20.
KAPITEL
Willkommen daheim, zweiter Teil
Nur eine Woche war ich fort gewesen, doch als die Lichter der Innenstadt nach der leichten Kurve der I-96 vor mir auftauchten, schien es, als kehrte ich nach einem jahrelangen Exil wieder zurück.
„Gott, ich bin nicht lange genug von diesem schmutzigen Loch weg gewesen“, brummte Cyrus auf dem Beifahrersitz.
„Weißt du, du könntest auch schlafen. Ich hab mir sagen lassen, dass Menschen das nachts tun.“ Ich selbst hatte viel zu wenig Schlaf auf diesem Trip abbekommen und sehnte mich nach meinem Bett. Dann wurde mir klar, dass es nicht wirklich mein Bett war, in das ich mich legen wollte.
Eine Welle von Heimweh trieb mir die Tränen in die Augen. Ich wollte neben Nathan liegen, seinen Geruch einatmen, lauschen, wie sein Blut sich durch meine Adern bewegte. Einen Moment lang war der Schmerz so stark, dass ich meine Sehnsucht fast hinausgeschrien hätte, wie ein hilfloses Kind in einem Wutanfall.
Ich brauchte Nathan. Ich liebte Nathan. Alle wussten es, außer ihm.
„Alles in Ordnung?“
Noch immer hatte ich mich nicht an den neuen Cyrus gewöhnt, deshalb dauerte es einen Augenblick, bis mir klar wurde, dass in seiner Frage keine versteckte Falle lag. Ich fuhr mir über die Augen und nickte. „Alles klar. Ich bin nur sehr müde.“
„Du hättest mich fahren lassen können. Ich wäre auch irgendwann schneller gefahren, wenn ich mich am Steuer sicherer gefühlt hätte.“ Er brach ab und schaute aus dem Fenster. „Mein Gott. Hier hat sich nichts verändert.“
„Also, der Bus fährt zu anderen Zeiten. Und sie haben das größere YMCA-Gebäude fertiggebaut, seit du … gestorben bist.“ Ich deutete vage in den Süden der Stadt. „Ich würde es dir zeigen, aber ich fahre lieber heim, bevor ich hier im Wagen in Flammen aufgehe.“
Er nickte. „Ich will ja nicht allzu neugierig erscheinen, aber warum genau bin ich hier?“
Ich setzte den Blinker und wechselte auf die rechte Spur, dann nahm ich die Ausfahrt, die sanft hinunter in das Herz der Stadt führte. „Das weiß ich noch nicht. Du kannst eine Weile bei uns wohnen.“
„Ich glaube nicht, dass Nolen darüber sehr erfreut sein wird.“ Cyrus klang beinahe so, als wolle er sich dafür entschuldigen. Wahrscheinlich, weil er nicht länger hinten im Laster schlafen wollte.
„Nathan ist im Moment nicht in der Lage, sich über irgendetwas zu freuen oder nicht zu freuen. Aber ich lade dich nicht als Gast ein. Du musst bei uns wohnen, weil ich nicht will, dass du deinem Vater in die Hände fällst.“ Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. „Und ich will auch nicht, dass du dich auf die Suche nach ihm machst.“
Eifrig legte er den Zeigefinger an die Stirn und tat, als würde er salutieren. „Jawohl, Madam.“
„Ich möchte mich nicht mit dir darüber streiten, Cyrus.“ Es tat immer noch weh, wenn ich seinen Namen sagte.
Er runzelte die Stirn. „Du brauchst nicht so zusammenzuzucken. Schließlich hab ich dir keinen Pflock ins Herz gerammt oder so etwas. Ich bin jetzt ein Mensch. Du hast nichts von mir zu befürchten.“
Ungläubig öffnete ich den Mund, wollte ihm widersprechen, aber sein tiefer Seufzer schnitt mir das Wort ab.
