10
Ich hatte den Stapel von hundert schriftlichen Arbeiten erst zur Hälfte durchgearbeitet, und schon meldete sich mein Magen. Ich schaute auf die Uhr, halb elf, das war selbst für meine Verhältnisse zu früh, wenn auch nicht viel. Abgesehen davon servierte die nächstgelegene Cafeteria im Sportgebäude auf der anderen Straßenseite Mittagessen erst ab elf. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich die restlichen fünfzig Arbeiten – ein Multiple-Choice- und Lückentest – noch fertig korrigieren und trotzdem immer noch der Erste in der Schlange fürs Mittagessen sein.
Es klopfte an meiner Tür. Wenn ich da war, ließ ich die Tür immer angelehnt, und die meisten Studierenden platzten einfach herein. Diesmal nicht. »Herein«, sagte ich. Miranda steckte den Kopf durch die Tür und sah sich im Raum um. »Seit wann klopfen Sie an?«, fragte ich.
»Seit ich reingekommen bin und Sie jemanden geküsst haben«, sagte sie und verdrehte die Augen.
»Aha«, sagte ich und bereute die Frage schon. »Das war ein einmaliger Fehltritt. Ich war damals von Trauer überwältigt. Sie hat versucht, mich zu trösten.« Meine Studentin – beschämenderweise war »sie« auch noch eine Erstsemesterstudentin gewesen – hatte mir damals eigentlich nur eine einfache Frage gestellt, mit der sie dann einen Strom von Trauer über den Tod meiner Frau ausgelöst hatte. In dem Versuch, mich zu trösten, hatte die junge Frau mir einen Kuss gegeben, der voller Mitgefühl begann, aber rasch leidenschaftlich wurde. Es war wahrscheinlich ein Glück, dass Miranda just in diesem Augenblick in der Tür aufgetaucht war, denn sonst hätte ich die Grenze womöglich noch weiter überschritten.
»Trösten, ha«, schnaubte Miranda. »Hm. So ähnlich wie der Gefängniswärter, über den ich letzte Woche was im News Sentinel gelesen habe? Der Typ wurde erwischt, wie er eine weibliche Gefangene tröstete. Wenn ich die Geschichte richtig in Erinnerung habe, war sie vor Kummer ganz außer sich, dass sie wegen Prostitution verhaftet worden war.«
»Nein«, sagte ich, »nicht so. Bei diesem Trost hier war niemand nackt.«
»Hätte aber sein können, wenn ich nur fünf Minuten später gekommen wäre«, sagte sie. »Wo wir gerade von der tüchtigen und trostreichen Miss Carmichael sprechen, wie geht es ihr eigentlich? Ist sie immer noch Jahrgangsbeste?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Sie hat dieses Semester zwei Seminare in Kulturanthropologie belegt. Ich hoffe, sie ist nicht auf die dunkle Seite gewechselt.«
»Hm. Vermutlich schwenkt sie wieder zur physischen Anthropologie zurück. Physisch ist sie ja doch sehr präsent, oder?« Miranda lächelte süß bei diesen Worten, um mir zu verstehen zu geben, dass sie scherzte. Irgendwie.
»Ich bin froh, dass Sie das sagen.« Ich erwiderte ihr Lächeln. »Ich dachte schon, wir hätten sie verloren. Ach, Miranda, Sie haben mich so … getröstet.«
Sie sah mich wütend an, dann lachte sie. »Okay, okay, es tut mir leid. Waffenstillstand. Ich bin nicht mehr eifersüchtig auf sie.« Sie unterbrach sich für eine halbe Sekunde. »Das kluge, süße kleine Miststück.« Sie lachte wieder. Ich auch. Miranda hatte so ihre Art, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen und mich dann aufzufangen, bevor ich wirklich zu Boden ging. »Ich bin ja eigentlich auch nicht vorbeigekommen, um auf Ihrer Achillesferse herumzutrampeln«, sagte sie.
»Oh, das tut mir aber leid. Dabei hatte ich so viel Spaß. Was für Freuden erwarten mich denn noch?«
»Unser Forschungsobjekt, null-fünf, einunddreißig?« Ich war augenblicklich in Alarmbereitschaft, denn 05-31 war die Fallnummer der Leiche, die wir auf der Body Farm an den Baum gebunden hatten; er war der einunddreißigste forensische Fall im Jahr 2005.
