13

Bei hundertsechzig Stundenkilometern verschwamm auf der Fahrt von Knoxville nach Chattanooga draußen alles zu einem Schleier aus weißen und magentafarbenen Blüten. Hartriegel und Judasbäume liebten Sonne und Kalkstein, also war überall da, wo die I-75 durch Felsschichten schnitt, der Highway gesäumt von so vielen blühenden Bäumen, dass Home & Garden Television – das in Knoxville produzierte – samt seiner ganzen Armee von Landschaftsarchitekten und Gärtnern beschämt den Kopf hängen ließ.

Als ich das East Ridge erklomm und die ausgedehnte S-Kurve nahm, die in das Tal führte, in das Chattanooga eingebettet war, ging ich das morgendliche Telefonat mit Jess noch einmal durch. Sie hatte angerufen, um die letzten Einzelheiten unserer Exkursion abzusprechen.

»Ich habe dir ein Zimmer im Marriott in der Innenstadt reserviert«, hatte sie gesagt.

»Ein Hotelzimmer? Ich brauche ein Hotelzimmer?«

»Vertrau mir«, sagte sie, »um die Zeit, wenn in diesem Nachtclub allmählich Ruhe einkehrt, wirst du keine Lust mehr haben, zurück nach Knoxville zu fahren.«

Ich hatte gar nicht erwogen, nach Knoxville zurückzufahren. Ich hatte überlegt und gehofft, Jess würde mich einladen, die Nacht bei ihr zu verbringen. Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Schließlich hatten wir uns bisher nur einmal geküsst. Es war ein denkwürdiger Kuss gewesen, und ich hoffte, dass es nicht der letzte war. Trotzdem war es nur ein Kuss – ein ziemlich dürftiges Fundament für eine Einladung zum Übernachten.

»Um zehn Uhr anzufangen kommt mir ziemlich spät vor«, sagte ich.

»Vertrau mir, in dem Laden kommt die Party erst gegen Mitternacht in Schwung.«

Und so geschah es, dass ich Stunden bevor Jess und ich den Nachtclub aufsuchen würden, wo sie hoffte, die Spur der ermordeten Drag-Queen aufzunehmen, im Marriott ankam, einem eleganten Turm aus schwarzem Glas.

Ich parkte in der Garage unter dem Hotel, checkte in mein Zimmer ein und beschloss, zum Tennessee Aquarium zu spazieren, einer von Chattanoogas Haupttouristenattraktionen. Ich war in den letzten Weihnachtsferien mit Jeffs Jungen dort gewesen und hatte die Konstruktion des Gebäudes einfach genial gefunden. Ich freute mich über die Gelegenheit, es noch einmal zu besuchen.

Die Ausstellung im Hauptgebäude begann fünf oder sechs Etagen über der Eingangsebene. Dort, unter einer riesigen Glaspyramide, befand sich eine lebensnahe Rekonstruktion eines Bergregenwalds. Genau genommen galten die Great Smoky Mountains als gemäßigter Regenwald, was die üppige Vegetation und die wilden Flüsse erklärte; hier oben trieben Nebel auf, und Wasser tropfte von Bäumen in Bäche und Teiche. In diesen Wasserläufen und Tümpeln schossen hinter Glaswänden Bachforellen, Molche und Otter hin und her.

Ebene für Ebene durch die Reihe der Exponate des Aquariums abzusteigen war, wie einen Fluss durch eine Abfolge realistischer Lebensräume in Richtung Meer hinunterzureisen. In ihm lebten Hunderte von Arten, nicht nur Wassertiere und -pflanzen, sondern auch Vögel und Reptilien, einschließlich einer riesigen Östlichen Diamant-Klapperschlange, deren Körper so dick war wie mein Unterarm und deren Schwanz stolze fünfzehn Rasseln aufwies, die ich ungläubig zweimal zählte. In einem Becken fütterten zwei Taucher Fische mit der Hand; einer der Fische – sichtlich wohlgenährt – war ein ein Meter fünfzig langer Wels, der wahrscheinlich so viel auf die Waage brachte wie ich. Als der Fisch das Maul öffnete, um zu fressen, schien sein Rachen fast groß genug, um den ganzen Kopf des Tauchers zu verschlingen.