„Ich möchte meinen Vater finden. Aber aus einem anderen Grund als du denkst.“
Vor Angst hatte sich ein Kloß in meinem Hals gebildet, doch ich schluckte ihn hinunter und gab mir Mühe, fröhlich zu klingen. „Na ja, vielleicht habe ich dich falsch eingeschätzt.“
Er schaute mich an, immer noch mit diesem beharrlich anklagenden Blick. „Das hast du die ganze Zeit getan.“
Ich reagierte nicht auf diesen Kommentar – irgendwo strömte wahrscheinlich Gas aus, und er war high davon und hatte komplett das Gedächtnis verloren, sonst würde ihm so ein Schwachsinn gar nicht über die Lippen kommen –, und wir schwiegen den Rest der Fahrt.
Aber ich konnte meine Gedanken nicht abschalten, je näher wir der Wohnung kamen. Ich musste mich mit Gewalt ermahnen, dass dies keine glückliche Rückkehr war. Unsere Prüfung war noch lange nicht vorbei, und ich hatte keine Ahnung, was ich zu Hause vorfinden würde. Ich holte tief Luft und versuchte mich auf das vorzubereiten, was mich erwartete, dann griff ich nach dem Türgriff. „Dann wollen wir mal.“
„Warte.“ Cyrus legte seine Finger auf meinen Arm. Sie fühlten sich erschreckend warm auf meinem toten Körper an. Mein verblüfftes Zögern interpretierte er als Zustimmung. „Mir kommt es so vor, als hättest du mich erst vor ein paar Tagen verlassen. Mein Chauffeur hat mich jeden Tag hierher gefahren, und ich habe genau hier geparkt und mir vorgestellt, dass du oben bei Nolen bist.“
Cyrus umschloss meine freie Hand mit einem festen, ehrlichen Griff. „Du hast mich verletzt. Du denkst, ich habe dich nicht geliebt, und das stimmt. Ich dachte nur, ich liebe dich, aber ich weiß jetzt, dass ich mich getäuscht habe. Aber mir lag etwas an dir. Ich hatte dich wirklich sehr gerne.“
Ich schluckte. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er tot war, dann hätte ich mich vielleicht auf diesen Moment vorbereitet. Und wenn ich eine Konfrontation geplant hätte, dann eine heftige, bei der ich ihm alles, was ich ihm je sagen wollte, an den Kopf geworfen hätte. Aber ich hatte nie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde. Ich war mir nicht einmal klar darüber, was ich eigentlich fühlen sollte.
„Du hast mir das Herz gebrochen, Carrie.“ Er schaute mir direkt in die Augen, und zum ersten Mal sah ich in dem klaren, unergründlichen Blau nichts als Ehrlichkeit.
Er beugte sich zu mir, weder Tod noch Wiederauferstehung hatten ihm seine katzenhafte Eleganz nehmen können. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte – und das hätte eine ganze Weile gedauert, angesichts der vollkommen absurden Umstände dieses Augenblicks –, küsste mich Cyrus.
Der Ausdruck „wie Fahrradfahren“ schoss mir durch den Kopf. Obwohl es lange her war, reagierte mein Körper auf ihn genau wie früher, wenn wir gegenseitig unser Blut getrunken hatten. Pure, unkontrollierte Lust schlug wie eine Flutwelle über mir zusammen und raubte mir jeden rationalen Gedanken.
Ich berührte ihn nicht, aber ich löste mich auch nicht von ihm. Er schlang die Arme um mich. Es war etwas unbeholfen, weil das Lenkrad im Weg war, aber er konnte immer noch genausogut küssen wie als Vampir. Unwillkürlich zog ich die Zehen an und rutschte auf dem Sitz von ihm weg, wobei ich versuchte, das erregende Kribbeln in meinem Körper unter Kontrolle zu bekommen. Es gelang mir nicht.
Er lehnte sich zurück. Sein Gesicht war gerötet, auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Sein Blick fiel auf meine Lippen, dann auf meine Augen, und er wandte sich sofort ab und schaute zur Windschutzscheibe hinaus.