»Was ist mit ihm?«
»Das entwickelt sich sehr interessant. Vielleicht haben Sie Lust, mit rauszufahren und einen Blick darauf zu werfen?«
»Das hatte ich eigentlich vor, sobald ich diese Arbeiten fertig benotet und zu Mittag gegessen habe«, sagte ich, »aber irgendwie kommt mir das jetzt nicht mehr so reizvoll vor. Fahren wir.«
Der institutseigene Pick-up parkte eine Treppe weiter in der Nähe des Tunnels, der das Stadion auf Höhe des Spielfelds durchstieß, an der nördlichen Endzone – der Tunnel, durch den an Spieltagen das Footballteam der University of Tennessee einlief, begleitet vom Jubel von hunderttausend Fans. Der Wagen steckte mit der Schnauze zwischen zwei der Säulen, die die Zuschauerränge des Stadions stützten. Ich setzte zurück, schob das Heck zwischen zwei andere Säulen und nahm die gewundene einspurige Zufahrtsstraße, die die Basis des Stadions umkreiste, wobei ich mir den Weg um mehrere Studenten und einen entgegenkommenden Wartungswagen bahnte.
Ich bog rechts auf den Neyland Drive, und wir fuhren flussabwärts parallel zum Fluss. Der Morgen war sonnig und für Mitte März ungewöhnlich warm – zumindest, was früher als für die Jahreszeit ungewöhnlich warm galt –, und auf dem grünen Band, das den Neyland Drive säumte, war bereits eine erkleckliche Zahl an Fahrradfahrern und Joggern unterwegs. Auf dem Lehr- und Versuchsgelände der Landwirtschaftlichen Fakultät – zwei sorgfältig gärtnerisch gestaltete Morgen Land, in deren Zentrum eine runde Laube stand – waren bereits Narzissen, Forsythien und Tulpen erblüht. Ich fuhr langsamer, um den Anblick zu genießen, was vielleicht ganz gut war so, denn dreißig Meter vor uns bog ein Wagen mit einem langen Pferdeanhänger gemächlich nach rechts in die Einfahrt zum Institut für Tiermedizin ab.
»Hey, apropos Pferde, was ist eigentlich aus Mike Henderson geworden?«, fragte Miranda. »Er hat vor einer Weile eine Untersuchung über die Auswirkungen von Feuer auf Knochen gemacht. Hat in Teilzeit am tiermedizinischen Institut gearbeitet und Pferde- und Kuhknochen verbrannt, um die Bruchmuster zu untersuchen, nicht wahr? Vorarbeiten für ein großes Projekt mit menschlichen Knochen.«
»Also, das hatte er vor«, sagte ich. »Seine Magisterarbeit war nicht ganz ausgereift. Er hat viele Knochen verbrannt und einige hübsche Bilder gemacht, die den Unterschied zwischen trockenen Knochenbrüchen und frischen Knochenbrüchen bei einem Feuer zeigten. Aber ich glaube, zur Interpretation oder Analyse hat er nicht viel beigetragen.«
»Einige dieser Fotos habe ich vor ein oder zwei Jahren auf der rechtsmedizinischen Konferenz an ein paar Stellwänden gesehen«, sagte sie. »Wirklich interessant. Die trockenen Knochen, die er verbrannt hat, sind in einer Art geradlinigem Muster zerbrochen, wie Holzscheite im Lagerfeuer. Aber die frischen Knochen sind in einer Art Spiralmuster zerbrochen, richtig?« Ich nickte. »Wie kommt das?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte ich. »Das weiß niemand so genau. Wollen Sie meine persönliche Theorie hören?«
»O ja, bitte, Doktor«, flüsterte Miranda heiser. »Ich liebe es, wenn Sie mir Ihre persönlichen Theorien anvertrauen.« Ich bot aber auch eine gute Angriffsfläche für solche sarkastischen Attacken.
»Okay, Sie Klugscheißerin, ich glaube, es hängt mit dem Kollagen zusammen«, sagte ich. »Frische Knochen enthalten noch viel Kollagen. Ich glaube nicht, dass das schon jemand ausreichend erforscht hat, um meine Theorie zu untermauern, aber ich glaube, dass die Kollagenmatrix eine leichte Drehung aufweist. Das würde die Knochen stärker machen. Wie diese verzwirbelten Kiefern, die manchmal auf sturmgepeitschten Klippen wachsen, wissen Sie? Die spiralig gewundene Maserung macht sie sehr viel härter als die hohen, geraden Bäume, die dort wachsen, wo der Wind nicht so heftig bläst.«
»Die Natur ist eine ziemlich gute Statikerin«, pflichtete sie mir bei.
