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Sie fuhren zu der Einmündung in der Mitte des Dorfes, ließen ein entgegenkommendes Fahrzeug vorbei und bogen nach rechts ab, passierten eine Gemischtwarenhandlung, einen Wohnwagenhändler, eine Metzgerei und zwei kleine Wohnsiedlungen links und rechts der Straße. Die Einwohnerzahl von Marsham hatte sich in den letzten dreißig Jahren mehr als verdoppelt, doch die hohen Grundstückspreise sorgten dafür, daß die meisten Neubürger ehemalige Städter waren, die zur Arbeit und zum Einkaufen nach Seetonhurst oder London fuhren und die Gewohnheiten einer Schlafstadtmentalität eingeschleppt hatten.
O’Connor, ein vorsichtiger und rücksichtsvoller Fahrer, bremste ab, als sie eine unbeschilderte Gabelung erreichten. »Und wohin jetzt?«
»Egal«, erwiderte Brent. »Wenn links falsch ist, muß rechts richtig sein.«
Die einspurige Straße schlängelte sich nun in leichten Kurven in baumbestandene Senken und hinauf auf Höhenrücken, von denen aus sich ein weiter Blick über die Landschaft bis hinüber zum Moor bot.
O’Connor fluchte, weil er glaubte, die falsche Abzweigung genommen zu haben, und als er endlich schwieg, fanden sie das Haus. Sie bogen in die gekieste Einfahrt ein und hielten vor einem zu einer Garage umgebauten Nebengebäude. Ein Torflügel stand offen, und sie sahen einen grünen BMW und einen dunkelgrünen Toyota.
»Da sieht man mal wieder, wie die andere Hälfte lebt«, merkte Brent an. »Dieser 3er BMW soll ja ein heißer Ofen sein. Mit dem würde ich gern mal loszischen.«
Sie stiegen aus und gingen an einem zweiten Nebengebäude vorbei zu einem schmalen Durchgang in einer Dornenhecke, durch den man den gepflegten Garten betrat. Das Haus war typisch für die Gegend und hatte ein langes, steiles Satteldach.
O’Connor drückte auf den neben der Haustür ins Mauerwerk eingelassenen Klingelknopf und drehte sich dann um. Hinter dem Garten fiel das Land ab; man sah das Moor und, wie O’Connor vermutete, an einem klaren Tag wohl auch das Meer. Ein altes Haus in solcher Lage war schon immer sein unerreichbarer Wunschtraum gewesen; unerreichbar, weil er nicht romantisch genug war, um sich einbilden zu können, daß er jemals genug Geld für so etwas haben würde.
Eine hochgewachsene, hagere Frau undefinierbaren Alters kam an die Tür. Ihr Haar war ordentlich, aber einfallslos frisiert und paßte somit zu ihrem Kleid. Ihr Gesicht war lang und wirkte durch die hohen Wangenknochen noch länger. Sie hatte hellblaue Augen und schielte ein wenig. Ihr Mund war gerade und schmallippig. Alles an ihr drückte Kälte aus. Sie sprach scharf und etwas schrill. »Ja, bitte?«
»Mrs. Hawsley? Ich bin Detective Sergeant O’Connor, und dies ist mein Kollege, Detective Constable Brent. Es tut mir leid, Sie an einem Sonntagmorgen stören zu müssen. Sie sind bestimmt gerade mit dem Mittagsbraten beschäftigt.« Er hatte gehofft, eine freundliche Atmosphäre hervorzaubern zu können, doch weit gefehlt. »Was wollen Sie?«
»Wir hätten gern einmal mit Ihrem Mann gesprochen, falls er zu Hause ist.«
Sie zögerte und antwortete gereizt: »Dann kommen Sie wohl besser herein.«
Wegen des langen, steilen Dachs hatte die Halle die ungefähre Form eines Dreiecks. Rechts führte eine Treppe nach oben, daneben befanden sich Küche und Eßzimmer. Links war ein kurzer Gang mit drei Türen.
Sie zog unter dem Deckensturz der Wohnzimmertür den Kopf ein, machte sich aber nicht die Mühe, die Besucher zu warnen. Der Raum war quadratisch und hatte eine Balkendecke und eine Fachwerkwand. In einer Ecke gab es einen großen Kamin mit einer Abzugshaube aus Kupfer. Auf dem Schutzgitter vor dem Kamin stand die Jahreszahl 1636.
»Wenn ich ein Haus wie dieses betrete, komme ich mir immer vor wie ein Zeitreisender«, meinte O’Connor begeistert.
