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Um halb acht war ich mit Art im Polizeipräsidium in Knoxville verabredet, direkt vor seiner Schicht im Broadway Jewelry & Loan, wo er in die Kloaken des Cyberspace hinabstieg, nach den Scheißkerlen fischte, die Kinder verführten, und die Untiere jagte, die mit Kindern hausieren gingen. Art wartete in dem gläsernen Empfangsbereich des Gebäudes. Er nahm das Plastikfläschchen mit der Haut und der Lösung, die diese rehydratisiert hatte, entgegen und inspizierte es, dann nickte er anerkennend oder optimistisch. Wir nahmen den Aufzug rauf in sein Labor, und er stellte das Fläschchen auf eine Arbeitsfläche und zog ein Paar eng anliegende Latexhandschuhe an.

Er schraubte den Deckel ab, holte mit einer Pinzette die Haut heraus, rollte sie langsam auf einem mit Papierhandtüchern ausgelegten Tablett aus und untersuchte dabei jeden einzelnen Fingerabdruck, während er ihn vorsichtig trocken tupfte. Schließlich sagte er: »Sämtliche Finger sind an einigen Stellen gerissen, also bekommen wir keine vollkommen intakten Abdrücke. In der Mitte sind die Fingerspitzen jedoch unversehrt, sodass ich mir ziemlich sicher bin, dass wir genügend Einzelheiten kriegen, um einen Abgleich durchzuführen, falls die Abdrücke des Kerls in Aphids sind.«

»Meinst du Aphidoidea«, fragte ich, »wie die Rosen fressenden Gartenschädlinge?«

»Nein, Dilbert«, sagte er. »A-fiss, A-F-I-S, wie Automatisiertes Fingerabdruckidentifizierungssystem.« Er runzelte die Stirn, dann verbesserte er sich. »Ich meine I-AFIS. Sie haben vor einer Weile ein I vorne dran gestellt – für ›Integrated‹ –, aber ich sage immer noch AFIS. Macht der Gewohnheit.«

»A-fiss spricht sich auch leichter als IA-fiss«, sagte ich. »Besonders für einen alten Hund wie dich.«

Ich erinnerte mich daran, dass AFIS eine Datenbank war, die das FBI vor sechs oder acht Jahren eingerichtet hatte. Früher hatte Art immer darüber gezetert, dass das Fingerabdrucklabor des FBI oft Wochen, manchmal sogar Monate brauchte, um Abdrücke zu analysieren. Diese Verzögerungen bedeuteten oft, dass zu dem Zeitpunkt, wenn ein Treffer gefunden wurde, ein Verdächtiger, der verhaftet oder zur Vernehmung in Haft behalten worden war, nicht mehr in Haft – und damit zumeist unauffindbar – war. Heutzutage, erklärte er mir, war es bei Kriminalfällen möglich, innerhalb von zwei Stunden einen Treffer – einen Namen – zu erhalten, und bei zivilen Anfragen, wie etwa bei Hintergrundrecherchen von Angestellten, innerhalb von vierundzwanzig Stunden.

»Wie groß ist die Datenbank inzwischen?«, fragte ich.

»Verdammt groß. Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, hatten sie Fingerabdrücke von fast fünfzig Millionen Menschen in den Akten.«

»Das sind aber verdammt viele. Ich wusste gar nicht, dass so viele unserer Freunde und Nachbarn Kriminelle sind.«

»Sind sie auch nicht. Vergiss nicht, ein Großteil davon sind Leute, die ihre Fingerabdrücke aus beruflichen Gründen hinterlassen müssen, zum Beispiel Lehrer und Mitarbeiter der Jugendfürsorge – Hintergrundrecherche, um sicherzugehen, dass sie keine Sexualstraftäter sind. Und dann noch Militärangehörige, Feuerwehrleute, Waffenkäufer, alle möglichen Menschen. Meine sind auch drin; deine doch wahrscheinlich auch, oder?« Er hatte recht. Als der Direktor der Kriminalpolizei von Tennessee mich gebeten hatte, als Berater zu fungieren, hatte ich einen langen Fragebogen ausgefüllt und meine Fingerabdrücke hinterlassen; wahrscheinlich, um sicherzugehen, dass sie nicht einen Fuchs anheuerten, um bei der Bewachung des Hühnerstalls zu helfen. Und wenn dann außerdem an einem Tatort meine Fingerabdrücke oder die eines Polizisten auftauchten, wusste man, dass die deshalb dort waren, weil derjenige am Tatort gearbeitet und nicht weil er das Verbrechen begangen hatte. Zumindest theoretisch.

Während ich fasziniert zuschaute, zog Art vorsichtig die Haut des toten Mannes über seine eigene rechte Hand und ging dann zu einem Laptop, der am Ende des Arbeitstresens stand. Daneben befand sich ein dünnes, rechteckiges Gerät, ein wenig kleiner als die Tastatur des Laptops, mit einem blauen Polster obendrauf. Mit dem linken Daumen und Zeigefinger zog Art die Haut stramm über seinen rechten Daumen, legte eine Kante des Daumens auf das blaue Polster und rollte diesen in einer Halbdrehung von einer Kante des Fingernagels zur anderen. Nach wenigen Sekunden tauchte auf dem Bildschirm des Laptops ein fünfzehn Zentimeter hoher Wirbel aus engen Linien auf.

»Hey, wo sind die Farbwalze, die Farbe, die Glasplatte?«, fragte ich.

