22.
KAPITEL
Das zweite erste Mal
Ein guter, langer Spaziergang half Max immer, den Kopf wieder einigermaßen klar zu bekommen. Aber irgendwie erschien es ihm keine gute Idee, durch die Straßen zu wandern, wenn die Schläger des Souleaters in der Stadt waren. Er wollte hinunter zum Laden gehen, dann fiel ihm ein, dass Bella dort war. Schließlich setzte er sich in dem leichten Nieselregen auf die Treppe, er konnte keinen Schritt weiter, sondern musste erst diesen Gefühlsstrudel in seinem Kopf sortieren.
Wie konnte sie das nur tun? Er hatte gerade Nathan mit der täglichen Dosis Betäubungsmittel ruhiggestellt, als Carrie und Cyrus in die Wohnung gestolpert waren. Es war unverkennbar, dass sie gerade Sex gehabt hatten, ihre Kleider waren hektisch übergestreift, und das schlechte Gewissen stand ihnen beiden ins Gesicht geschrieben. Schlimm genug, dass Carrie den Mistkerl mit in Nathans Haus gebracht hatte, aber musste sie auch noch mit ihm schlafen? Nach allem, was er angerichtet hatte? Allein schon bei dem Gedanken kam Max sich ausgenutzt vor. Betrogen.
Oh, ihm gingen noch ganz andere Worte durch den Kopf. Worte wie Verrat und Nutte und Schlampe. Und auch Worte voller Verständnis. Gestresst. Verletzt. Durcheinander. Doch diese Worte verdrängte Max rigoros. Er wollte sich ihr Verhalten nicht logisch erklären. Tatsache war, und daran gab es nichts zu rütteln, dass Carrie mit ihrem früheren Schöpfer gevögelt hatte, während Nathan auf ihrem gemeinsamen Bett mehr oder weniger im Sterben lag und von schrecklichen Albträumen gequält wurde.
Okay, es war nicht wirklich ihr gemeinsames Bett. Nathan und Carrie waren nicht wirklich einen Bund fürs Leben eingegangen, außer dem Blutsband. Aber nach Max’ Meinung war diese Verbindung Verpflichtung genug.
Und auch wenn Nathan nicht wirklich im Sterben lag – das war eine Übertreibung, und Max hasste Übertreibungen –, so war er doch nicht ganz bei Sinnen. In jeder Sekunde durchlebte er die schlimmste Nacht seines Lebens, und Cyrus war mitverantwortlich für den Horror dieser Nacht.
Max war ein kluger Mann. Eine Weile lange konnte er sich in seine Wut hineinsteigern und sich selbst etwas vormachen. Doch dann verpuffte sein Ärger, und ihm wurde klar, dass ihm Carries Verrat nicht nur um Nathans Willen so nahe ging.
Ihr Verrat erinnerte ihn zu sehr an seinen eigenen.
Der Asphalt war glatt von dem leichten Regen. Max zog den Kopf ein, fuhr sich mit den Händen durch das nasse Haar und strich es sich aus dem Gesicht. Viel zu bald würde der Morgen kommen, er sollte sich besser in Sicherheit begeben. Doch oben in der Wohnung befand sich Carrie, die darauf wartete, dass es Nathan besser ging, damit sie ihn verlassen konnte. Oder sie wartete auf seinen Tod, damit sie nicht einmal mehr mit ihm Schluss machen musste. Und unten im Laden war Bella.
Und die Versuchung. Keine Chance, dass er das vergessen könnte.
Ob es nun eine spontane Anziehung war, oder die verworrene Situation zwischen ihnen, in Bellas Nähe war er sich schmerzhaft darüber bewusst, wie sein Körper auf sie reagierte. Er musste nur ihre Stimme hören, und das Blut vibrierte in seinen Adern. Allein von ihrem Anblick wurde sein Schwanz hart. Die Erinnerung daran, wie sie geschmeckt und gerochen hatte, brachte ihn fast um den Verstand. Es war beängstigend, wie sehr ihn sogar ihre fremdartigen, hündischen Verhaltensweisen erregten. Er hatte in den letzten beiden Tagen kaum ein Auge zugetan, weil sie immer in seiner Nähe gewesen war.
Während der ganzen Zeit hatte er kaum an Marcus gedacht.
Er hatte kein Recht, ihn zu vergessen. Teufel, er hatte kein Recht, sich zu vergnügen, waren es doch seine dummen Liebschaften gewesen, die seinem Erschaffer das Leben gekostet hatten. Das Bild der jungen Frau mit dem süßen Lächeln und den kalten Augen blitzte in seinen Gedanken auf. Wie immer folgte die übliche Litanei von Selbstvorwürfen. Hätte er doch dem lächerlichen Wunsch widerstanden, sich noch einmal mit ihr zu treffen. Hätte er doch Marcus früher von ihr erzählt, bevor die Dinge außer Kontrolle geraten waren.