Nachdem ich meine Reise flussabwärts durch das Delta hinaus ins offene Meer beendet hatte, ließ ich mich nach draußen in einen dunstigen Nachmittag treiben – in einen Frühlingstag, der einem vorkam wie Hochsommer.

Seitlich vom Eingangsplatz des Aquariums erstreckte sich hangabwärts bis zum Tennessee River ein Wasserfall, der als Tribut an die Cherokee-Indianer entworfen worden war, die ersten menschlichen Bewohner im Osten von Tennessee. Der Wasserfall entsprang als Wasserrinnsale, die den Pfad der Tränen darstellten, den brutalen Marsch, der die Cherokee nach ihrer Vertreibung aus Tennessee in eine Indianerreservation in Oklahoma geführt hatte. Je weiter das Wasser den Hügel hinunterlief, desto mehr nahm es an Volumen zu, gespeist aus verborgenen Zuläufen, bis es zu einem Strom von ansehnlicher Größe angeschwollen war, der über Simse in flache Teiche lief. Kinder in kurzen Hosen, Badeanzügen und hochgekrempelten Jeans wateten darin herum; Eltern, ältere Geschwister und Babysitter faulenzten auf Betonterrassen, und ein paar ganz Mutige nahmen im Bikini inmitten zahlreicher kleiner Turnschuhe und Flipflops ein Sonnenbad.

Als ich an den unteren Teil des Wasserfalls kam, überquerte ich die Straße zu Ross’s Landing am Fluss selbst und wanderte flussaufwärts über einen hölzernen Plankenweg, dem Beginn des langen Bands von öffentlichen Grünanlagen, das sich viele Kilometer hinauf bis zum Chickamauga-Staudamm erstreckte. Ein Schaufelradflussdampfer, der am Anleger vertäut war, stieß einen lauten Pfiff aus. Einige Touristen reagierten, indem sie darauf zueilten. Ein Jogger lief vorbei, schweißgebadet, und ich erinnerte mich, dass Jess gesagt hatte, irgendwo hier seien ein Mann und sein Hund einen grausigen Tod gestorben. Ich ging schneller, zielgerichteter, bis ich plötzlich stehen blieb. Vielleicht vierhundert Meter flussaufwärts vom Aquarium und Ross’s Landing führte der Fußweg am Fluss entlang unter zwei Brücken hindurch und dann im Zickzack einen steilen Hügel hinauf auf ein auffallend modernes Gebäude zu – den neuen Flügel des Kunstmuseums –, das kühn über das Steilufer des Flusses ragte. Hier unter den Brücken war in den Hang hinein ein seltsames kleines Amphitheater gebaut worden, und auf einer der unteren Stufenreihen klebten an den Brückenpfeilern gelbe und schwarze Fetzen des Bandes, mit dem die Polizei den Tatort abgesperrt hatte. Der gelbbraune Kies wies noch Spuren von Blut auf. Ich besah mir den niedrigen Raum unter den Brücken, wie ich mir jeden anderen Mordschauplatz angesehen hätte, und versuchte, in den Blutflecken Muster auszumachen, doch der Kies war abgespült, geharkt und zu sehr aufgescharrt worden, um mir irgendetwas zu verraten. Ich stellte mir diesen Ort bei Einbruch der Dämmerung vor statt im hellen Licht des Nachmittags und versuchte mir auszumalen, wie es war, wenn zornige junge Männer über einen herfielen, nur weil man ein praktisches Ziel für jahrelangen Frust und Verzweiflung abgab.

Das Summen von Gummirädern auf dem Pfad riss mich aus meinen schwermütigen Gedanken. Ein bunt gekleideter Fahrradfahrer fuhr auf einem Mountainbike vorbei. Als er die scharfen Serpentinen erreichte, die den Steilhang hinaufführten, erwartete ich, dass er absteigen würde; doch stattdessen nahm er, in einem perfekten Zusammenspiel von Balance und Präzision, die ich auf zwei Rädern nicht für möglich gehalten hatte, eine Haarnadelkurve nach der anderen – insgesamt mindestens zwanzig –, bevor er in der Nähe des Museums oben rauskam und davonsauste. Ich lachte erstaunt und entzückt und stieg selbst den Hügel hinauf, und als ich nach vielen Kurven oben ankam, schnaufte und schwitzte ich doch ziemlich. Dann wanderte ich durch das Viertel – um das Kunstmuseum drängten sich Galerien, Cafés und Kneipen – und aß im Hof eines Restaurants zu Abend. Als ich schließlich gemächlich zum Marriott zurückspaziert war, hatte ich müde Beine und wunde Füße und gerade noch genug Zeit, zu duschen und mich umzuziehen, bevor ich mich mit Jess in der Lobby zu unserer Exkursion traf.