„Da, schau mal“, keuchte er und deutete mit einer herablassenden Geste auf etwas auf der Straße. „An dieser Stelle habe ich dein Herz herausgeschnitten.“
Sein Tonfall war so beiläufig, so ohne jede Reue. Die Erinnerung an diese Nacht, mein eigener Schmerz, gepaart mit den Qualen, die Nathan durchstehen musste, schnitt mir durch die Seele wie damals das Messer von Cyrus. Ich hielt es nicht mehr aus, all der Stress und die Sorgen, die mich belasteten, und nun noch dieser Schmerz. Tränen liefen mir die Wangen hinunter, und ich schlug ihn so hart, dass sich auf seiner Wange weiß der Abdruck meiner Hand abzeichnete, der rasch rot wurde.
Ich sah es ihm an, dass er wusste, was er getan hatte. Er wollte mich hilflos berühren, aber ich schob seine Hände von mir.
„Wie konntest du das tun?“ Ich wollte mir seinen Kuss vom Mund wischen, das Gefühl seiner Lippen auf meinen aus meinem Gedächtnis bannen. „Nathan ist verschwunden. Er kann schon tot sein. Und du …“
Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Ich wollte die Worte nicht aussprechen, nicht sagen, dass er mich geküsst hatte. Ich hasste es, dass er immer noch diese verführerische Gewalt über mich hatte, dass nicht alles, was uns miteinander verband, eine Folge unserer Blutsverbindung gewesen war. Und ich hasste es, dass ich in dem Augenblick, als dieses kranke Gefühl mich zu Cyrus zog, Nathan vollkommen vergessen hatte.
Oben an der Treppe öffnete sich die Tür, und eine sehr beunruhigte Frau mit einer Armbrust war zu sehen. Ich erkannte sie an ihrem langen schwarzen Haar und den exotischen Gesichtszügen. Es war Bella, die Vampirjägerin aus General Bretons Büro. Auch ihre Kleider kamen mir bekannt vor. Sie gehörten mir.
Die Werwölfin musterte mich und Cyrus mit einem abschätzenden Blick, dann ließ sie die Armbrust sinken und nahm eine weniger bedrohliche Haltung ein. „Du musst Carrie sein.“
Ich nickte und wollte gerade etwas sagen, als im Inneren der Wohnung ein gellender Schrei erklang.
Leicht besorgt zog Bella die Augenbrauen zusammen. „Es klingt schlimmer, als es ist. Ich habe ihm einen beruhigenden Kräuterauszug verabreicht, aber er schlägt nicht an.“
Mit einem gefühllosen Murmeln bedankte ich mich. Der Schrei war mir durch und durch gegangen. Noch nie hatte ich ihn außerhalb meiner Gedanken gehört. Sie hatten Nathan gefunden.
Max kam aus dem Flur und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. „Wenigstens hat er jetzt etwas Blut getrunken.“ Er erstarrte, als er uns erblickte, um seine Lippen spielte ein schwaches Lächeln. „Du bist zurück.“
„Ja.“ Wahrscheinlich musste es grausam erscheinen, dass ich nicht sofort zu Nathan stürzte, aber ich konnte nicht. Nicht nach dem, was gerade im Wagen geschehen war.
Max schaute mich zögernd an, als ob er mein Schuldbewusstsein spüren konnte. Mit seinem verdammt guten Einfühlungsvermögen wandte er den Blick auch gleich Cyrus zu. „Hallo, ich bin Max.“
Cyrus war nichts anzumerken, eine Fähigkeit, die er in fünf Jahrhunderten voller Intrigen und Manipulationen perfekt gelernt hatte. Es war bei ihm wie ein Programm, das sich automatisch anschaltete, und insgeheim war ich dankbar dafür.