Doch er wusste, warum er ihm nichts von ihr erzählt hatte. Marcus hätte ihm gesagt, er solle die Sache beenden, egal, ob er nun wusste, wer die Frau in Wirklichkeit war oder nicht. Marcus hatte Max unbändig geliebt, er hätte ihn nie freigegeben.
Hätte Max nur geahnt, dass sie eine Vampirjägerin war. Es gab Hinweise genug, aber er war zu geil und naiv, zu jung und zu verliebt gewesen. Doch jetzt wusste er es besser. Liebe brachte einem nichts als Schwierigkeiten. Nicht, dass er Bella liebte, oder die Schlampe geliebt hatte, die seinen Erschaffer getötet hatte. Es erschien ihm nur sicherer, den Gedanken an Liebe schon im Keim zu ersticken, bevor er wirkliche Probleme damit bekam.
Obwohl es immer noch nieselte, wurde die Luft wärmer, und er entschied sich für Bella und trat in den Buchladen.
Sie hatte sich in den Laden verliebt, ein echter Beweis dafür, wie seltsam sie war. Er hätte gute „Energie“, hatte sie verkündet. Max hatte ihr erklärt, dass die Wasserleitungen im Winter geplatzt waren. Die gute Energie war wahrscheinlich der leichte Schimmelgeruch, der immer noch in der Luft hing. Wieder ein Beispiel, das nur zeigte, wie unterschiedlich sie in Wirklichkeit waren. Er konnte es weit hinten in seinem Kopf vergraben, dort, wo er schon seit Tagen alle möglichen guten Gründe sammelte, warum er sie nicht so verdammt sexy finden sollte.
Max öffnete die Ladentür. Das Klingeln der Glöckchen kündete einen Eindringling an, und sie schaute hoch. Für einen kurzen Moment verengten sich ihre Augen und ihr Körper spannte sich, dann erkannte sie ihn und lächelte.
Ihr Lächeln war spektakulär, aber Bella war sowieso einfach unglaublich. Sie bewegte sich so geschmeidig, als hätte sie immer jeden Muskel ihres Körpers unter Kontrolle. Ihr Gesichtsausdruck verriet nie etwas, es machte ihn verrückt, dass er nie auch nur für eine Sekunde erkennen konnte, was in ihrem Kopf vorging.
Sie ist zu gut für dich, sagte er sich. Dann beschloss er mit Nachdruck, sein angekratztes Ego wieder aufzurichten. Nein, sie war nicht zu gut. Zu kompliziert.
„Du bist ganz nass.“ Wie schaffte sie es nur, dass diese simple Aussage wie eine Aufforderung zum Sex klang?
Wahrscheinlich lag es an ihrem europäischen Akzent. „Ich war spazieren“, sagte er und hasste sich dafür, dass er sie anlog. „Ich musste mal nachdenken.“
„Ach?“ Sie wandte sich wieder dem Ladentisch zu, auf dem in ordentlichen Häufchen eine seltsame Auswahl von Kerzen, Fläschchen und Kräutern lag. Sie nahm ein Notizbuch und betrachtete stirnrunzelnd eine Seite. „Nein. Du warst draußen vor der Tür. Ich habe dich gerochen.“
„Ich bin nicht in dich verliebt“, stieß er hervor. Ganz locker, Harrison.
Offensichtlich erschrocken schaute sie hoch. Es tat gut, dass er ihre unnahbare Fassade doch erschüttern konnte. „Gut“, sagte sie.
„Na, ist auch egal. Ich hab dir das Herz gebrochen, Lady. Du weißt es, und ich weiß es auch.“ Er nahm die Hände hoch, eine Geste, als ob er sich in dieser Diskussion geschlagen gäbe. „Sonst hättest du gar nicht erst mit diesem Scheiß angefangen von wegen, ‚ich will keine Beziehung‘.“
Ganz langsam, als wäre er ein tollwütiger Hund, der gerade zum Angriff überging – super Vergleich, Harrison –, legte sie das Notizbuch auf die Theke. „Ich habe das ernst gemeint. Und auch wenn du mir ständig versicherst, dass ich falsch liege, fürchte ich, dass du mich immer noch nicht richtig verstehst.“
„Mir haben schon jede Menge Frauen alles Mögliche gesagt, um mich festzunageln, Baby. Du bist nicht die Erste, die nur so tut, als sei sie nicht zu haben.“ Kaum hatte er die Worte gesagt, wusste er, dass er sich wie ein wirklicher Arsch aufführte. „Das ist kein Spiel für dich, oder?“, sagte er.
