11
Als Brent Grangeway betrat, klingelte gerade das Telefon. Er eilte durch die Halle und nahm den Hörer ab.
»Wo stecken Sie?« fragte O’Connor bang. »Ich versuche seit Stunden, Sie zu erreichen.«
»Ich war beim Chef, und der ließ mich schmoren.«
»Was sagte er denn?«
»Er verdammte meine politischen Überzeugungen, stieß sich an meinen Manieren, hieß mich einen Lügner und suspendierte mich vom Dienst. Ansonsten war er recht freundlich.«
»Sie nahmen also nichts zurück?«
»Halten Sie mich für jemanden, der nur in guten Zeiten zu einem Freund hält?«
»Tut mir leid, Jim … Aber ich drehe hier bald durch, warte und warte und weiß doch genau, daß ich erledigt bin, wenn Sie Ihre Aussage widerrufen – dann verliere ich alles, das Haus, meine Stelle, die Pension …«
Brent reagierte wider Willen mit Verachtung auf O’Connors Selbstmitleid. »Habe ich nicht versprochen, zu Ihnen zu stehen?«
»Ja, ich weiß, aber … Hat der Chef Ihnen geglaubt?«
»Wie ich schon sagte, hieß er mich einen Lügner.«
»Und was soll jetzt werden?«
»Ein hohes Tier von einer anderen Abteilung kommt und führt die Ermittlung.«
»Und was können wir tun?«
»Wir bleiben bis zum letzten Komma bei unserer Version; dann steht unsere Aussage gegen die der Hawsleys. Der ermittelnde Beamte kann dann glauben, was er will, aber wenn es ihm nicht gelingt, uns etwas nachzuweisen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als uns freizusprechen, und dann werden wir wieder eingestellt. Solange niemand gefälschte Beweise gegen uns beibringt, kann uns nichts passieren.«
»Wer sollte so etwas tun?«
»Langsam, langsam, das ist doch nur eine Vermutung. Sollte ein Witz sein.«
Nun entstand eine Pause. »Wie können Sie über so etwas Witze machen?« fragte O’Connor dann ärgerlich.
»Damit lenke ich mich nur von der Frage ab, wie einfach es wohl ist, jemandem die Gurgel durchzuschneiden.«
»Dann bezweifeln Sie also doch, daß wir ungeschoren davonkommen?«
»Für mich steht nur eines fest: Der Chef hat recht, ich rede wirklich zuviel. Passen Sie auf, wenn wir zusammenhalten, nicht in Panik geraten und bei den Vernehmungen nicht auf Tricks hereinfallen, werden wir persilweiß aus der ganzen Sache herauskommen.«
»Ja, hoffentlich …«, meinte O’Connor. »Ich habe Pam noch nichts davon gesagt, sondern ihr vorgemacht, ich hätte ein paar freie Tage herausgeschunden und sei deshalb zu Hause. Aber irgendwann muß ich ihr reinen Wein einschenken, und dann wird sie sich entsetzliche Sorgen machen und …«
Brent schaltete ab. Die Furcht vor den möglichen Konsequenzen seiner von seinem Gewissen motivierten Tat hatte aus dem standhaften Sergeant ein wimmerndes Häufchen Unglück gemacht.
Ironischerweise war es das Schweigen, das Brents Aufmerksamkeit wieder zu dem Gespräch zurücklenkte. Er sagte in die Stille: »Und noch etwas: Nach dem Vorfall in der Abteilung D vor drei Monaten möchte sich die Polizei nicht wieder mit einem Skandal auseinandersetzen müssen. Wenn der ermittelnde Beamte die Einstellung des Verfahrens für gerechtfertigt hält, wird er die Gelegenheit auch ergreifen.«
Brent verabschiedete sich und legte auf. Was er gesagt hatte, basierte teils auf Fakten und teils auf Wunschdenken. Es war durchaus möglich, daß der ermittelnde Beamte ein Mann wie Detective Inspector Fawcus war, der die Wahrheit ohne Rücksicht auf die Konsequenzen verfolgte … Brent ging in die Speisekammer und mixte sich einen Gin und Tonic. Als er die Tonicflasche zuschraubte, hörte er einen Schlüssel in der Haustür. »Jim, wo bist du?« rief Susan.
Er ging zurück in die Halle. Sie war in einer ihrer eleganten Phasen, war am Vortag bei der Kosmetikerin und heute vormittag beim Friseur gewesen und trug nun einen neuen Mantel, der mehr gekostet haben mußte, als er im ganzen Jahr verdiente. »Du siehst zum Fressen aus.«
»Nur Naschen erlaubt; Kannibalismus ist viel zu permanent in seinen Auswirkungen. Und was tust du um diese Tageszeit hier? Säufst du dir einen an?«
»Klar, was sonst?«
»Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, daß es unfein ist, sich allein zu betrinken?«
»Sie wußte noch nicht einmal, daß so etwas überhaupt möglich ist. Und wie kann ich dich auf den Weg zur ewigen Verdammnis bringen?«
»Wenn das Gin und Tonic ist, was du da gerade in der Hand hast, will ich auch einen. Besser noch, gib mir dein Glas und hol dir ein frisches.«
Er füllte ein zweites Glas und brachte es ins Wohnzimmer. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch und zeigte viel Bein. »Du Lustmolch«, meinte sie, als sie seine Miene sah.