Mit festem Griff nahm er Max’ Hand und schüttelte sie. „Wir kennen uns schon. Sie und Ihre Freunde sind damals in mein Haus eingebrochen und haben mich umgebracht.“
Max’ gutmütiges Lächeln änderte sich nicht, aber Cyrus’ Knöchel wurde weiß, so fest drückte Max ihm die Hand. Als er ihn wieder losließ, schüttelte Cyrus heimlich seine Finger aus.
„Ihr habt Nathan gefunden.“ Mein Herz pochte gegen meine Rippen. Ich hatte nicht erwartet, dass ich ihn hier sehen würde. Und obwohl ich überwältigt war vor Erleichterung, dass sie ihn gefunden hatten, konnte ich ihm noch nicht gegenübertreten.
„Ja, ich wollte dich anrufen, aber es war ein bisschen hektisch hier.“ Max’ Blick glitt von mir zu Cyrus und wieder zu mir, und ich schaute weg, als ob er mich bei etwas ertappt hätte. Im selben Moment wurde mir klar, dass ich damit Max’ Verdacht bestätigte, auch wenn er ihm noch so furchtbar erscheinen musste.
Max räusperte sich. „Er hat nach dir gefragt.“
„Dann ist er …“ Ich wusste nicht, wie ich die Frage formulieren sollte und schaute hilflos zu Bella, die seltsamerweise mehr Verständnis für mich zu haben schien als Max.
„Nein, er ist immer noch besessen. Er ist nur viel klarer geworden, als wir ihm einen Tranquilizer verpasst haben“, sagte Max und warf das blutige Handtuch, das er in der Hand gehalten hatte, über seine Schulter. „Er ist ein Wrack, an seinem Körper befinden sich jede Menge offene Schnittwunden. Und er hat furchtbare Angst. Vielleicht kannst du uns helfen, ihn zu beruhigen.“
Wie auf Befehl erklang wieder ein Schrei aus dem Schlafzimmer.
„Ja.“ Ich wischte mir die feuchten Hände an der Jeans ab und schaute kurz zu Cyrus. „Bleib hier. Max wird nett zu dir sein.“
Als ich den Gang in Richtung Schlafzimmer ging, rechnete ich mit einem Spruch von Max, etwas, das mich aufbaute, oder Vorwürfe, weil ich so treulos war. Aber ich hätte es besser wissen sollen. Max würde mich später unter vier Augen ausschimpfen, wenn das Schlimmste überstanden war.
Das Zimmer war dunkel, wahrscheinlich, um Nathan nicht unnötiger Stimulation auszusetzen. Als ich eintrat, schrie er und wand sich in den Fesseln, mit denen Max ihn festgebunden hatte. Die Bettfedern quietschten unter seinem großen Körper, und der Rahmen ächzte. Ich erinnerte mich sofort an all die Zeiten, in denen ich diese Geräusche unter sehr viel vergnüglicheren Umständen gehört hatte. Im nächsten Moment kam ich mir schmutzig, schuldig und pervers vor.
Vielleicht hatte er noch nicht bemerkt, dass ich da war. Noch konnte ich fliehen. Ich muss hier nicht bleiben, wenn er doch gleich wissen wird, was ich getan habe.
Dann fiel mir das Blutsband zwischen uns ein, und ich hätte mir selbst an den Kopf schlagen können. Ich hatte ihn nicht bewusst von meinen Gedanken abgeschirmt. Konnte es sein, dass er sie gehört hatte?
Würde er mich verstehen, wenn ich mit ihm redete? Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er eine blutüberströmte Bestie ohne Bewusstsein gewesen. Wir hatten zwar über die Blutsbande kommuniziert, aber immer nur kurz. Dann hatte, was immer seine Seele zerstörte, ihn wieder erfasst.
Ich brachte kein Wort hervor. Ich öffnete den Mund, aber was sollte ich sagen? Angespannt lehnte ich mich gegen das kühle, bunte Holz der geschlossenen Tür. Mein Atem klang viel zu laut in der quälenden Stille.