»Bill, Bill«, sagte er. »Tinte auf Platte ist doch wirklich aus dem letzten Jahrhundert. Das hier ist optisches Scannen. Kein Theater, kein Durcheinander. Die Abdrücke werden sofort digitalisiert, und wir können sie gleich in AFIS laden. Wir können auch Ausdrucke auf Standard-Fingerabdruck-Karten machen, sodass Jess und die Polizei in Chattanooga sie in ihre Kartei einordnen können, aber das hier ist sehr viel schneller und einfacher als die alte Methode. Himmel noch mal, die neuen Kriminalisten, die wir heutzutage einstellen, die frisch von der Uni kommen? Einige von denen haben noch nie einen Satz Fingerabdrücke mit Farbe abgenommen. Oder wenn, dann nur als historische Lektion, als Demonstration, wie es früher gemacht wurde. Wie wenn man Kinder eine Kuh mit der Hand melken oder Butter rühren lässt, um ihnen zu zeigen, wie es zur Zeit der Pioniere war.«

»Du klingst verärgert«, sagte ich, »aber du bist doch übergewechselt.«

»Gegen die Ergebnisse ist schwerlich etwas einzuwenden«, sagte er. »Hey, tu mir einen Gefallen, ja, ich brauche beide Hände. Drück da auf der Tastatur auf ENTER, um den Abdruck zu speichern, dann kann ich den nächsten abnehmen.«

Ich speicherte den Daumenabdruck und die anderen vier Fingerabdrücke auf dem Computer. Sobald er mit dem Einscannen der Fingerabdrücke fertig war, legte Art die Haut wieder in das Fläschchen, drehte den Deckel ordentlich zu und gab es mir zurück. Dann zog er sich die Handschuhe aus und warf sie in einen Behälter mit der Aufschrift »biogefährliche Substanzen«. Er ging zurück zum Laptop, haute ein paar Minuten in die Tasten und drückte dann mit Schwung die ENTER-Taste. »Okay, sie sind weggeschickt«, sagte er. »In zwei Stunden wissen wir mehr.«

»Wieso geht das so schnell? Du sagtest, in der Datenbank seien die Abdrücke von fast fünfzig Millionen Menschen, richtig? Das sind fast fünfhundert Millionen Fingerabdrücke zu vergleichen.«

»Die Software ist wohl ziemlich leistungsfähig, und ihr Großrechner hat sehr viel mehr PS als unsere kleinen PCs«, sagte er. »Ich meine, es ist leicht, sie einzugrenzen.« Er drückte ein paar Tasten, und der Daumenabdruck tauchte wieder auf dem Bildschirm auf. »Fingerabdrücke haben drei Grundmuster«, erklärte er mir, »Windungen, Schleifen und Bögen. Windungen sind konzentrische Kreise – wie bei einer Zielscheibe mit einem schwarzen Punkt in der Mitte oder einer Zwiebel im Querschnitt. Ein Schleifenmuster ist komplizierter; der Wulst kommt von einer Seite, macht eine Kehrtwende und führt zur selben Seite zurück. Beim Bogenmuster kommen die Papillarlinien von einer Seite, gehen in der Mitte hoch und führen auf der anderen Seite wieder raus.«

Ich betrachtete das Muster auf dem Bildschirm. »Dann hat unser Typ hier ein Windungsmuster«, sagte ich. »Zumindest am Daumen.«

»Bingo«, sagte Art. »Wenn die AFIS-Software nach einem Treffer für diesen speziellen Abdruck sucht, sucht sie nur nach rechten Daumenabdrücken mit Windungen. Das bedeutet, sie muss diesen Abdruck nur mit, ich weiß nicht, vielleicht zwanzig Millionen anderen vergleichen. Das sind immer noch ziemlich viele, aber es gibt andere Kriterien und Merkmale, mit denen sich die Menge schrittweise immer weiter eingrenzen lässt.« Er zeigte auf zwei Bereiche des Fingerabdrucks, wo die kreisförmigen Muster der Papillarlinien einer dreifachen Gabelung Platz machten, als wäre die Windung in ein Bogenmuster gezwängt worden. »Siehst du das? Das nennt man Delta. Ziemlich leicht zu sagen, ob so ein Delta eines Abdrucks dieselbe Form hat wie die Deltas anderer Abdrücke. Ich bin kein Softwarespezialist, aber ich stelle mir vor, dass es ziemlich einfach ist, einen Computer so zu programmieren, dass er Merkmale wie Deltas und ihre Lage auf einem X/Y-Koordinatensystem erkennt.«

Art versprach, mir später Bescheid zu sagen, ob AFIS etwas mit den Abdrücken hatte anfangen können. »Von den Computern im Pfandhaus habe ich keinen Zugang zu AFIS«, sagte er, »aber ich kann in der Mittagszeit herkommen, um zu schauen, ob wir Glück hatten.«

Er fuhr mit mir im Aufzug nach unten, und wir traten hinaus in die frische Morgensonne. Ich musste zur Uni, um die klügsten Köpfe von Tennessee zu unterrichten. Er musste zu Broadway Jewelry & Loan, um die schlimmsten finsteren Gestalten von Tennessee zu jagen. »Danke, Art«, sagte ich. Er nickte und eilte zu seinem Wagen. »Hey«, rief ich ihm hinterher. »Schnapp sie dir, Tiffany.« Ohne sich noch einmal umzuschauen, hob er eine Hand, um zum Abschied zu winken. Mit ausgestrecktem Mittelfinger. Die Geste galt, wie ich wusste, nicht mir, sondern den Männern, hinter denen er her war. Den Raubtieren da draußen, die im Cyberspace auf ihre wehrlose Beute lauerten.