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Als Brent auf den Parkplatz fuhr, war seine Laune noch schlechter als bei seiner Abfahrt vor zwei Stunden. Er bearbeitete sechs Fälle und hatte Berichte über seine Fortschritte anzufertigen, doch dann hatte ihm eine Polizeistelle aus dem Norden des Landes dazwischengefunkt und ihn um die Vernehmung eines Zeugen ersucht, der die zweite Besetzung für die Rolle des unsichtbaren Mannes zu sein schien. Zwei Stunden also für die Katz.
Im Aufzug traf er eine Stenotypistin, die ihm auf dem Weg nach oben schlüpfrigen Tratsch erzählte und dabei dafür sorgte, daß sich ihr Kleid über ihrem Busen spannte. Ehe er Susan begegnet war, hatte er mit ihr fast etwas angefangen; nun aber überraschte es ihn ein wenig, daß er sie überhaupt einmal attraktiv gefunden hatte. Wer Champagner genießen lernte, dem schmeckt das Bier nicht mehr.
Im Wachraum saß ein anderer Beamter und tippte ungewöhnlich flott auf seiner Maschine. »Ich habe eine Nachricht für Sie entgegengenommen, Jim. Sie liegt auf Ihrem Schreibtisch.«
»Danke.« Er ging an seinen Platz.
»Sagen Sie, für wann haben Sie Ihren Urlaub angemeldet?«
»Ich nehme mir die ersten beiden Augustwochen.«
»Könnten wir tauschen? Gegen die beiden letzten Woschen im August?«
»Tut mir leid, aber ich habe schon gebucht.«
»Schade. Wohin geht’s denn?«
»Nach Vanua Levu.«
»Und wo ist das?«
»Im Pazifik.« Er setzte sich und griff nach dem Bogen, der auf einer Akte lag.
»Haben Sie im Glücksspiel gewonnen?«
»Nein, eine zweite Hypothek aufgenommen.« Als ein gemeinsamer Sommerurlaub zur Sprache gebracht wurde, hatte er ein Hotel in Tossa de Mar vorgeschlagen, weil es ihm von einem Freund als erstklassig empfohlen worden war. Susan hatte das für einen Witz gehalten und gesagt, ihre Friseuse führe an die Costa Brava, so wie alle anderen Friseusen auch …
Brent sah sich die Nachricht an. Ein Beamter der Abteilung A hatte das Computerbild ostentativ identifiziert: Bei der Frau konnte es sich um eine Maureen Lewis handeln. Er rief das Archiv an und bat um ihr Bild.
Einundzwanzig Minuten später ging das Foto bei ihm ein. Kristallklar war die Sache nicht, aber Brent war sicher, daß es sich um die Frau handelte, die er im Saracen’s Head gesehen hatte. Er rief noch einmal das Archiv an und ließ sich ihr Strafregister durchgeben. Bagatelldelikte im Zusammenhang mit Prostitution, schwere Körperverletzung, Drogenhandel. Letzter bekannter Wohnsitz Monbridge. Er bat die Polizei von Monbridge, die Frau sofort ausfindig zu machen, Prioritätsstufe eins. Der Mann am Apparat versetzte sarkastisch, es hätten anscheinend alle Anfragen der Abteilung C die höchste Dringlichkeitsstufe.
O’Connor kehrte am späten Freitagnachmittag müde, verschwitzt und noch immer verärgert zur Wache zurück. Gut, er hatte im Fall Preston falsch entschieden. Zur Wahl hatten zwei Möglichkeiten gestanden, und nichts hatte darauf hingewiesen, welche korrekt war. Auch der Detective Inspector hätte leicht eine Fehlentscheidung treffen können. Fawcus war aber nicht gezwungen gewesen, auf der Stelle zu entscheiden, und konnte ihm nun im nachhinein genüßlich alle Fehler unter die Nase reiben …
Brent kam herein. »Ich habe Sie gesucht, Sergeant.«
»Nun, jetzt haben Sie mich gefunden«, gab O’Connor säuerlich zurück.