Schließlich sprach Nathan. Seine Stimme klang rau und erschöpft, aber es war Nathan, nicht das Monster, das mich angegriffen hatte. „Carrie?“
„Ich bin’s.“ Vorsichtig ging ich einen Schritt näher. Er war gefesselt, er war mein Schöpfer, und ich hatte nichts von ihm zu befürchten. Trotzdem erinnerte mich in diesem Augenblick nur an das Blut, das aus seiner zerschnittenen Haut auf mich gespritzt war. Auch wenn es morbide klang, war der Geruch von Nathans Blut für mich immer ein Gefühl von zu Hause gewesen. Doch in der Nacht, als er mich angriff, hatte sein Blut nach Verwesung gestunken, und die Erinnerung daran hielt meine Füße hartnäckig in der Nähe der Tür.
„Sie haben mich festgebunden, Dotaír.“ Er war schwer zu verstehen, doch ich musste traurig lächeln, als ich meinen Kosenamen – Gälisch für Doktor – hörte. Nach einem betrunken klingenden Seufzer fügte er hinzu: „Und sie haben mich mit Beruhigungsmittel vollgepumpt.“
„Ich habe dich vermisst.“ Ich konnte kaum sprechen, weil mir ein Kloß in der Kehle saß, der sich jeden Moment in Tränen auflösen konnte. „Wie geht es dir?“
„Total vollgepumpt“, sagte er und lachte dabei leise, als wäre er beschwipst. „Ich habe dich auch vermisst.“
„Zumindest klingst du viel besser als bei unserem letzten Treffen.“ Ich versuchte, etwas Humor in diesen Satz zu legen, was mir allerdings gründlich misslang.
Auf dem Bett rührte sich nichts. Kurz fragte ich mich, ob Nathan eingeschlafen war. Dann sagte er sehr leise: „Habe ich dich verletzt? Ich erinnere mich an nichts.“
Abrupt zerrte er mit aller Kraft an seinen Fesseln – natürlich die Handschellen, was sonst? – und brüllte in der schrecklichen Sprache, die er auch in der Nacht gesprochen hatte, als er von dem Fluch in Besitz genommen wurde. Er beendete seinen wütenden Wortschwall mit einem geknurrten: „Lass mich hoch!“
„Das kann ich nicht, Nathan.“ Ich wollte mit fester Stimme sprechen, konnte aber ein Zittern nicht verhindern. Auch meine Hände zitterten, als ich näher an das Bett herantrat. Nur mit den Fingerspitzen berührte ich seinen Oberkörper.
Fast augenblicklich sank er auf das Bett zurück. „Carrie?“
Nach allem, was ich im Leben erlitten hatte, den Tod meiner Eltern, den Liebeskummer nach gescheiterten Beziehungen, die körperlichen Schmerzen, als mir wörtlich das Herz ausgerissen wurde – nie hatte mir etwas so weh getan wie der Anblick meines Schöpfers, der gegen einen unsichtbaren Feind kämpfte.
Seine Hilflosigkeit nahm mir alle meine Ängste. „Ich bin es.“
„Lass mich nicht allein“, bat er und riss panisch an den Fesseln um seine Handgelenke.
„Das werde ich nicht.“ Ich legte mich neben ihn auf das Bett, dort wo zwischen seinem Körper und dem Ende der Matratze noch ein schmaler Platz für mich war. „Ich lasse dich nicht allein, Nathan.“
Als ich meinen Körper an ihn schmiegte und einen Arm um ihn legte, entspannte er sich noch mehr. Trotz der Dunkelheit sah ich, dass sich etwas in seinen Augen veränderte. Sie waren immer noch glasig von dem Kräuterauszug, den die Werwölfin ihm gegeben hatte, aber nun konnte ich ihn darin erkennen.