Wir fuhren vom Hotel weg, und Jess dirigierte mich rechts auf die Carter Street und noch einmal rechts auf den Martin Luther King Boulevard. Nach vielleicht anderthalb Kilometern gab sie mir die Anweisung, links auf die Central Avenue und noch einmal rechts auf die McCallie Avenue zu fahren. Die McCallie war mir vage vertraut, da ich mehrmals als Gastdozent in die McCallie School eingeladen worden war, eine renommierte Privatschule, zu deren Absolventen etwa der Medienmogul Ted Turner, der Senator Howard Baker und der protestantische Fernsehprediger Pat Robertson zählten. Die Preparatory School lag jedoch weiter östlich, schmiegte sich an den Fuß des Missionary Ridge; unser Ziel, ein Nachtclub namens Alan Gold’s, lag in einem flacheren Teil der Stadt in einem Arbeiterviertel. Wir überquerten ein Viadukt über eine Eisenbahnlinie, und zu unserer Linken spulte sich dunkel ein Stadtpark ab. »Okay, fahr jetzt langsamer, langsamer«, sagte Jess. »Da ist es, auf der rechten Seite. Bieg in die Seitenstraße da und park irgendwo.«

Das Haus war ein gelbgraues altes Backsteingebäude, zwei Stockwerke hoch; und auf den ersten Blick sah es eher nach einem Elektrizitätsversorger aus als nach einem trendigen Nachtlokal. Das einzig Auffallende an der Fassade zur McCallie Avenue hin war eine Reihe kugelförmiger weißer Lichter rund fünf bis sechs Meter über dem Boden. Kaum bogen wir jedoch in die Seitenstraße, veränderte sich die Szene plötzlich dramatisch. Hundert oder mehr Autos und Pick-ups zwängten sich auf einem Flickwerk winziger Parzellen. Dutzende Menschen – allein und zu zweit in jeder denkbaren Kombination aus Alter, Geschlecht, Ethnie und Überspanntheit – schwirrten herum. Aus dem Seiteneingang, einer Tür, die sich alle paar Sekunden öffnete und wieder schloss, um weitere Gäste einzulassen oder auszuspucken, drangen in Abständen hämmernde Rhythmen. Wir hatten Glück – ein PT Cruiser setzte rückwärts aus einer Parklücke, als wir uns gerade langsam näherten. »Da haben sich wohl zwei früh gefunden«, sagte Jess. Ich zog die Augenbrauen hoch – wahrscheinlich nicht zum letzten Mal an diesem Abend.

Jess zahlte die zehn Dollar Eintritt für uns, und wir gingen durch einen langen, schmalen Flur, der nicht nur von der unaufhörlichen Ebbe und Flut der Gäste verstopft wurde, sondern auch dadurch, dass am Ende, direkt vor den Toiletten, eine schmale Nische war, wo die Leute stehen blieben und plauderten und den Durchgang versperrten. Hier verzweigte sich der Flur und führte in die verschiedenen Bereiche des Clubs, eine kleine hintere Bar und die Hauptbar an der Tanzfläche, die von einem zum Bersten vollen Zwischengeschoss zu überblicken war.

Jess und ich waren übereingekommen, uns zu trennen und uns einzeln durch den Raum zu arbeiten. Wir hatten jeder mehrere Kopien von Portraits des Mordopfers aus Chattanooga, wie der Polizeizeichner es rekonstruiert hatte. Auf einem Bild trug er normale Straßenkleidung, das andere Bild zeigte ihn in den ausgefallenen Kleidern, in denen seine Leiche gefunden worden war.

Jess ging auf eine Gruppe junger Männer in Motorradklamotten zu – schwarzes Leder mit zahllosen Reißverschlüssen, Nieten, Ketten und Totenschädeln. Einige Totenschädel hatten Flügel, was ich besonders faszinierend fand.

