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Der uniformierte Beamte führte mich den Weg zur Hauptlichtung hinunter, die direkt hinter dem Tor zur Body Farm lag. Am Rand der Lichtung stand schräg ein schiefer, verwitterter Picknicktisch; der Streifenbeamte brachte mich dort hin und setzte mich auf eine der beiden Bänke. »Macht es Ihnen etwas aus, hier zu warten, während wir den Tatort sichern und noch ein paar Leute herbeirufen?« Ich schüttelte den Kopf. »Geht es Ihnen gut?«
»Nein. Aber ich komme zurecht. Tun Sie nur, was Sie tun müssen.«
Ich hörte Martinshörner näher kommen, insgesamt, mindestens ein halbes Dutzend. Das offene Tor hatte bereits jemand mit Absperrband gesichert; durch die Öffnung sah ich eine rasch anwachsende Schar von Beamten – städtische Polizei, Campuspolizei und Sicherheitsbeamte der Universitätsklinik – sowie Rettungssanitäter, Notärzte und Feuerwehrleute. Köpfe beugten sich durch das Tor, über das Absperrband, beäugten das Gelände. Beäugten mich.
Nach einer Weile bückte sich ein elegant gekleideter Mann in einem lavendelfarbenen Hemd und einer gelben Krawatte unter dem Band durch und kam auf mich zu. »Dr. Brockton?« Ich nickte. »Ich bin Sergeant John Evers«, sagte er. »Ich bin von der Kriminalpolizei. Und ich ermittle in Mordfällen.« Er streckte mir eine sonnengebräunte Hand hin und schüttelte mir energisch die Hand. Dann reichte er mir eine Visitenkarte. »Kann ich von Ihnen eine kurze Aussage haben, solange die Dinge noch frisch sind?«
»Natürlich.«
»Wir möchten uns unten in der Stadt in aller Ruhe mit Ihnen unterhalten, da Sie derjenige sind, der die Leiche gefunden hat. Aber fürs Erste nur einige grundlegende Fakten.« Er zog einen Stift und einen kleinen Notizblock heraus, den er mittig auf einem der gewölbten Bretter der Tischplatte ausrichtete. Er notierte meinen Namen, Adresse, Telefonnummer, wo ich arbeitete und andere Daten, dann kam er zu den Angaben, wo wir waren und warum. »Wann sind Sie heute Morgen hergekommen?«
»Ich glaube, gegen acht«, sagte ich. »Ich habe im Auto noch die Radionachrichten gehört, also kann es nur wenige Minuten nach acht gewesen sein.«
Er nickte. »Und was wollten Sie hier?«
»Ich arbeite hier«, sagte ich. »Dies ist meine Forschungseinrichtung. Die Forschungseinrichtung des anthropologischen Instituts, sollte ich wohl eher sagen.«
»Ja, Sir, natürlich. Ich meinte, warum sind Sie heute Morgen speziell hergekommen?«
»Ich bin hergekommen, um nach einem Forschungsobjekt zu sehen. Um zu sehen, in welchem Zustand die Leiche – die männliche Leiche, die an den Baum gefesselt ist – inzwischen ist.« Ich erklärte ihm, wie wir die Situation nachgestellt hatten und warum. »Das ist ein Projekt für den Medical Examiner in Chattanooga«, sagte ich. »Jess – Dr. Jessamine – Carter. Ich fand ihre Leiche, als ich hinaufkam, um nach meinem Forschungsobjekt zu schauen.«
»Dann haben Sie das Opfer gleich erkannt?« Ich nickte. »Sie kannten Dr. Carter persönlich?«
»Ja. Wir haben in den letzten Jahren bei mehreren Fällen zusammengearbeitet. Und wir arbeiteten auch im Augenblick zusammen an einem Fall, bei dem es um ein Mordopfer geht, das in der Nähe von Chattanooga an einen Baum gefesselt gefunden wurde. Das ist der Mordschauplatz, den wir hier nachgestellt haben, um die Leichenliegezeit für Dr. Carter genauer bestimmen zu können.«
»Haben Sie, als Sie heute Morgen herkamen, hier sonst irgendjemanden gesehen, hinter dem Zaun oder auf dem Parkplatz?« Ich schüttelte den Kopf. »Ist jemand vom Parkplatz weggefahren?« Wieder schüttelte ich den Kopf. »War das Tor offen oder zu, als Sie herkamen?«