Mit einem Fuß tastete er sich unter den Decken hervor und schlang ihn um meinen Knöchel. „Ich habe alles kaputt gemacht, oder?“
„Nein“, versicherte ich ihm und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. „Wir bringen das alles wieder in Ordnung.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich meine, mit dir.“
Nur schwer konnte ich die Tränen zurückhalten, aber zumindest sollte er sie nicht sehen. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Seite. „Ich habe keine Angst vor dir, Nathan. Du hast mich nie verletzt.“
„Du warst meine zweite Chance“, sagte er schläfrig. „Und ich habe es verbockt.“
Weil ich es ihm versprochen hatte, blieb ich bei ihm, aber auch, weil ich ihn berühren musste, um mich davon zu überzeugen, dass er wirklich, körperlich und geistig, da war. Meine Anwesenheit schien die Bestie zurückzuhalten, und zumindest konnte er so ein wenig zur Ruhe kommen.
Doch seine Worte gingen mir im Kopf herum. Du warst meine zweite Chance.
Ich wollte keine verstecke Bedeutung in die Worte hineininterpretieren, aber wie bei den meisten Dingen, waren das, was ich wollte, und das, was ich bekam, zwei völlig unterschiedliche Paar Stiefel.
War ich seine zweite Chance in der Liebe? Das klang furchtbar kitschig, wie der Titel eines Liebesfilms am Freitagabend im Fernsehen. Seine zweite Chance auf eine Beziehung mit jemandem, den er am Ende nicht umbrachte? Das wollte ich doch hoffen.
Oder bezogen sich die Worte etwa gar nicht auf mich? Nathan war mit Betäubungsmitteln ruhiggestellt und besessen, manchmal war er bei Sinnen, dann wieder nicht. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mit irgendeinem Dämonen in einer anderen Dimension gesprochen hatte?
Oder in dieser? Ängstlich schaute ich mich in dem dunklen Zimmer um, dann schlug ich mir den Gedanken aus dem Kopf. Ich war zu alt, um vor der Dunkelheit Angst zu haben, insbesondere, da meine eine Hälfte furchtbare Angst vor dem Licht hatte.
Nun, vielleicht nicht ganz die Hälfte. Es gab noch Raum für Schuldgefühle. Ich hatte sie zwei Jahre lang nicht an mich herangelassen. Warum wurde ich jetzt bei jeder Gelegenheit von ihnen überwältigt, wie von plötzlich hereinbrechenden Hagelschauern. Ich wollte mich nicht immer schuldig fühlen müssen. Ich fragte mich, wie Nathan damit leben konnte.
Dann wurde es mir schlagartig klar. Es war so offensichtlich und gleichzeitig so absurd wie ein Fisch, der aus dem klaren blauen Himmel fällt.
Nathan konnte nicht damit leben. Und das war es auch, warum er sich nicht aus diesem Zustand befreien konnte. Er war ein Gefangener seiner eigenen Schuld.
Kaum hatte Carrie den Raum verlassen, fand sich Cyrus in den Klauen der beiden Vampirjäger, die bei ihm geblieben waren.
„Machen Sie sich nützlich“, knurrte Max, und die Frau reichte Cyrus ein dickes altes Buch, dessen Seiten schon vergilbt waren. Als sie sich über ihn beugte, stieg ihm ein Geruch in die Nase, den man nur als „nasser Hund“ beschreiben konnte.
Seine Laune hellte sich schlagartig auf. „Sie sind eine Lupide?“
Als sie sich auf ihn stürzte, wurde ihm klar, dass er sich diesen Fehler hätte ersparen können. Ihre Fingernägel bohrten sich in seine Schultern, und ihre Zähne schnappten Zentimeter vor seiner Kehle zusammen, als der Vampir die Frau zurückriss.
„Dreckige, mordende Bestie!“ Sie spuckte ihn an und trat mit einer solchen Wut nach ihm, dass sie für einige Sekunden nicht mehr den Boden berührte und gefallen wäre, hätte Max sie nicht gehalten.
„Hey, hey, beruhig dich. Das kann jedem mal passieren“, sagte Max und drehte sie zu sich.