„Und du willst mir einfach nicht glauben, obwohl ich es schon hundertmal gesagt habe.“ Sie lachte leise. „Ich will dich nicht an der Nase herumführen oder dich festnageln. Ich mag dich. Du hast Humor und bist gut im Bett. Aber ganz ehrlich, in meinem Leben ist einfach kein Platz für eine Beziehung.“
„In meinem auch nicht“, stimmte er ihr nachdrücklich zu. Eigentlich hatte er ihr genau das sagen wollen. Doch warum hatte er das Gefühl, als hätte er ein sehr wichtiges Spiel in der Nachspielzeit verloren?
Bella verdrehte die Augen und wandte sich wieder ihren Listen zu. „Nein, du bist viel zu verstrickt in deine eigenen Verpflichtungen.“
„Warum sagst du das so abfällig?“ Er trat an den Ladentisch und setzte sich auf das eine Ende.
„Zähl die“, wies sie ihn an und reichte ihm ein sorgsam verschnürtes Bündel mit Kerzen. „Es müssen sieben sein.“
Er würdigte die Kerzen keines Blickes, sondern legte sie sofort zur Seite. „Glaubst du, ich kann keine Beziehung haben, weil ich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt bin?“
Mit einem tiefen Seufzer stützte sie sich auf den Ladentisch und ließ ihren Kopf hängen. „Hast du vergessen, dass ich tierische Instinkte besitze? Glaubst du, ich kann nicht spüren, was du empfindest, wenn du in mir bist?“
Bei ihren deutlichen Worten traten erregende Bilder in seine Erinnerung. „Ich weiß, dass wir, als … Ich weiß, dass ich nichts von dir spüre.“
„Du hast eine unvorstellbare Schuld auf dich geladen, von der du dich nicht lösen kannst. Wen du auch verloren hast, diese Person hat dir sehr viel bedeutet. Aber das Einzige, was zwischen dir und einer anderen Liebe steht, ist deine Unfähigkeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen.“ Auf seinen Vorwurf ging sie mit keiner Silbe ein.
Max wurde aus Prinzip nur selten richtig wütend. Doch in den letzten Tagen hatte es immer wieder zwingende Gründe gegeben, warum er von diesem Vorsatz abrücken musste. „Warum kann ich nichts von dir spüren?“
„Weil es da nichts zu spüren gibt.“ Die Antwort kam schnell, als ob Bella sie einstudiert hätte.
Oder sie hatte diese Antwort schon zu oft gegeben.
Kalter Hass zog ihm die Eingeweide zusammen. Er sprang von der Theke und stellte sich ihr gegenüber. Die Hände an seinen Seiten waren zu Fäusten geballt. Solange er seine Nägel spürte, die sich in die Handflächen bohrten, solange ihn dieser Schmerz an seinen Körper erinnerte, kam er nicht in Versuchung, seine Wut an ihr auszulassen. „War das alles nur ein Trick?“
„Was?“ Sie sah verwirrt aus.
„Du weißt genau, was!“ Abscheu und Schmerz überwältigten ihn, ein bitteres Lachen stieg aus seiner Brust hoch. „Du spielst doch mit mir. Du legst es darauf an, dass ich mich in dich verliebe, dann lässt du mich abblitzen und hast deinen Spaß dabei. Krank ist das! Mit wie vielen Männern hast du diese Spielchen denn schon getrieben?“
„Mit keinem!“
Standen ihr etwa Tränen in den Augen? Das kam gut. „Klar. Das ist ja auch kein krankes Spiel, über das du dich später halb tot lachst. Du hast mich einfach spontan angemacht. Nicht zu fassen, dass ich auf diese Nummer hereingefallen bin.“
„Es war kein Trick!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Nein, sie verschränkte sie nicht, sie umarmte sich selbst, als ob sie Halt oder Trost brauchte. „Du warst der Einzige.“
Die Luft im Laden war zu dünn zum Atmen, als ob mit einem Mal der Sauerstoff verschwunden wäre. Max’ Zunge lag wie geschwollen in seinem Mund, er schluckte. „Wie bitte?“
„Du warst der Einzige. Jemals.“ Sie schaute weg. „Ich muss bescheuert gewesen sein.“
Irgendwo im Laden musste eine Leitung undicht sein, und vom ausströmenden Gas wurde Max schwindlig. „Das ist nicht wahr. Du hast gesagt …“
„Erst bin ich eine Lügnerin, und jetzt muss alles, was ich gesagt habe, wahr sein?“ Tränen liefen über ihr Gesicht, er hätte nie gedacht, dass er sie einmal so sehen würde. „Entscheide du für mich, was wahr ist. Es ist nicht fair, wenn du mittendrin die Regeln änderst!“
„Warum hast du mir nichts gesagt? Ich hätte …“ Hätte er nicht. Er hätte nicht mir ihr geschlafen. Jungfrauen waren nicht sein Ding. Er mochte erfahrene Frauen, Frauen, bei denen man nicht aufpassen musste, Frauen, die er nehmen konnte –
Gott, er kam ganz bestimmt in die Hölle.