Brent spürte, daß Diskretion angebracht war. »Wie Sie wissen, habe ich die Frau aus dem Pub identifiziert. Monbridge rief gerade zurück; Maureen Lewis ist verzogen. Nach Süden vielleicht, erklärte eine Kontaktperson und nannte eine mögliche Anschrift, aber dort war sie nicht aufzufinden.«
»Und?«
»Das ist der gegenwärtige Stand der Dinge.«
»Treiben Sie sie auf.«
»Ich habe eine Fahndungsmeldung an alle Abteilungen und die Behörden der umliegenden Grafschaften hinausgehen lassen. Zwei Kontaktpersonen habe ich für Hinweise auf ihren Verbleib mehr geboten, als ihnen in ihren armseligen Träumen einfiele. Einen Anwärter habe ich losgeschickt und angewiesen, sich bei möglichst vielen Prostituierten umzuhören. Mehr kann ich im Augenblick nicht tun.«
Dem mußte O’Connor widerstrebend zustimmen. »Aber halten Sie die Dinge in Bewegung.«
»Wird gemacht.«
Brent ging. O’Connor schaute auf die Papiere auf seinem Tisch und dann zur Wanduhr. Nun würde er wieder zu spät nach Hause kommen. Pam war sehr verständnisvoll, aber Liz hatte nächste Woche Geburtstag, und wenn er diese Feier verpaßte, hatte Pams Geduld wohl ein Ende.
Ein Mann, der sich fit hielt und allmorgendlich bei jedem Wetter über die nördliche Gemeindewiese joggte, kam an einer kleinen Baumgruppe vorbei und blieb stehen, als er ein lautes Summen hörte. Er schaute auf die Uhr: fünf Minuten Zeit. Er trat vom Weg und ging durchs Gras auf die Bäume zu, zwischen denen Brombeeren wuchsen. Hinter einem dieser Büsche summte es. Instinktiv vorsichtig schaute er nach und sah einen riesigen Schwarm Schmeißfliegen auf einem Bündel Lumpen. Verfaulten hier Lebensmittel? Dann stellte er entsetzt fest, daß das Bündel einmal ein Mensch gewesen war.
Der Tote wurde in einen Kunststoffsack gelegt und mit dem Wagen eines Bestattungsunternehmers in die Leichenhalle des Vorortes Croxley gebracht.
Das Gebäude stammte aus dem späten 19. Jahrhundert und sah von außen wie ein Wohnhaus aus – da Croxley einmal ein feiner Vorort gewesen war, hatte man es für nötig gehalten, die unangenehmen Realitäten zu kaschieren. Im Innern aber herrschte das späte 20. Jahrhundert: Operationslampen und -tische, Waschbecken aus Edelstahl, Sterilisatoren und Kühlschubladen, in denen die Verwesung zum Stillstand gebracht wurde.
Bevor die Leiche ins Kühlfach kam, nahm ein junger Pathologe eine kurze und nur äußerliche Untersuchung vor. Nachdem er seinen Befund in ein an der Seite des Tisches angebrachtes Mikrophon gesprochen hatte, wandte er sich an einen Constable. »Todesursache: Ersticken nach ausgedehnter Gewaltanwendung – will sagen, Folterung.«
»Folterung!« wiederholte der Constable verblüfft. Er hatte geglaubt, daß der Tote die zahlreichen sichtbaren Verletzungen bei einem Kampf erlitten hatte.
»Ja, und auf sehr primitive Weise. Zähne gezogen, Fingernägel herausgerissen, und so weiter auf dieser Linie. Sie brauchen natürlich Fingerabdrücke. Ich nehme sie gleich.«
Früher mußte die Arbeit des Abdrückenehmens von Polizeibeamten vorgenommen werden, doch inzwischen hatte man erkannt, daß Pathologen hier mehr Geschick hatten. Er ergriff jeden Finger am ersten Gelenk, rollte ihn erst über ein Farbkissen und dann über Glanzpapier.
Die Abdrücke brachte ein Streifenwagen zur Zentrale der Grafschaft. Hier wurde seit einem Jahr der Abgleich mit Computer erprobt; ein System, das das Personal in zwei Lager spaltete. Die einen glaubten, daß es rascher, einfacher und effizienter war, die anderen hielten es für praktisch nutzlos. In vorliegendem Fall funktionierte es tadellos. Binnen drei Minuten war Frederic Wallace identifiziert worden.
O’Connor starrte auf den Bericht. Frederic Wallace, 63, letzte bekannte Anschrift: 24 Cheriton Road, Wickton. Ein langes Strafregister, doch eigentlich alles Bagatellen.
