10
Susan leerte den Rest der Flasche Nuits St. Georges in ihre beiden Gläser. »Mach bloß niemandem vor, daß du so etwas wie eine anregende Gesellschaft bist. Du starrst jetzt seit zehn Minuten ins Leere.«
»Ich dachte an Hugh«, erwiderte Brent. »Er hat ein Problem.«
»Na und? Hat der denn etwas anderes als Probleme?«
»Sein Problem ist, daß er sich zu sehr ums Gemeinwohl sorgt.«
»Wie öde.«
»Du solltest dankbar sein, daß es solche Menschen gibt.«
Sie lächelte schwach. »Leidest du öfter unter dem Weltverbesserer-Syndrom?«
»Das will ich doch hoffen … Du magst Hugh nicht besonders, stimmt’s?«
Sie steckte eine Zigarette in eine lange Spitze aus Jade – eine neue Angewohnheit – und zündete sie an. »Er ist bestimmt ein ehrenwerter Mann.«
»Und damit in deinen Augen ein Spießer.«
»Du bist heute ziemlich aggressiv. Vielleicht hast du zuviel Steak gegessen … Ehrenwerte Männer sind langweilig. Als wir bei Hugh zum Essen eingeladen waren, redete er den ganzen Abend nur von den ungerechten Vergabepraktiken des Wohnungsamts. Nicht gerade das Thema für eine geistsprühende Konversation.«
»Aber sehr interessant für jene, die kein Dach überm Kopf finden können.«
»Weißt du, was bei dir nicht stimmt? Im Grunde deines Herzens bist du ein Puritaner. Dein Gewissen redet dir ein, daß es nicht recht ist, sich zu amüsieren, und du suchst dann verzweifelt nach einem Vorwand, dir selbst den Spaß zu verderben. Suchst du möglicherweise nach einem Anlaß, mich abzuschieben?«
»Diesen Unsinn redest du nur, um mich zu ärgern.«
»Das tue ich nur, weil es dich aus der Reserve lockt, und das finde ich sexy. Es stimmt aber wirklich, daß du dich unbehaglich zu fühlen beginnst, wenn du das Leben zu sehr genießt … Soll ich dir ein kleines Geheimnis verraten? Wenn ich jemals das Gefühl habe, daß du mich loswerden willst, serviere ich dich vorher ab.«
»Um dein Selbstwertgefühl zu wahren.«
»Na also! Langsam versteht er mich. Komm, machen wir noch eine Flasche auf und trinken auf unsere hellen Köpfchen.«
Brent kam zehn Minuten zu spät zum Dienst, was nicht ungewöhnlich war. Er parkte sein Auto, stieg aus, schloß es ab und ging aufs Gebäude zu.
»Jim!«
Brent drehte sich um und suchte nach seinem Sergeant. »Hier drüben.«
Er sah O’Connor am Steuer seines Wagens sitzen und ging zu ihm.
»Steigen Sie ein.«
Brent öffnete die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Wissen Sie, was passiert ist?«
»Nein. Ich bin ja gerade erst gekommen.«
»Die Anwaltssozietät Becker und Lampson hat gleich heute früh formell Beschwerde eingelegt.« Das sind die führenden Anwälte in Seetonhurst, die sich sonst meist auf Zivilsachen beschränken. Aber ein Partner war ein ehemaliger Strafverteidiger und für seinen aggressiven Stil bekannt.
»Damit war zu rechnen.«
»Gewiß, aber Sie haben bestimmt nicht erwartet, daß Mrs. Hawsley behauptet, die ganze Zeit über im Haus gewesen zu sein und gesehen zu haben, wie ich versuchte, ihrem Mann den Beutel zuzustecken.«
»Aber …« Brent lachte.
»Was ist daran so komisch?« fragt O’Connor erbost.
»Ist doch sonnenklar. Sie lügen, und nun will die Frau Gleiches mit Gleichem vergelten.«
»Und das finden Sie zum Lachen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich wollte nur sagen –«
»Wenn beide auf ihrer Aussage beharren, habe ich keine Chance. Ich bin erledigt.«
Das konnte Brent nicht bestreiten. »Hat der Chef schon etwas gesagt?«
»Nein, ich war noch nicht in meinem Zimmer. Als ich ins Haus kam, traf ich Sid, und der sagte es mir. Jim, was soll ich nur machen? Gegen die beiden komme ich nicht an. Ich werde dann für schuldig befunden und rausgeworfen.«
Von der unvermeidlichen Freiheitsstrafe ganz zu schweigen, dachte Brent.