»Ist das ein Wunder?«
»Ich hoffe doch nicht. Was glaubst du, warum ich Stunden beim Friseur gehockt habe?«
»Meinetwegen hast du das bestimmt nicht getan.«
»Frecher Kerl! Sag mal, warum bist du eigentlich hier und nicht bei deiner langweiligen Arbeit?«
»Ich bin suspendiert worden.«
»Von was?«
»Vom Dienst natürlich.«
»Hat man dich etwa rausgeschmissen?«
»Jemand hat sich über mich beschwert, und solange das Ermittlungsverfahren läuft, darf ich keinen Dienst tun.«
»Diese Schweine!«
Ihre Vehemenz überraschte ihn.
»Und du sitzt da und läßt dir das einfach bieten? Rufe Thompson an und sage ihm, er soll denen die Hölle heiß machen.«
»Wer ist Thompson?«
»Chris’ Anwalt in London. Chris sagt, er sei so gewieft, daß er sein Stundenhonorar von hundert oder zweihundert Pfund tatsächlich wert ist.«
»Ein Vermögen!«
»Na und? Chris läßt einfach eine seiner Firmen das Honorar übernehmen.«
»Verzeih meine Naivität.«
»Also rufe jetzt gleich Thompson an. Seine Nummer ist in meinem Buch auf dem Telefontisch.«
Brent blieb sitzen. »Ich glaube, das lasse ich lieber.«
»Warum?«
»Im Augenblick sollten wir die Dinge ihren Gang nehmen lassen.«
Sie zuckte die Achseln.
Er trank langsam. Schuldgefühle, auf deren Grund Susan mit Verachtung reagiert haben würde, begannen zu nagen. O’Connor war wegen der Suspendierung wie am Boden zerstört, doch ihm selbst machte sie eigentlich wenig aus, denn er sah sich in einer relativ privilegierten Lage. Wenn O’Connor und er entlassen wurden – ihre Strafe, wenn im Disziplinarverfahren gegen sie entschieden wurde, auch wenn die Beweise für ein ordentliches Gerichtsverfahren nicht ausreichten –, stand O’Connor ohne Einkommen, ohne Pension und mit nur geringen Aussichten auf eine neue Stelle da. Er aber, Brent, brauchte sich keine Sorgen machen, denn er konnte bei Susan wohnen, bis ihr Vater ihm einen besser bezahlten Job besorgt hatte …
Sie steckte sich eine neue Zigarette an. Er sah die lange Spitze und konnte sich Susan als vergnügungssüchtige junge Frau in den zwanziger Jahren vorstellen, die nur einer Wette wegen nackt durch London fuhr und die Straßenmusikanten, die nicht besonders gut spielten, weil sie ihr Instrument in den Schützengräben gelernt hatten, überhaupt nicht wahrnahm.
»Warum guckst du eigentlich wie der liebe Gott, wenn er sich den Zeh angestoßen hat?« fragte sie.
»Mir ging gerade auf, daß du wie ein Vamp aus den Zwanzigern aussiehst.«
»Fiesling! Hast du denn überhaupt keinen Sinn für Stil? Besorge mir noch einen Drink.« Sie hielt ihm ihr Glas hin. »Und warum bist du suspendiert worden?«
»Hugh und ich werden der versuchten Rechtsbeugung beschuldigt«, erwiderte er und griff nach ihrem Glas.
»Hugh? Der ist viel zu steifleinen, um an so etwas auch nur zu denken.«
»Er hat seine verborgenen Seiten.«
»Zu obskur für unsereinen. Und was soll jetzt passieren?«
»Es gibt ein internes Ermittlungsverfahren, und wenn das Beweise zutage fördert, werden wir angeklagt.«
»Wie ganz gewöhnliche Kriminelle?«
»Zu denen wir im Fall unserer Verurteilung auch werden.«
»Das können sie mit euch doch nicht machen!«
»Nur keine Panik bei der Frage, was die modebewußte Frau trägt, wenn sie ihren Freund im Gefängnis besucht. Wenn Hugh die Nerven nicht verliert, kommen wir ungeschoren davon.«
»Das Ganze ist seine Schuld, nicht wahr?«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil ich ganz sicher bin, daß er Mist gebaut hat und daß du ihm unnötigerweise beistehst.«
Sie überraschte ihn nicht zum ersten Mal mit der Schärfe ihrer Intuition. »Er ist mein Freund.«
»Und diese Tatsache ist das Risiko einer Gefängnisstrafe wert?«
»Selbstverständlich. Gibt es denn eine Alternative?«
»Als ausgereifte Persönlichkeit sehe ich das anders.«
»Wie auch immer, das Ganze wird im Sand verlaufen. Mach dir also nicht ins Hemd.«
»Meinst du, ich hätte mir ins Hemd gemacht?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Kannst ja mal nachsehen.«