Ich hatte das Bedürfnis, mich erst zu akklimatisieren, bevor ich hier jemanden befragte, also eilte ich zur Bar und suchte eine Lücke. Der Barmann schaute von dem Drink auf, den er gerade schüttelte. »Was kann ich Ihnen servieren?«

»Coke, bitte«, sagte ich.

Er lächelte ein wenig. »Eine Coke oder ein bisschen Coke?«

Ich brauchte einen Augenblick, um den Unterschied zu kapieren. »Ah«, sagte ich. »Nur einen normalen Softdrink, wenn Sie so freundlich wären.«

»Sicher, Sir.« Er lächelte wieder, nachsichtig diesmal, reichte mir das Gewünschte und winkte dem 5-Dollar-Schein, den ich aus der Geldbörse gezogen hatte, dankend ab. »Alkoholfreies ist umsonst«, sagte er. »Hier zahlt man nur für das harte Zeug.« Er zwinkerte, als er das sagte. Vielleicht, dachte ich, hätte ich mich doch nah bei Jess halten sollen.

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Bar. Während ich nervös den Raum und die Gäste musterte, hörte ich zu meiner Linken eine sanfte weibliche Stimme. »Sie sehen aus, als suchten Sie jemanden«, sagte sie. »Und als hätten Sie ihn noch nicht gefunden.«

Ich drehte mich um und stand vor einer schönen jungen Schwarzen. Ihre Haut hatte die Farbe von starkem Kaffee mit viel Sahne. Ihr schulterlanges Haar war geglättet, es lag in leichten Wellen, und über der Stirn war das Blauschwarz mit goldenen Strähnchen versetzt. Ihre braunen Augen glänzten warm, und ihr goldenes Abendkleid zeigte ein beeindruckend tiefes Dekolleté. Es erforderte einiges an Willenskraft, nicht darauf zu starren. »Nun, ich weiß nicht, nach wem ich suche«, sagte ich.

Sie seufzte dramatisch. »Oh, Schatz, ist das nicht immer so? Ich suche schon mein halbes Leben und habe meinen Casanova noch nicht gefunden. Aber wir müssen weitersuchen. Geben Sie nicht auf. Sie finden ihn bald. Vielleicht schon heute Abend, hier.«

Ich wurde rot. »Ich suche nicht nach einem Mann … nicht so«, sagte ich. »Ich suche jemanden, der mir vielleicht sagen kann, ob ein bestimmter junger Mann vor einer Weile öfter mal hier verkehrt ist. Sind Sie oft hier?«

»Ja, ich komme schon hin und wieder her«, sagte sie, »aber meistens komme ich, wenn ich mit einem großen, starken Mann in meinem großen Messingbett liege.« Sie drückte meine linke Schulter. »Meine Güte«, sagte sie und klimperte mich mit ihren langen Wimpern an.

Dieses Gespräch war mir eindeutig entglitten. Ich wusste, dass sie mich auf den Arm nahm, trotzdem musste ich lachen. Eigentlich nahm sie uns beide auf den Arm, und deshalb konnte ich lachen. Flirtete sie mit mir? Wahrscheinlich. Flirtete ich mit ihr? Noch nicht, doch ich war schwer in Versuchung. »Nach welchem jungen Mann suchen Sie denn, Schatz? Hier hängen jede Menge junger Männer rum.«

»Nach dem hier«, sagte ich und holte die beiden Portraits aus meiner Tasche. »Kann sein, dass er Männerkleidung trug, kann aber auch sein, dass er als Drag-Queen gekleidet war. Ich meine, dass er Frauenkleider und eine Perücke trug.«

Sie blinzelte mich kokett an. »Schatz, ich weiß, was das bedeutet.«

»Richtig«, sagte ich. »Jedenfalls fragen wir uns, ob ihn vielleicht jemand hier gesehen hat.«

Sie betrachtete das Bild, sah mich an und dann quer durch den Raum zu Jess. »Sie sind von der Po-li-zei?«

»Nein«, sagte ich. »Sie ist Medical Examiner; ich bin forensischer Anthropologe. Ich lehre an der University of Tennessee, Knoxville.«