»Ich verliere dann meine Pension. Wie soll ich meine Familie ernähren? Und was soll sie von mir denken? Und wie wird es meinen Kindern erst ergehen? Ich kann den Sprechchor schon hören: ›Dein Vater sitzt im Knast, dein Vater sitzt im Knast.‹ Und die Nachbarn werden Pam schneiden. Die Hypothek ist längst noch nicht abgetragen, und wenn ich sie nicht mehr aufbringen kann, versteigert die Bank mein Haus. Wo sollen Pam und die Kinder dann wohnen? Die Wohnung ihrer Mutter ist zu eng, und mein Vater ist im Altersheim. Mein Gott, Jim, was soll ich nur anfangen?«
Diese Frage war Brent schon oft gestellt worden. Viele Menschen reagierten total verwirrt, wenn sie erfuhren, daß sie die Konsequenzen ihrer Verbrechen zu tragen hatten. Nun aber kam diese Frage zum ersten Mal von einem Mann, der eine Straftat nicht zu seinem Vorteil begangen hatte. Brent hatte die O’Connors oft um ihr harmonisches Familienleben beneidet. Susan verspottete sie, weil sie so kleinbürgerlich waren; aber er sah darin ihre Stärke.
»Ich … ich weiß nicht, was ich machen soll.« O’Connor klang erstickt.
Brent war eine Spielernatur, doch kein eiskalter Mensch, der seine Chancen abschätzt und nur etwas riskiert, wenn sie günstig sind, eher ein Vabanquespieler, der spontan und aus dem Gefühl heraus alles auf eine Karte setzt. »Es wird also rundum gelogen. Warum mache ich dann nicht einfach mit?«
»Wie meinen Sie das?«
»Am Anfang stand es Aussage gegen Aussage, also eins zu eins. Dank Mrs. Hawsley steht es nun zwei zu eins. Lassen Sie mich den Ausgleich zum 2:2 schaffen.«
Detective Inspector Fawcus setzte die Lesebrille ab und legte sie auf den Schreibtisch. »Sie bestätigen, was in diesem Protokoll steht?« Er tippte auf einen Bogen.
»Jawohl, Sir«, erwiderte Brent.
»Ist Ihnen klar, daß Sie damit Mrs. Hawsley der Lüge bezichtigen?«
»Ja.«
Fawcus kratzte sich am Hals. »Setzen Sie sich.« Er drehte sich um und starrte aus dem Fenster. Im Profil wirkte sein Gesicht streng; ein Hinweis, daß er menschliche Schwächen nur selten als Entschuldigung oder gültige Erklärung akzeptierte. »Die gesellschaftliche Stellung der Hawsleys ist Ihnen bekannt?«
»Ja.«
»Solche Leute pflegen nicht zu lügen oder falsche Anschuldigungen zu erheben.«
»Nur, weil sie selten dazu gezwungen sind.«
»Beneiden Sie sie etwa?«
»Mag sein. Aber nur um ihre materielle Sicherheit. Als Menschen sind sie mir schnuppe.«
»Sie mißgönnen ihnen also ihren Reichtum.«
»Verzeihen Sie, aber ich verstehe den Sinn der Frage nicht.«
»Was ich sagen will: Ich halte Sie für einen Narren und versuche nur, hinter Ihr Motiv zu kommen. Haben Sie falsche Vorstellungen von Solidarität zwischen Freunden oder nur irrationale, von Neid geprägte Ressentiments gegen die Hawsleys?«
»Wohl kaum.«
»Kein Polizeibeamter ist gezwungen, seine politischen Überzeugungen abzulegen, aber jeder Beamte hat sie zu Hause zu lassen. Es ist unsere Pflicht, unvoreingenommen zu ermitteln, ob es sich nun um einen nach Fusel stinkenden Obdachlosen handelt oder um einen vom Aroma einer Havanna umgebenen Millionär.«
»Im Umgang mit der ersten Kategorie haben wir mehr Erfahrung.«
»Sie müssen noch lernen, daß Schweigen sich manchmal auszahlt.«
»Da haben Sie wohl recht, Sir.«
»Ich habe mir Ihre Personalakte angesehen. Sie könnten das Zeug zu einem gehobenen Posten haben, wenn es Ihnen nur gelänge, das zu entwickeln, was ich als distanzierte Akzeptanz bezeichne. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich glaube schon.«
»Dann möchte ich es klarlegen, nur für den Fall, daß Sie mich mißverstehen wollen. Sie müssen lernen, daß es Ihre Aufgabe ist, dem Gesetz zum Sieg zu verhelfen und nicht der Gerechtigkeit.«
»Ist das nicht ein und dasselbe?«
»Seien Sie doch nicht so naiv. Sie wissen genau, daß das manchmal leider nicht der Fall ist.«
»Und was tut man dann?«
»Unsere Pflicht steht fest. Wir dienen dem Gesetz. Es ist die Aufgabe der Politiker, es gegebenenfalls im Interesse der Gerechtigkeit zu ändern. Möchten Sie angesichts dessen, was ich gerade gesagt habe, Ihr Protokoll ändern?«