„Die Regeln sind anders für meine Art. Wir müssen so tun, als wären wir Menschen. Dabei leben wir in einer Welt, in der unsere Kultur als altmodisch gilt. Was wir gemacht haben, ein One-Night-Stand, das gibt es für Werwölfe nicht. Trotzdem soll ich ständig so tun, als wäre ich eine normale menschliche Frau. Vielleicht wäre alles nicht so kompliziert, wenn ich wirklich ein Mensch wäre.“ Sie lächelte traurig, und eine Träne lief ihr über die Wange. „Werwölfe binden sich fürs Leben. Was ich mit dir … erlebt habe, könnte ich mit einem anderen Werwolf nicht tun, ohne ernsthafte Verpflichtungen einzugehen. Ich dachte, mit dir könnte ich einmal eine ganz normale Frau sein. Ich weiß nicht, warum ich dich gewählt habe. Es war kein Trick. Du hast einen gewissen Ruf in der Bewegung, und ich dachte, du bist ein Mann, der mit einer Frau ins Bett geht und sich weiter keine Gedanken macht. Ich dachte, es ist für uns beide okay. Aber ich mag dich wirklich, auch wenn du für mich in einem Moment höchstens noch eine schöne Erinnerung sein kannst.“
Max konnte es nicht ertragen, wenn Frauen weinten. Er legte seine Arme um sie, zog ihren Körper zu sich und genoss ihre Wärme und das Leben in ihr.
Sie war die Vernünftigere von ihnen beiden. Natürlich konnte es für sie keine gemeinsame Zukunft geben. Er war nicht viel mehr als eine gut erhaltene Leiche. Sie war ein verfluchtes Hundewesen. Was könnte ein Leben zusammen ihnen bieten, außer jede Menge Komplikationen?
Es war alles nur eine hübsche Fantasie gewesen. Warum sollte er beleidigt sein, wenn er ihr dabei geholfen hatte, dass sie sich für einen Moment einem schönen Traum hingeben konnte?
Sanft berührte er ihre Stirn mit den Lippen und wollte sie damit nur trösten. Doch auch wenn sein Körper tot war, mit einem zärtlichen Moment gab er sich nicht zufrieden. Bald küsste er sie wirklich und hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen war.
„Das Ritual“, hauchte sie an seinen Lippen und bewegte ihr Gesicht ein wenig weg von ihm.
„Wir haben Zeit“, versprach er. Die Uhr an der Wand schlug sechs. Draußen zwitscherten die Vögel. „Wahrscheinlich ist es eh schon zu spät für mich, um noch nach oben zu kommen.“
„Dann soll ich jetzt also aus Mitleid mit dir vögeln?“ Sie legte ihren lächelnden Mund auf seine Lippen.
„Nein.“ Er hob den Kopf und schaute auf sie herab. Hatte er einen Hinweis auf ihre Unschuld in ihrem Gesicht übersehen? War irgendwo etwas versteckt, das er hätte entdecken können, wenn er sich nicht von ihrem Aussehen und ihrem selbstbewussten Auftreten hätte täuschen lassen? „Lass uns so tun, als ob es das erste Mal ist.“
Sie schaute ihn zögernd an. „Was meinst du?“
Liebevoll strich er eine glatte schwarze Strähne aus ihrem Gesicht. „Lass es mich richtig machen. Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich dich nicht so …“
„Fortgeschritten gefickt?“
Er wollte nicht, dass sie dachte, er würde sie auslachen, aber er konnte sein Amüsement nicht länger zurückhalten. „So kann man es auch ausdrücken.“ Er wurde ernst, als er ihr mit dem Daumen über die Wangen fuhr. „Ich hätte es schöner für dich machen können.“
„Es war gut. Nicht toll, aber gut.“ Die Bella, die er kannte, war zurück, und ihre geheimnisvollen Gesichtszüge erregten ihn. „Wir versuchen es auf deine Art. Ich probiere alles einmal aus. Oder zweimal.“
Max wollte glauben, dass er durch diese Konfrontation etwas Seelenruhe gefunden hatte. Doch dann glitt er in sie auf dem improvisierten Lager aus hastig abgestreiften Kleidern, und er wusste, dass er sich nur noch mehr in ihr verlor.