»Ein Pro-fes-sor? Meine Güte, ich liebe Männer mit einem großen, schweren … Hirn.« Sie lachte, ein musikalisches Lachen, das hoch anfing und herabstürzte wie eine Reihe von Glocken, die in schneller Folge angeschlagen wurden. Dabei legte sie mir kurz die Hand auf die Brust. Ihre Fingernägel waren lang und kobaltblau, mit goldenen Einsprengseln, die zu ihrem Kleid und den Strähnchen in ihrem Haar passten. Ein Hauch Parfum stieg mir in die Nase, etwas Blumiges und Zitroniges. Nicht zu schwer oder süß; frisch, aber auch exotisch. Es passte zu ihr, fand ich. »Mr. Professor, ich bin Miss Georgia Youngblood, und es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Danke«, sagte ich. »Ich bin Dr. Bill Brockton. Tut mir leid, das klingt spießig. Ich bin Bill.« Ich wollte sichergehen, dass ich sie richtig verstanden hatte. »Sagten Sie Miss Youngblood? Nicht Ms.? Ich habe Jahre gebraucht, bis ich für Studentinnen und Kolleginnen das weiche s am Ende richtig raushatte.«

»Oh, nein, nein, nein«, sagte sie, »ich bin auf jeden Fall eine altmodische ›Miss‹. Meine Freunde nennen mich Miss Georgia, was mir gefällt, denn ich bin jenseits der Grenze aufgewachsen, im Pfirsichstaat.« Sie neigte den Kopf und musterte mein Gesicht. »Ich glaube, ich nenne Sie Dr. Bill. Normalerweise mache ich ja nicht so gerne Arztbesuche, aber in Ihrem Fall bin ich geneigt, eine Ausnahme zu machen, Doktor Bill.«

Sie redete wie eine Figur aus einem Theaterstück von Tennessee Williams, doch die dramatischen Floskeln passten irgendwie zu ihr. Ich war mir nicht ganz sicher, was sie mit den Arztbesuchen meinte, und ich brachte nicht den Mut auf, sie zu fragen, also wedelte ich ihr mit dem Bild vor der Nase herum, um sie daran zu erinnern, dass ich sie danach gefragt hatte. »Und wie ist es nun, Miss Georgia«, sagte ich, »erkennen Sie den Mann in der einen oder anderen Gestalt?«

Sie runzelte die Stirn. »Nein, kann ich nicht behaupten«, sagte sie. »Wohlgemerkt, er ist nicht der Typ, der mir ins Auge fallen würde. Ich ziehe Männer vor, die ein bisschen mehr Reife und Erfahrung unter dem Gürtel haben.« Sie sah mich vielsagend an; und ich versuchte als Antwort darauf, eine Augenbraue hochzuziehen – ich hatte Jess’ Trick geübt, und hier und da war er mir sogar gelungen. Das halb schuldbewusste Wissen, dass Jess gerade fünf Meter weiter weg stand, ebenfalls bewaffnet mit den Bildern des Opfers, machte es schwerer, die erforderliche Muskelisolation zustande zu bringen.

»Was ist mit der Version, wo er als Drag-Queen gekleidet ist?«

»Schatz, ich weiß, dass ich den kleinen Scheißer da noch nie gesehen habe«, sagte sie, »wenn Sie mein Französisch entschuldigen. Sehen Sie sich diese billige Dolly-Parton-Perücke an. Und das SM-Bustier? Das ist auch schrecklich billig. Miss Georgia möchte in so etwas nicht einmal tot erwischt werden.«

»Nun, er wurde tot so gefunden«, sagte ich. »Jemand hat ihn vor zwei Wochen umgebracht, und wir würden gerne herausfinden, wer er war und wer ihn umgebracht hat.«

»Ich würde gerne herausfinden, warum er so einen billigen Fummel trug«, sagte sie. »Er ist wahrscheinlich von der Modepo-li-zei umgebracht worden. Ein vorsätzliches Verbrechen gegen den guten Geschmack.« Sie lachte wieder, das Glockenspiel übertönte den Lärm der Bar. In diesem Augenblick flackerten die Lichter in dem Raum kurz, und sie schaute auf die Uhr und legte mir eine Hand auf den Unterarm. »Schatz, Sie müssen mich kurz entschuldigen. Aber gehen Sie nicht weg. Ich würde gerne zurückkommen und alles über Ihren Doktor und Ihre Arthropologie hören.«

»Anthropologie«, verbesserte ich sie, doch sie eilte bereits durch eine Tür am Ende des Raums.