Ich fuhr die Auffahrt zum Alcoa Highway hoch, der den Fluss überspannte und zur Medizinischen Fakultät und zur Body Farm führte. »Es ist nicht zu spät, Ihr Dissertationsthema zu ändern«, sagte ich. »Ich wette, wenn Sie vergleichende Röntgenuntersuchungen und Kernspintomografien von Knochen machen würden, solange sie frisch sind und dann, wenn sie getrocknet sind, könnten sie Licht auf die Struktur des Kollagens werfen.«
»Klar«, sagte sie. »Ich werfe einfach alle meine Daten über Osteoporose aus dem Fenster und fange noch einmal ganz von vorne an.« Ich nickte. »Besorgen Sie mir dann, wenn ich die 7-Jahres-Grenze als Doktorandin erreicht habe, eine feste Anstellung?«
»Wenn das bedeutet, dass Sie mir als Kollegin erhalten bleiben«, sagte ich.
»Ha«, meinte sie. »Wenn ich Ihre Kollegin wäre, würden Sie sich von mir bedroht fühlen.«
»Ha«, sagte ich. »Ich fühle mich schon jetzt von Ihnen bedroht.« Ich lachte. »Das heißt wohl, dass ich entweder sehr mutig bin oder sehr dumm.«
»Sieht so aus«, sagte sie, ohne weiter darauf einzugehen, auf welche Option sie wetten würde.
Als wir die Brücke über den Fluss überquerten, bemerkte ich, dass der Wasserspiegel in der Nacht gestiegen war. Im Winter senkte die Tennessee Valley Authority den Wasserspiegel in der Kette von Staubecken, damit in der Regensaison genug Platz war, sehr viel abfließendes Wasser aufzunehmen. Mitte März ließen die Regenfälle jedoch allmählich nach, also ließ die Tennessee Valley Authority die Staubecken langsam wieder auf ihre normale Sommerhöhe volllaufen. Einige Seen oben in den Bergen – besonders Norris und Fontana – fielen den Winter über um drei bis sechs Meter, bis um das grüne Wasser herum hohe rote Lehmböschungen sichtbar wurden. Der Fort Loudoun jedoch – der für den Schiffsverkehr offen bleiben musste – fiel nur um etwa einen Meter. Genug, um die Uferlinie für Pfeilspitzensammler freizulegen, aber nicht so viel, dass Boote im Schlamm strandeten wie Wale.
Die Judasbäume und der Hartriegel entlang des Alcoa Highway fingen an zu blühen. Normalerweise waren die Judasbäume zuerst dran, und wenn deren Blüte vorbei war, brach der Hartriegel aus. In manchen Jahren jedoch, wenn die botanischen Planeten magische Konstellationen eingingen, blühten die beiden Arten gemeinsam, und dieses Jahr taten sie uns diesen Gefallen. Vielleicht empfand ich es nur so, weil ich allmählich meine zweijährige Trauerzeit über Kathleens Tod überwand oder weil sich in mir Verlangen nach Jess regte – ermutigt durch das, was ich auf ihrer Seite als Flirten interpretierte –, aber dieser Frühling schien wollüstige, schamlose Fruchtbarkeit zu verströmen. Die Luft war fast ungehörig schwer vom Duft der Blüten und Pollen. Es war ein Frühling von der Art, die in anderen Kulturen, anderen Jahrhunderten heidnische Feste inspiriert hatten.
Die landwirtschaftliche Fakultät der Universität betrieb auf einem Gelände neben dem Unikrankenhaus in einer großen Flussbiegung eine Milchviehhaltung; und an einem Morgen wie diesem, an dem die Bäume in voller Blüte standen und die schwarzbunten Kühe auf der smaragdgrünen Wiese grasten, bot sich dem Betrachter ein Anblick wie ein Bild, das gut den Titel Ländliches Tennessee hätte tragen können. Steckte man die Body Farm in eine Ecke, wäre es wie eines dieser Memento-mori-Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert, auf denen zwischen dem taufeuchten Obst und Gemüse ein Schädel oder ein totgeknüppeltes Tier lag, um uns an unsere Sterblichkeit zu gemahnen. Eine ähnliche Rolle spielte ich wohl bei den Fakultätstreffen der Universität.