»Tatsächlich?« Sie hatte kein Interesse an seinen etwas verstiegenen Vergleichen. »Ich will sehen, ob mein Mann einen Augenblick Zeit für Sie hat.« Sie entfernte sich.
O’Connor und Brent setzten sich. Der Raum war fast einschüchternd sauber und ordentlich; man hatte Angst, versehentlich etwas umzustoßen oder womöglich Schmutz mit den Schuhen hereingetragen zu haben.
Da das Haus alt war, gab es keine Decke; nur die auf Balken liegenden Dielen des ersten Stocks trennten die Geschosse. Trotz des Teppichbodens konnten sie von oben Gemurmel hören. Sie verstanden zwar nicht, was gesagt wurde, aber aus dem Ton ging hervor, daß er nicht tun wollte, was sie von ihm verlangte.
Nach ein paar Minuten wurde es still. Alte Dielen knarrten, und dann hörten sie das Paar die Treppe herunterkommen. Als Hawsley gefolgt von seiner Frau das Wohnzimmer betrat, standen die beiden Beamten auf.
»Sie wollen mich sprechen?« fragte Hawsley.
»Richtig«, erwiderte O’Connor. Menschen wurden oft grundlos nervös, wenn sie es mit der Polizei zu tun bekamen. Hawsley, fand O’Connor, war nicht nur nervös, er schien richtig Angst zu haben.
»Ich verstehe nicht …«
Seine Frau unterbrach ihn. »Worum geht es eigentlich genau?« Sie ging zum Sofa. Nach kurzem Zögern setzte sich ihr Mann neben sie.
O’Connor nahm Platz. »Wir haben eine Frage, die Mr. Hawsley hoffentlich beantworten kann.«
»Höchst unwahrscheinlich. Unsereiner hat mit kriminellen Dingen nichts zu tun.«
»Das kann den ehrlichsten Leuten passieren, Mrs. Hawsley. Man kann zum Beispiel Zeuge eines Unfalls werden, bei dem einer der Fahrer unter Alkoholeinfluß stand.«
»Wollen Sie damit sagen, daß mein Mann Zeuge eines solchen Unfalls war?«
»Nein, das war nur ein Beispiel, um …«
»Darf ich Sie dann bitten, zur Sache zu kommen und uns nicht weiter die Zeit zu stehlen?«
»Gut, wie Sie wollen.« O’Connor blieb recht freundlich, ohne unterwürfig zu klingen. »Wir möchten gerne wissen, wer die Dame war, die sich gestern abend im Saracen’s Head in Stonechurch aufhielt.«
»Und deshalb sind Sie hierhergekommen? Sinnlos!«
»Ihr Mann sollte uns ihren Namen sagen können.«
»Warum?«
O’Connor sagte zu Hawsley: »Sie waren gestern abend im Saracen’s Head. Wer war die Dame, mit der Sie sich trafen?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, versetzte Hawsley laut.
»Wer ist diese Frau?« fragte jetzt Mrs. Hawsley.
»Sehen Sie, das möchten wir auch gern wissen«, meinte O’Connor.
»Ich habe mich offenbar nicht deutlich genug ausgedrückt. Warum wollen Sie ihren Namen denn wissen? Hat sie etwas verbrochen?«
»Mit Sicherheit können wir das nicht sagen.«
»Glauben Sie ernsthaft, mein Mann und ich würden uns in kriminellen Kreisen bewegen?«
»Denkbar wäre schon – vielleicht ist Ihnen ja nicht bewußt, mit wem Sie es zu tun haben.«
Das ärgerte Mrs. Hawsley. Die ihrer Ansicht nach unverschämte Antwort war jedoch so harmlos formuliert, daß sie keinen Einwand erheben konnte.
O’Connor meinte: »Mr. Hawsley, was können Sie uns über die Dame sagen, mit der Sie sich gestern abend trafen?«
»Ich habe mich mit niemandem getroffen.«
»Sie bestreiten also, daß Sie gestern abend im Saracen’s Head waren?«
»Selbstverständlich. Was für eine lächerliche Idee.«
»Nicht ganz«, warf Brent ein. »Ich saß auf einem Barhocker an der Theke, als Sie Getränke bestellten. Merkwürdig, daß Sie sich nicht an mich erinnern. Nun, vielleicht hatten Sie andere Dinge im Kopf.«
Ein Ausdruck der Panik in Hawsleys Gesicht kennzeichnete den Augenblick, in dem sein Gedächtnis wieder zu funktionieren schien.