Plötzlich flackerten die Lichter wieder, dann wurden sie gedämpft, und der Geräuschpegel im Raum fiel um mindestens zehn Dezibel. »Meine Damen und Herren«, dröhnte eine verstärkte Stimme aus Lautsprechern in der Decke. »Alan Gold ist stolz, Ihnen den besten Entertainer in ganz Chattanooga präsentieren zu können, die einzigartige Miss Georgia Youngblood!« Viele Besucher pfiffen, johlten und klatschten, als meine neue Freundin, Mikrofon in der Hand, eine kleine Bühne am Ende des Raums betrat. Sie machte einen tiefen Knicks, beugte sich weit genug vor, um reichlich Dekolleté zur Schau zu stellen – und eine frische Runde Beifall zu provozieren. Als sie sich aufrichtete, verbarg sie das Gesicht halb hinter einer Schulter und gab sich schüchtern. Die Meute reagierte auch darauf. Sie wusste genau, was den Leuten gefiel, und gab es ihnen bereitwillig. Dann brachte sie sie zum Schweigen, und aus den Lautsprechern klang Geigenmusik. Ein Scheinwerfer ging an und ließ Miss Georgias Mokkahaut und ihr glänzendes Haar erstrahlen, und dann fing sie an zu singen. Sie begann leise und vorsichtig, um dann rasch stark und durchdringend zu werden. »Don’t … know … why/There’s no sun up in the sky/Stormy weather/Since my man and I ain’t together«, sang sie. In ihrer Stimme schwangen Trauer und Sehnsucht – eine tragische Version des glockenhellen Lachens, das sie vor wenigen Minuten hatte hören lassen.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Jess sich durch die Menschenmenge zu mir vorgearbeitet hatte. »Ist er nicht phantastisch? Die meisten singen nur Playback, aber der schmettert wie ein junger Gott, was?«

»Er?« In Jess’ Miene blitzten in rascher Folge Unglaube, Belustigung und Mitleid auf. Dann gewann die Belustigung die Oberhand.

Sie beugte sich vor, um mir leise ins Ohr sprechen zu können. »Oh, Bill. Du wusstest wirklich nicht, dass du mit einer She-Male gesprochen hast?«

»Einer She-Male?«

»Ja, She-Male. Einem Transvestiten. Einer Drag-Queen. Miss Georgia dort ist eine Lokalgröße, seit sie vor einem Jahr oder so auf der Szene aufgetaucht ist. Die Leute kommen bis aus Atlanta, um sie zu sehen.« Jess zog eine Augenbraue hoch. »Es sah übrigens ganz so aus, als hätte sie dich gleich ins Herz geschlossen«, sagte sie. »Du hast wohl mächtig deinen Charme spielen lassen. Ich wollte schon rüberkommen, um ihr die Augen auszukratzen.«

»Ach, hör auf«, sagte ich. »Ich habe nur versucht herauszufinden, ob sie dein Mordopfer schon mal gesehen hat.«

»Und?«

»Anscheinend nicht. Sie sagte, Version A sei nicht der Typ Mann, der ihr auffallen würde, und ›die billige Perücke und den billigen Fummel‹, falls ich sie korrekt zitiere, von Version B habe sie hier noch nie an jemandem gesehen. Sie sagt, er wäre wahrscheinlich von der Modepolizei exekutiert worden. Nein, entschuldige, der Modepo-li-zei«, verbesserte ich mich.

»Miss Georgia scheint sich mit Mode gut auszukennen«, meinte Jess. »In dem Kleid ist sie echt der Hammer.« Jess schaute an ihrem eigenen Outfit hinunter, das aus ihrer gewohnten schwarzen Jeans und einer eleganten blauen Bluse bestand, die, vermutete ich mal, aus Seide war. »Ihre Titten sind besser als meine, was? Komm schon, sag mir die Wahrheit – ich bin ein großes Mädchen, ich kann’s ertragen.«

Ich starrte sie an. Hatte ich zu lange in der Vorstadt und im Elfenbeinturm gelebt? Dieser Abend nahm für meinen Geschmack eine viel zu unwirkliche Entwicklung.