Ich parkte neben dem Eingang und schloss die Vorhängeschlösser am Maschendrahttor und am inneren Holztor auf. Auf dem Gelände der Body Farm wuchsen weder Judasbäume noch Hartriegel, doch auf der Lichtung wucherte Löwenzahn in rauen Mengen, strahlende Spritzer aus Gelb zwischen dem frischen Gras und den modrigen Knochen.
Als Miranda und ich den Weg zum oberen Ende des Geländes hinaufstapften, bemerkte ich einen neuen Leichensack wenige Schritte abseits des Weges, aus dem eine Hand und ein Fuß ragten. »Ist das der tödliche Unfall auf dem Highway?«
»Ja«, sagte sie. »Wir haben ihn gestern Morgen vom Leichenschauhaus hergebracht.«
Ich kniete mich neben die Leiche und schlug den Leichensack zurück. Ein kleines Schmeißfliegengeschwader schwärmte unter dem schwarzen Plastik aus. »Und er war zu Fuß auf der I-40 unterwegs?«
»Ja, er ist das erhöhte Stück Straße Richtung Innenstadt entlanggewandert, wo es keine Standspur gibt. Ist auf die Fahrbahn gestolpert, und ein Highschoolstudent hat ihn direkt überfahren. Der Junge tut mir leid – anscheinend ist er ziemlich fertig deswegen.«
»Wem ginge das nicht so«, sagte ich. »Ich habe mal einen Hund überfahren, und da musste ich mich übergeben. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es ist, versehentlich einen Menschen umzubringen.«
»Er hatte Glück, dass er so eine große Geländelimousine fuhr. Sonst wäre er vielleicht auch umgekommen. Das Auto war vorne ziemlich zerbeult. Bei einem kleineren Auto wäre der Typ bei hundert oder hundertzehn Stundenkilometern womöglich über die Motorhaube geflogen und durch die Windschutzscheibe gekracht.«
Ich betrachtete den Toten genauer. Er sah aus, als hätte er vier oder fünf harte Jahrzehnte gelebt, bevor er den Tod auf der Überholspur fand. Eine Seite des Gesichts und des Schädels waren zerschmettert; im Haar hingen Glasscherben und Farbsplitter, und aus dem Kiefer waren einige Zähne herausgebrochen. Der linke Arm, die Schulter und die Rippen schienen ebenfalls zertrümmert zu sein. Überall verteilt auf seinen vielen Verletzungen bemerkte ich Klumpen von weißen Fliegeneiern, die aussahen wie körnige Paste oder Grießbrei. In vierundzwanzig Stunden würde der ganze Körper von frisch geschlüpften Maden wimmeln.
»Sieht aus, als könnte man eine Münze werfen, ob er an einem Hirnschaden gestorben ist oder an inneren Verletzungen«, sagte ich. »Ich schätze, Jess könnte es feststellen, falls es eine Rolle spielte.«
»Die Familie hat gesagt, sie will keine Obduktion, und die Leiche will sie auch nicht«, sagte Miranda. »Er hat eine Weile auf der Straße gelebt; Probleme mit Alkohol und wahrscheinlich Geisteskrankheit. Anscheinend hatten er und seine Verwandten nicht viel füreinander übrig. Auf dem Totenschein steht einfach ›multiple Verletzungen nach Verkehrsunfall‹ als Todesursache.«
»Nun, es ist schade um ihn«, sagte ich, »aber er wird eine interessante Ergänzung zu unserer Knochensammlung. Gutes Beispiel für ein Trauma durch massive stumpfe Gewalt und dafür, dass die Art und Weise, wie die Knochen gebrochen sind, darauf schließen lässt, aus welcher Richtung der Aufprall kam.«
»Und auch ein gutes Beispiel dafür, warum es keine gute Idee ist, unter Alkoholeinfluss am Verkehr teilzunehmen, und sei es nur als Fußgänger.«
»Auch das.«
Ich deckte den Leichensack wieder über den Mann und schob seine Hand und seinen Fuß unter die Plane in den Schatten. Der Schatten würde verhindern, dass die Haut ledrig-zäh wurde, was in der Sonne leicht passierte; und er würde dafür sorgen, dass die Maden – die das Tageslicht und die räuberischen Vögel, die dann unterwegs waren, scheuten – rund um die Uhr emsig futterten. Damit wandten wir uns ab und eilten weiter den Pfad hinauf zu dem Double unseres Opfers aus Chattanooga.