Eines war nach diesem Mord klar. Hawsley hatte eindeutig mit dem Rauschgiftring zu tun, denn seine Vernehmung mußte diese barbarische Tat ausgelöst haben – die Tatsache, daß die Polizei von seinem Treff mit Maureen Lewis wußte, deutete auf einen Informanten hin. Die sogenannten Köpfe der Organisation, denen Wallace bereits suspekt war, hatten ihn mit brutaler Gewalt geschnappt, ihn foltern lassen, bis er gestand, und ihn dann ermordet. Maureen Lewis hatte den Befehl bekommen, unterzutauchen, oder sie war ebenfalls getötet worden. Hawsley war unbehelligt geblieben, was bedeuten konnte, daß ihn die Organisation für zu wertvoll hielt – oder, daß sie in ihm kein großes Risiko sah. Nun, da Maureen verschwunden und Wallace tot war, gab es keine vor Gericht akzeptable Möglichkeit mehr, ihn mit der Drogenszene in Verbindung zu bringen.
Je mehr O’Connor über die Fakten nachdachte, desto deutlicher erkannte er, daß die Polizei die Initiative völlig verloren hatte. Jeder Tag, der verstrich, bedeutete weitere Opfer. Die Polizei aber war seit dem Tag, an dem Wallace zuerst den Mann mit der Narbe erwähnt hatte, dem Erfolg keinen Schritt nähergekommen. Normalerweise hätte O’Connor mit Entsetzen auf den Mord an Wallace reagiert. Nun aber empfand er nur ohnmächtige Wut.
Im Scherz meinte Pamela O’Connor manchmal, sie sei gut dran, weil sie genau wisse, daß Hugh sie wegen ihrer inneren Werte und nicht wegen ihres Aussehens liebte. Vor zwanzig Jahren hätte sie das nie aussprechen können, denn sie hatte sehr unter ihrem Äußeren gelitten. Erst ihre Ehe und ihre Kinder hatten ihr ein besseres Selbstwertgefühl gegeben.
Sie hatte ein überlanges Gesicht, dessen Proportionen nicht zu stimmen schienen. Unter dem linken Auge hatte sie einen unansehnlichen Leberfleck, ihre Nase war milde ausgedrückt römisch; am linken Ohr hatte sie ein Ekzem, das allen Hautcremes trotzte; ihr Haar war mausbraun und glatt. Schön waren nur ihre großen braunen Augen.
Sie war eine sehr glückliche Frau. Von einer Welt, in der Konsum Frustration erzeugte, erwartete sie nur, was sie bereits hatte – einen liebenden Mann, zwei gesunde Kinder, ein hübsches Heim, und gerade genug Geld. Solange sie dies ihr eigen nennen konnte, waren ihr die Probleme der Außenwelt gleichgültig. Internationales Säbelrasseln, Währungskrisen oder bittere Handelskriege nahm sie völlig gelassen zur Kenntnis. Doch wenn sie ihre Familie oder ihr Heim bedroht sah, galoppierten die apokalyptischen Reiter los. Verspätete sich Harry nur um zehn Minuten, war sie schon drauf und dran, das Krankenhaus anzurufen; schlug Liz sich das Knie auf, versuchte Pam verzweifelt, sich an das Datum der letzten Tetanus-Auffrischimpfung zu erinnern …
»Endlich kommst du mal zu einer vernünftigen Zeit heim, Schatz«, sagte sie, als sie ihn in der kleinen Diele ihres Reihenhauses mit einem Kuß auf die Wange begrüßte.
»Ich dachte, heute wäre die Gelegenheit, einmal früher zu Bett zu gehen.«
»Was du auch nötig hast! Schau dir nur die dunklen Schatten unter deinen Augen an. Komm, setz dich vor den Fernseher, ich mache jetzt das Essen. Ein Kotelett habe ich dir gekauft; das magst du doch, oder?«
»Mit Zwiebeln.«
Sie lächelte. »Wie könnte ich die vergessen? Beeile dich, gleich fängt ein Naturprogramm an. Das gefällt dir bestimmt.«
Er nickte, obwohl ihn die vielen Sendungen dieser Art inzwischen meist langweilten. »Alles klar bei den Kindern?«
»Liz ist bei den Wilsons; ich hole sie später ab. Harry sitzt oben an seinen Hausaufgaben.«
»Oder hofft, daß wir das glauben.«
»Aber Hugh, das hat er nicht verdient. Er hat sich inzwischen sehr angestrengt. Für die letzte Klassenarbeit bekam er schon eine viel bessere Note.«
»Na, wer ganz unten anfängt, kann nur besser werden.«
»Sei nicht so streng mit ihm.«
»In seinem Alter –«
»Hattest du bestimmt ein Comic-Heftchen im Mathebuch.«
Er lächelte. Vor nicht zu langer Zeit hatte er ihr gestanden, genau das getan zu haben, und zwar in der Geographiestunde; er war erwischt und bestraft worden.