Ich musste einen Augenblick überlegen; es schien ewig her zu sein. »Es war offen«, sagte ich. »Das war das Erste, was ungewöhnlich war.«
»Ist es normalerweise verschlossen?«
»Ja, mit zwei Schlössern – einem an dem Maschendrahttor, einem am Holztor.«
»Was war noch ungewöhnlich?«
»Am inneren Tor steckte eine Nachricht für mich.« Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass der Zettel in meiner Tasche war. Ich wollte ihn rausholen, besann mich jedoch, bevor ich ihn angefasst hatte. »Ich werde lieber einen Beamten Ihrer Spurensicherung bitten, ihn aus meiner Tasche zu holen und einzutüten. Es ist eine Nachricht von Dr. Carter. Oder zumindest angeblich von Dr. Carter. Sie lautet: ›Ich bin drinnen. Komm rein.‹ Meine Fingerabdrücke werden darauf sein, weil ich ihn zwischen den Brettern rausgezogen und gelesen habe. Aber vielleicht sind auch noch die Fingerabdrücke desjenigen darauf, der ihn dort hingesteckt hat.«
Er nickte und malte ein Kästchen um das Wort NACHRICHT, mit Pfeilen, die auf die Ecken des Kästchens zeigten, um es noch deutlicher hervorzuheben.
»Und was haben Sie gemacht, als Sie die Nachricht gefunden hatten?«
»Ich bin reingegangen und habe mich umgesehen und Dr. Carters Namen gerufen. Zuerst bin ich da runtergegangen«, ich zeigte auf den unteren Bereich, wo Jess manchmal Leichen zum Skelettieren ablegte, »und dann bin ich dort den Weg raufgegangen, der zum Forschungsobjekt führt. Und da habe ich sie gefunden. Ihre Leiche. An die andere gebunden.«
»Was haben Sie gemacht, als Sie sie gesehen haben?«
»Zuerst gar nichts. Ich habe sie nur angestarrt. Ich konnte es nicht begreifen; ich konnte nicht denken. Schließlich – ich meine, es waren wahrscheinlich nur eine oder zwei Minuten, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit – wählte ich die Nummer der Polizei.«
»Und nach dem Anruf, was haben Sie da gemacht? Haben Sie sich der Leiche genähert? Haben Sie die Leiche womöglich sogar angefasst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin gescheit genug, an einem Tatort nicht herumzutrampeln.«
»Wie nah waren Sie?«
»Zwei Meter. Vielleicht auch zweieinhalb oder drei.«
»Und woher wussten Sie, dass sie tot ist?«
Ich sah ihn an, begegnete zum ersten Mal richtig seinem Blick. »Detective, ich habe die letzten fünfundzwanzig Jahre nichts anderes getan, als den Tod zu erforschen. Ich habe Hunderte von Leichen gesehen. Ich erkenne die leeren, bewölkten Augen. Ich kenne den Unterschied zwischen flachem Atem und keinem Atem, zwischen einem bewusstlosen Menschen und einer leblosen Leiche.« Ich merkte, dass ich die Stimme erhoben hatte, doch es schien eine fremde Stimme zu sein, nicht meine eigene; eine Stimme, die ich nicht unter Kontrolle hatte. »Wenn Schmeißfliegen um die blutige Leiche einer Frau herumfliegen und ihr in den offenen Mund krabbeln, muss ich nicht nach dem Puls tasten, um zu wissen, dass diese Frau tot ist.«
Evers sah mich unverwandt an, in seinen Augen gleichermaßen Entsetzen wie Faszination. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, dass auch andere Augen mich anstarrten. Ich schaute zum Tor und sah ein Dutzend Menschen, die in meine Richtung blickten und die alle mehr oder weniger entsetzt waren. Ich holte tief Luft und rieb mir über Augen und Stirn. »Tut mir leid«, sagte ich. »Das nimmt mich alles sehr mit.«