»Sie trafen um neunzehn Uhr achtundfünfzig ein, bestellten sich einen Gin mit Tonic und setzten sich an einen Ecktisch. Um zwanzig Uhr acht kam eine Frau und setzte sich neben Sie. Sie bestellten ihr einen Whisky und später dann eine zweite Runde. Sie verließen das Lokal zusammen. Diese Dame fuhr in einem blauen Jaguar weg und Sie in Ihrem grünen Toyota.«
»Stimmt nicht.«
Mrs. Hawsley warf ein: »Sie müssen sich irren.«
»Ich habe mir die Kennzeichen aufgeschrieben.«
»Ersparen wir uns die Diskussion«, meinte sie.
»Die Kennzeichen stehen in meinem Notizbuch.«
»Sie müssen sich verschrieben haben.«
»Ich kann Ihren Mann als die Person identifizieren, die ich in der Bar sah.«
»Können Sie nicht. Er verbrachte den ganzen Abend hier in diesem Haus. Wenn Sie weiterhin das Gegenteil behaupten, sind Sie entweder völlig unfähig oder Sie lügen ganz einfach.«
»Die Barfrau und andere Gäste werden Ihren Mann ebenfalls identifizieren können«, sagte Brent. »Wenn Sie meinen, so einfach aus der Sache –«
O’Connor unterbrach. »Warum streiten Sie die Wahrheit ab, Mrs. Hawsley, wo es doch überhaupt keinen Grund dafür gibt? Ihr Mann könnte uns und Ihnen viel Ärger ersparen. Zudem wäre es doch peinlich für Sie beide, wenn dieser Besuch publik würde. Solange wir von Ihrer Unschuld ausgehen, das kann ich Ihnen versichern, werde ich dafür sorgen, daß nichts an die Öffentlichkeit kommt.«
»Diese Andeutung ist empörend«, versetzte sie eisig.
O’Connor zögerte, runzelte die Stirn und stand dann auf. »Bedauerlich, daß Sie uns nicht helfen wollen.«
Die beiden empfahlen sich und warfen einen letzten Blick auf den sehr verängstigten Hawsley. Auf dem Weg zur Einfahrt fluchte Brent, und als sie ihr Auto erreicht hatten, stützte er sich mit den Ellbogen aufs Dach und schaute O’Connor an. »Warum haben Sie es diesem Biest so einfach gemacht?«
»Welche Alternative hatte ich denn?«
»Den Beweis, daß die beiden lügen, daß sich die Balken biegen. Immerhin habe ich den Kerl im Pub vor mir gesehen.«
»Sie behauptet aber, ihr Mann habe den ganzen Abend zu Hause verbracht.«
»Wenn meine Aussage allein nicht genügt, wäre da außerdem noch die Barfrau …«
»Mrs. Hawsley würde Sie zweifellos an die Tatsache erinnern, daß Augenzeugenberichte notorisch ungenau sind. Beruhigen Sie sich und sehen Sie die Dinge so, wie sie sind, und nicht, wie Sie es sich wünschen. Wir bewegen uns auf dünnem Eis. Dank ihrer sozialen Stellung wirken die beiden von vorn herein ehrenhaft, und die Frau wird jeder Jury direkt in die Augen schauen. Ehe man Leute dieses Schlags konfrontiert, braucht man handfeste Beweise, und die fehlen uns.«
»In Wirklichkeit sagen Sie also, daß wir sie mit Samthandschuhen anfassen müssen, weil sie mit einem feinen Akzent spricht.«
O’Connor lächelte. »Was reden Sie doch manchmal für einen Quatsch daher, Jim. Wenn Sie mich nicht besser kennen, ist mit Ihrem Verstand etwas nicht in Ordnung.« Er stieg ein, wartete, bis Brent neben ihm saß, ließ den Motor an, stieß zurück.
Als sie in die Straße einbogen, sagte Brent: »Die läßt ja Alkohol zu Eis gefrieren!« Es fiel Brent immer schwer, sich zu entschuldigen, und Abbitte leistete er nun auf diese sehr indirekte Weise.
»Allerdings. Ich kann mir auch vorstellen, daß sie auch mindestens ein Teil von ihm vereist hat.«
»Haben Sie ihr Gesicht gesehen, als Sie andeuteten, er könne das Pub besucht haben, um möglicherweise etwas aufzureißen?«
»Das ist eine der Möglichkeiten, die wir nicht ausschließen dürfen.«
»Aber bitte, Ihr Informant hat ihn doch verpfiffen.«
»Er kann sich geirrt haben.«
»Unsinn! Wer steigt so einer alten Schlampe nach?«
»Es gibt Männer, die abgenutzte Partnerinnen bevorzugen; das verstärkt ihr Gefühl der Selbsterniedrigung.«
»Jetzt aber mal halblang, Sigmund Freud.«