Im Näherkommen sah ich, warum Miranda so begierig gewesen war, mich herzubringen, damit ich einen Blick darauf werfen konnte. Die Leiche hing noch am Baum, der Kopf baumelte ihr fast auf der Brust. Trotz der Verletzungen im Gesicht, die ich repliziert hatte – blutende Verletzungen, die wimmelnde Maden normalerweise zu einer Fressorgie anstiften würden –, war der größte Teil des weichen Körpergewebes dort noch vorhanden. Selbst das übertriebene Augen-Make-up war noch intakt. Doch von den Füßen der Leiche, von Knöcheln und Unterschenkeln waren fast nur noch die nackten Knochen übrig.
»Wow«, sagte ich, »er sieht dem Mordopfer schon ziemlich ähnlich, außer dass sein Bauch noch aufgebläht ist. Vielleicht noch zwei Tage, dann entspricht er ihm ziemlich genau.« Ich kniete mich hin und untersuchte Füße und Beine auf Spuren von Raubtierbissen, doch ich fand keine – auch das war genau wie bei dem Opfer aus Chattanooga. Alles, was ich sah, waren Maden, die um die wenigen Gewebereste an den unteren Extremitäten zu kabbeln schienen.
Wir hatten eine Infrarotkamera auf ein Stativ gesetzt, auf die Leiche gerichtet und an einen Bewegungsmelder angeschlossen, sodass wir ein Foto erhalten würden, falls es einem Nachttier gelang, den Zaun zu überwinden und sich an der Leiche zu schaffen zu machen. »Haben Sie die Kamera überprüft?« Miranda nickte. »Hat irgendetwas sie ausgelöst?«
»Nein. Keine einzige Kreatur hat sich gerührt, nicht mal eine Maus.«
Ich stand auf und untersuchte das Gesicht genauer. Ich musste leicht in die Hocke gehen, um einen richtig guten Blick auf den herabhängenden Kopf zu haben. Dabei fiel eine winzige Made auf meine Wange. Und dann noch eine. Und noch eine. Ich machte einen Satz rückwärts, schüttelte wie ein nasser Hund den Kopf und fuhr mir dazu noch mit den Händen durchs Gesicht. »Wuff«, sagte ich. »Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum der Oberkörper und die Füße in so unterschiedlicher Geschwindigkeit zersetzt werden.«
»Ja?«
»Ja. Sobald die Eier der Schmeißfliegen ausschlüpfen, fallen die Maden runter. Es gibt keine gute waagerechte Oberfläche, wie etwa wenn eine Leiche auf dem Boden liegt.« Ich zeigte auf die Füße. »Sie fallen da hin, und die Füße sind leicht zu erreichen. Einige schaffen es, die Knöchel hochzukrabbeln, und ein paar schaffen es sogar halbwegs die Unterschenkel rauf. Doch je höher man schaut, desto weniger Maden sieht man.«
Miranda beugte sich vor, doch nicht so weit, dass sie unter den aus dem Kopf der Leiche rieselnden Regen von Maden geriet. »Sie haben recht«, sagte sie. »Man könnte die Verteilung als asymptotische Kurve zeichnen. Wenn X – die Entfernung zum Boden – steigt, fällt Y – die Anzahl der Maden – von fast unendlich auf fast null.«
Ich starrte sie an. »Asymptotische Kurve? Was sprechen Sie da für eine Sprache?« Sie starrte, verwirrt über meine Verwirrung, zurück, dann brachen wir gleichzeitig in Lachen aus.
»Okay, ich geb’s zu: Ich bin inzwischen ein ziemlicher Zahlenfreak«, sagte sie. »Aber es ist eine hübsche Kurve, und eine klassische Asymptote noch dazu.« Sie hob einen Zeigefinger hoch über den Kopf, zog eine fast vertikale Linie nach unten und schwang sie dann sehr sanft und sehr elegant in Richtung Horizont.
»Sehr hübsch, in der Tat«, stimmte ich ihr zu. »Sie könnten wahrscheinlich einen Aufsatz darüber im Journal of Forensic Sciences veröffentlichen. Besonders wenn Sie ein Video von sich selbst hinzufügen, wie Sie die asymptotische Kurve in die Luft zeichnen.«
Sie schnitt eine Grimasse. »Essen Sie Maden und sterben Sie«, sagte sie.
Ich starb nicht, doch plötzlich juckte mir überall der Kopf.