennessee. Man hatte beobachtet, wie eine Frau – oder ein Mann, der sich als Frau ausgab –, auf die die Beschreibung des Opfers passte, in einen Wagen gezerrt wurde, der dann davonfuhr. Wir arbeiten auf der Grundlage der Theorie, dass das Verbrechen in Chattanooga seinen Ausgang nahm.« Sie unterbrach sich kurz, wie um zu überlegen, ob sie mir noch mehr sagen sollte. »Abgesehen davon«, sagte sie, »ist Marion County eine ländliche Gegend mit einem kleinen Sheriffbüro. Die haben dort einfach nicht die Mittel, um so einen Fall zu bearbeiten.«
»Klingt logisch«, sagte ich. »Okay, ich glaube, wir sind so weit, der Natur hier ihren Lauf zu lassen. Laut Wettervorhersage für die nächsten vierzehn Tage sind – falls man AccuWeather.com glauben kann – Temperaturen etwa in dem Bereich zu erwarten, wie ihr sie in den letzten zwei Wochen in Chattanooga hattet. Also sollte die Verwesungsgeschwindigkeit hier so ziemlich der des Opfers entsprechen. Sobald der Zustand des Kerls dem des Opfers entspricht, wissen wir, wie lange er da draußen war, bevor der arme Wanderer ihn gefunden hat.«
Jess warf einen weiteren Blick auf die Leiche, die an den Baum gefesselt war. »Ein Detail fehlt noch, damit die Tatort-Rekonstruktion auch wirklich authentisch ist.« Ich schaute sie verdutzt an. »Ich habe dir nichts davon erzählt«, sagte sie. »Du warst eh schon nervös wegen der Verletzungen an Kopf und Gesicht, und ich habe befürchtet, dies würde dir den Rest geben.« Sie griff an ihren Gürtel und zog ein langes Messer mit fester Klinge aus dem Futteral an ihrer Hüfte. Dann trat sie an die Leiche, riss die schwarze Seidenunterhose und die Strümpfe herunter, die wir ihr angezogen hatten, und trennte den Penis an der Basis ab.
»Gütiger Gott«, stieß Miranda hervor.
»Wohl kaum«, sagte Jess. »Ich würde sagen, da war eher der Teufel am Werk.« Sie holte tief Luft und atmete wieder aus. »Bill, bist du dir sicher, dass der Kerl hier sauber ist?«
Ich hatte Mühe zu sprechen. »Also, ich kann dir sagen, dass er weder HIV hatte noch Hepatitis. Aber auf mehr untersuchen wir auch nicht. Ich kann nicht versprechen, dass er keine Syphilis hatte oder Gonorrhö.«
Sie beäugte den Penis. »Ich sehe keine offensichtlichen Symptome«, sagte sie. Mit diesen Worten schälte sie ihren linken Handschuh ab, drückte den nackten Daumen auf das abgetrennte Ende des Organs und rollte dann sorgfältig einen Daumenabdruck auf den Schaft. Dann sahen Miranda und ich ungläubig und voller Entsetzen zu, wie sie der Leiche den Kiefer auseinanderschob und ihr den Penis in den Mund stopfte.
»So«, sagte sie. »Jetzt ist es authentisch.«