»Geh jetzt ins Wohnzimmer, damit ich in Ruhe kochen kann. Und schenke dir zur Entspannung etwas ein.«
»Trinkst du ein Glas mit?«
»Ich? Gut, meinetwegen.«
Er goß ihr einen süßen Sherry ein und holte sich eine Dose Bier, setzte sich dann ins Wohnzimmer. Mit halbem Auge sah er ein Quizprogramm und gab sich seinen Gedanken hin.
Eine halbe Stunde später setzten sie sich an den Eßzimmertisch. O’Connor war auch in seiner Lebensführung altmodisch und befolgte die Regeln, die ihm die Eltern beigebracht hatten; nur gelegentlich war er dazu zu bewegen, das Abendessen auf der Couch vor dem Fernseher einzunehmen.
Sie servierte ihm einen Auflauf, trotz der Kindheitsassoziationen seine Lieblingsnachspeise, und schaute sich den kleinen Rest in der Schüssel an. »Das kannst du bestimmt noch aufessen.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Aber du ißt es doch gerne!«
»Stimmt, aber du hast erst letzte Woche gesagt, ich hätte zugenommen.«
»Wenn du mit Ringen unter den Augen heimkommst, mußt du etwas Ordentliches essen, ganz gleich, ob du dick wirst oder nicht. Komm, gib mir deinen Teller –« Sie hielt inne, denn das Telefon klingelte. »Ist das Liz? Will sie früher abgeholt werden?«
»Wer das herausfinden will, geht am besten dran. Laß mich –«
»Nein, du bleibst hier. Wenn es die Wache ist, sage ich, du seiest nicht zu Hause, und ich wüßte auch nicht, wann zu zurückkommst.« Sie eilte aus dem Zimmer.
Er begann zu essen. Der Auflauf war genau nach seinem Geschmack. Mehr Schlagsahne als Rührkuchen, kräftiger Likörgeschmack …
Als sie zurückkam, sah er ihr sofort an, daß sie schlechte Nachrichten hatte. »Liz?« fragte er und spürte, wie sich in seinem Innern etwas zusammenzog.
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich. Sie waren nun allein, da Harry sich nach dem Hauptgericht wieder in den ersten Stock zurückgezogen hatte.
»Was gibt’s, mein Herz?«
»Das war Norma. Paul ist erwischt worden.«
»Wobei?«
»Er versuchte, eine alte Frau zu berauben, und ist nun in Haft.«
»Das kann doch nicht wahr sein.«
»Er wurde auf frischer Tat ertappt.« Sie seufzte. »Anscheinend nimmt er Drogen und brauchte Geld. Daß er abhängig ist, erfuhr Norma erst, als sie zusammen mit Maurice auf die Wache bestellt wurde.«
»Mein Gott!« meinte O’Connor erstickt. Das friedliche Gefühl, das ihn bei der Heimkehr überkommen hatte, war verflogen, und er sah sich wieder mit den bitteren Problemen konfrontiert, die ihm schon so lange Kummer gemacht hatten. Die Familie Prideaux war der seinen in ihrer Lebensauffassung so ähnlich, daß die Festnahme des Sohnes wegen einer im Zusammenhang mit Drogen begangenen Straftat seine Vermutung, jede Familie sei in Gefahr, nur weiter bestätigte. Die Bedrohung war nähergerückt. Er hätte jeden Eid geschworen, daß Harry mit Drogen noch nicht einmal experimentiert hatte, und das auch in Zukunft nicht tun würde. Nun quälten ihn Schuldgefühle, denn er wußte, daß ein brutaler Rauschgiftring immer aktiver wurde, aber daß er nichts gegen ihn unternehmen konnte, weil er nach dem Gesetz erst handeln durfte, wenn er über die erforderlichen Beweise verfügte.