»Das glaube ich gerne«, sagte Evers. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich muss jetzt rauf an den Tatort. Und wir brauchen hier wahrscheinlich den ganzen Tag. Aber ich würde mich gerne morgen ausführlicher mit Ihnen unterhalten, falls es Ihnen nichts ausmacht. Um mehr über Dr. Carter zu erfahren, ihre Kollegen, ihre Aktivitäten. Okay?«
»Natürlich«, sagte ich. »Was immer ich tun kann, um zu helfen. Wann soll ich da sein?«
»Zehn Uhr?« Ich nickte. »In Ordnung. Danke, Dr. Brockton. Gehen Sie es heute ruhig an. Sie stehen ganz schön unter Schock.«
»Ja, das stimmt wohl. Danke. Tun Sie, was Sie können.«
Er lächelte breit und entblößte dabei zwei Reihen Zähne, die so weiß waren, dass er damit tolle Werbung für Crest oder sonst eine Zahnpasta hätte machen können. »Das tue ich immer, Doc. Das tue ich immer. Oh, eines noch. Bleiben Sie bitte noch eine Minute sitzen und lassen Sie mich einen Kriminaltechniker suchen, der die Nachricht aus Ihrer Tasche fischen kann.«
Ich rührte mich nicht vom Fleck, und er kam ein paar Minuten später in Begleitung eines Kriminaltechnikers zurück, der von Kopf bis Fuß in einem weißen Einweg-Schutzoverall aus Tyvek steckte. Mit einer Pinzette zog der Beamte die Nachricht aus meiner Hemdtasche, versiegelte sie in einem Zipplock-Beutel und etikettierte diesen. »Sie wissen, wohin Sie morgen kommen müssen, richtig?«, fragte Evers. Ich nickte. »Inzwischen wollen wir versuchen, die Sache hier streng unter Kontrolle zu halten. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns dabei helfen würden. Falls Sie Anrufe von den Medien bekommen, was wahrscheinlich ist, dann verweisen Sie sie einfach an uns.«
»Mache ich.«
Evers stand auf, was wohl für mich das Stichwort war, es ihm nachzutun. Er brachte mich zum Tor und hob das gelb-schwarze Absperrband so weit hoch, dass ich mich nicht allzu tief bücken musste. Dann wandte er sich an einen uniformierten Beamten, der, ein Klemmbrett in der Hand, vor dem Tor stand. »Ich gehe nicht«, sagte er, »aber er. Das ist Dr. Bill Brockton von der University of Tennessee. Dr. Brockton war schon drin, als der Tatort abgesperrt wurde, er steht also nicht auf Ihrer Liste. Sie müssen seinen Namen hinzufügen, und notieren Sie unter Ankunftszeit ›nicht bekannt‹. Er verlässt den Tatort um«, er schaute auf seine Uhr, »neun Uhr achtunddreißig.« Der Beamte nickte und tat wie ihm geheißen.
Zwanzig oder mehr Einsatzfahrzeuge drängten sich in der nordöstlichen Ecke des Parkplatzes, bei einigen drehte sich noch das Blaulicht. Einige standen auf Parknischen zwischen den Autos der Krankenhausangestellten; andere verstopften die Wege zwischen den geparkten Autos und standen auf dem Grasstreifen am östlichen Rand des Parkplatzes. Hundert Meter weit weg, in der südöstlichen Ecke, wo ebenfalls ein Bereich mit Absperrband abgetrennt war, entdeckte ich eine Schar Medienfahrzeuge – hauptsächlich Geländelimousinen von Nachrichtenteams, aber auch zwei Übertragungswagen vom Fernsehen mit ausgefahrenen Antennen. An dem gelben Band drängte sich ein halbes Dutzend Stative mit einem halben Dutzend Kameras darauf, deren Linsen sämtlich auf mich gerichtet waren. Ich drehte mich um, ging hinten um meinen Wagen herum, stieg ein und setzte rückwärts aus meinem Parkplatz.
Als ich den Hügel hinunter zum Ausgang des Parkplatzes fuhr, tauchte aus Richtung Leichenschauhaus ein schwarzer Chevy Tahoe auf, der zur Body Farm bretterte. Im Vorbeifahren erhaschte ich einen Blick auf den Fahrer: Garland Hamilton. Ein Medical Examiner raste an einen Mordschauplatz, wo die Leiche eines anderen Medical Examiners auf ihn wartete.