»Nein, Sir.«
»Es ist also in allen Punkten korrekt?«
»Jawohl, Sir.«
Fawcus setzte die Brille auf, nahm das Blatt Papier und las. Dann schaute er Brent über seine Brillengläser hinweg an. »Sie sind also Detective Sergeant O’Connor von dem Augenblick an, in dem er das Haus betrat, nicht von der Seite gewichen?«
»Das ist richtig, Sir.«
»Und Mrs. Hawsley war anfangs nicht anwesend?«
»Sie traf erst ein, als der Sergeant den Beutel bereits gefunden hatte.«
»Durch ihren Anwalt erklärt sie kategorisch, während der gesamten Vernehmung zugegen gewesen zu sein. Sie aber seien nicht im Haus gewesen, als das Kokain angeblich gefunden wurde.«
»Sie lügt.«
»Und wenn sie nicht lügt, sagen Sie die Unwahrheit.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Wie ich höre, sind Sie mit Sergeant O’Connor befreundet.«
»Als Polizeibeamter würde ich nie einen Konflikt zwischen persönlichen Gefühlen und meiner Pflicht zulassen.«
»Unverschämtheit bringt Sie nicht weiter. Wo wurde das Pulver gefunden?«
»In Mr. Hawsleys rechter Jackentasche.«
»Ist es nicht etwas seltsam, daß Mr. Hawsley mit einer Leibesvisitation einverstanden war, wenn er wußte, was er bei sich trug?«
»Der Mann hatte solches Muffensausen, daß er es offenbar vergaß.«
»Und kann ein Mann mit, wie Sie sich ausdrücken, Muffensausen eine gültige Einwilligung zu einer Leibesvisitation geben?«
»Er tat das.«
»Mrs. Hawsley schwört, ihr Mann sei nicht süchtig und sei es auch nie gewesen. Nehmen wir einmal an, er ist sauber. Warum sollte er dann einen einzigen Beutel mit sich herumtragen?«
»Vielleicht war es eine Probe, um die Qualität seiner Ware zu demonstrieren.«
»Welche Dummheit, welches Risiko! Er war doch zu Hause und hatte bestimmt keinen Handel vor.«
»Nun, ein Profi ist er nicht gerade.«
»Genau. Er ist das exakte Gegenteil dessen, was man sich unter einem Drogenhändler vorstellt. Liegen Beweise vor, daß er irgend etwas mit Drogen zu tun hat?«
»Ein Informant gab uns einen Tip und wurde daraufhin ermordet.«
»Solange nicht bewiesen ist, daß er wegen des Tips ermordet wurde, steht überhaupt nichts fest.«
»Die Frau, mit der er sich im Pub traf, wurde wegen Rauschgifthandels verurteilt.«
»Ihrem Strafregister zufolge aber auch wegen Prostitution. Woher wissen Sie, welche der beiden Beschäftigungen Hawsley attraktiv fand?«
»Ihrem Aussehen nach zu urteilen muß es der Drogenhandel gewesen sein.«
»Wenn Sie mehr Erfahrungen gesammelt haben, werden Sie erkennen, daß das ein Fehlschluß ist.«
Auch O’Connor hatte sich so ausgedrückt. »Nun, abgesehen von dem Pulver, das er bei sich trug, gibt es wohl kaum einen haltbaren Beweis, daß er in Rauschgiftgeschäfte verwickelt ist.«
»Falsch. Es gibt überhaupt keinen Beweis.«
»Aber ich wette, daß er zu reden anfängt und sich selbst belastet, wenn er sich einer langen Haftstrafe wegen Drogenbesitzes konfrontiert sieht.«
»Was uns zurück zum ursprünglichen Thema bringt. Wenn Sergeant O’Connor so dumm war, Hawsley die Droge zuzustecken, wird er wegen dieser Straftat vor Gericht gestellt werden. Und wer ihm wissentlich Beihilfe geleistet hat, wird ebenfalls zur Rechenschaft gezogen. Sein Motiv kann sich nicht schuldmindernd auswirken und höchstens eine Auswirkung auf das Strafmaß haben. Haben Sie das verstanden?«
»Jawohl, Sir.«
»Ein hoher Beamter von einer anderen Abteilung wird ein umfassendes Ermittlungsverfahren beginnen. Solange es läuft, und bis sein Ergebnis bekannt ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie und Sergeant O’Connor vom Dienst zu suspendieren. Ihr Gehalt wird weitergezahlt. So, das wäre alles.«
Brent ging zur Tür, öffnete sie halb und hielt dann inne. »Nur eines hätte ich gerne noch gewußt.«
»Und das wäre?«
»Hat das Wort eines armen Constable nur halb soviel Gewicht wie das eines reichen Mannes? Oder sogar weniger?«
»Machen Sie, daß Sie verschwinden!« versetzte Fawcus ärgerlich.