Oben auf der Bühne ging Miss Georgias Schnulze zu Ende, ihre Stimme wurde wieder leise und brach ein wenig. »Can’t … go … on/Everything I had … is gone …«, tremolierte sie und klang, als meinte sie es vom Grunde ihres gebrochenen Herzens vollkommen ernst. »Keeps raining all the time/Keeps raining all of the time.«

Die Geigen verstummten, und Miss Georgia ließ den Kopf hängen und das Mikrofon in den Schoß fallen. Die Menschenmenge applaudierte und jubelte begeistert. Ich zögerte, immer noch peinlich berührt und verwirrt über meinen dummen Fehler. Ich sah Jess an, die klatschte, mich angrinste, die Augen verdrehte und den Kopf schüttelte. Ich grinste zurück, dann lachte ich laut über meine Dummheit. Und klatschte dann so fest, dass mir die Hände weh taten.

Miss Georgia gab noch ein paar andere Nummern zum Besten, von einer hüfteschwingenden, fußestampfenden Version von »R-E-S-P-E-C-T« bis hin zu einem betörend traurigen Blues. »She cries alone at night too often«, sang sie. »He smokes and drinks and don’t come home at all/Only women bleed/Only women bleed/Only women bleed.« Irgendwie schien diesen Worten eine neue Schärfe innezuwohnen, wenn sie von einem jungen Schwarzen gesungen wurden, der sich, aus welchen Gründen auch immer, als Frau sah. Innerlich zumindest blutete er bestimmt auch.

Ich konnte immer noch nicht behaupten, ich verstünde, warum ein Mann Frauenkleider tragen wollte. Doch ich erfasste jetzt zumindest teilweise intuitiv, welcher Schmerz mit so einem drastischen Schritt verbunden war. Meine Verwirrung wurde überlagert von Mitleid. Und ich konnte, zumindest in Miss Georgias Fall, das umwerfende Ergebnis würdigen, das mit einer gertenschlanken Gestalt, einem Gespür für Mode und einer überdimensionalen Persönlichkeit zu erreichen war.

Am Ende der Aufführung ging der Scheinwerfer aus, und die Lichter in der Bar flackerten wieder auf, allerdings nicht alle. Die hundert verschiedenen Gespräche um uns herum wurden ebenfalls weitergeführt, wenn auch der Geräuschpegel jetzt generell etwas gedämpfter war als zuvor. Das Lied und der Sänger schienen die Stimmung in der ganzen Bar weicher gemacht zu haben.

»Ich gehe mal auf die andere Seite rüber«, sagte Jess. »Falls du eine Minute lang noch an etwas anderes denken kannst als an Miss Georgia, wie wäre es dann, wenn du mit den Leuten an der Bar reden würdest?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sie sich in die Menschenmenge und begann an einem Tisch in der hinteren Ecke.

Ich ging von Gast zu Gast. Ich heimste viele seltsame Blicke ein, ein paar anzügliche Anträge und einen Kniff in den Po, dem rasch ein lüsterner Antrag folgte. Danach brauchte ich einen Augenblick, um mich zu sammeln, und sah zum anderen Ende des Raums hinüber. Jess war in ein angeregtes Gespräch mit niemand anderem als Miss Georgia vertieft. Jess zeigt auf Miss Georgias Busen und dann auf ihren eigenen und schüttelte lachend den Kopf. Dann hob sie die Hände und legte sie, wie ich staunend beobachtete, um Miss Georgias Brüste, drückte sie abschätzend und nickte bewundernd. Einen Augenblick später war Miss Georgia dran, Jess’ Brüste zu drücken, um sich anschließend theatralisch Luft zuzufächeln.

Ich wusste nicht, ob ich mich darüber amüsieren oder eifersüchtig sein sollte. Wenn ich ehrlich war, traf beides zu.

Ich schaute auf die Uhr. Es war zwei Uhr – gut drei Stunden über meine normale Schlafenszeit hinaus. Plötzlich kam es mir sehr viel später vor. Plötzlich hatte ich das Gefühl, für mich sei es viel zu spät.