Gleich bekommt der arme Kerl ihre Wut ab, dachte Cyrus und lachte sich insgeheim ins Fäustchen. Für einen Lupiden war es die schlimmste Beleidigung, wenn man ihn als Werwolf bezeichnete, doch umgedreht war es zehnmal schlimmer. „Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Früher hatte ich nur Kontakt mir Ihren entfremdeten Brüdern.“
„Sie sind nicht unsere Brüder, du mordender Feigling!“ In ihrer Stimme lag immer noch eine Spur von Hysterie, aber sie hatte sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie die Hände des Vampirs wegschob. „Ich weiß, wer Sie sind!“
„Sind wir uns schon einmal begegnet?“ Die Grausamkeit der Frage war reine Absicht. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete darauf, was sie unweigerlich erwidern würde.
„Ich habe die Akten gelesen! Ich weiß, wie grausam Sie mit meiner Art umgesprungen sind. Die Jagden, die Sie zum Vergnügen der Lupiden organisiert haben. Hundekämpfe haben Sie sie zum Spaß vor Ihren Freunden genannt!“ Ihre schmalen goldenen Augen weiteten sich. Fing sie jetzt etwa an zu weinen?
Der Vampir legte ihr den Arm um die Schultern, eine beschützende Geste, als wäre sie seine Freundin. Sehr interessant.
„Das waren nicht seine einzigen Verbrechen.“ Max starrte Cyrus böse an. „Aber im Moment brauchen wir ihn noch.“
Cyrus hob die Hände mit einem tiefen, theatralischen Seufzen. „Hören Sie, es tut mir wirklich leid wegen all des Unrechts, das ich absichtlich oder unabsichtlich Mitgliedern Ihrer Meute oder Ihrer Sippe zugefügt habe. Mir ist es ernst damit, ich meine das ganz ehrlich, von ganzem Herzen. Aber ich bin müde. Bitte stellen Sie sich vor, wie es sein muss, wenn man von einer durchgedrehten Vampirbiker-Eso-Kult-Gang von den Toten zurückgeholt wird, nur um dann in einem Laster durch das halbe Land geschleppt zu werden, und zwar von seinem ehemaligen Zögling, seiner Ex-Loverin, die einen hasst und das menschliche Bedürfnis, mindestens zweimal am Tag an die frische Luft zu kommen, schlicht vergessen hat. Ich habe weder die Energie noch die Absicht, eine zehnseitige Entschuldigung für meine früheren Sünden zu verfassen, und falls Sie das jetzt von mir erwarten, dann werfen Sie sich doch lieber gleich vor einen fahrenden Zug.“
Als er zu reden anfing, hatten die Worte nicht böse geklungen. Sie waren taktvoll, aber ihm erschienen sie nicht besonders aggressiv. Offenbar war der Vampir da anderer Ansicht. Zur Abwechslung wollte er sich jetzt auf ihn stürzen, aber die Frau hielt ihn zurück. „Hör auf, so mit ihr zu reden!“
„Ich rede, wie ich will.“ Das Ende seiner Geduld, die wegen der Trauer um Mouse und die vielen Stunden ohne Schlaf eh schon an einem dünnen Faden hing, war erreicht. „Ich bin nicht freiwillig hier. Wenn es nach mir ginge, würde ich sofort durch diese Tür treten und keinen von euch jemals wiedersehen.“
Außer Carrie. Sie hatte er schon einmal verloren. Seit er sich wieder in ihrer Nähe befand, war der Liebeskummer, den er bis zu seinem Tod nicht überwinden konnte, noch viel stärker geworden. Doch wenn sie ihn in Ruhe gelassen hätte, dann wäre er bei Mouse in der Wüste geblieben, bis der Tod ihn dort wieder eingeholt hätte.
Anscheinend war der Tod die einzige Periode in seinem Leben, in der er für einen Augenblick zur Ruhe kam.
„Tun Sie sich keinen Zwang an“, knurrte der Vampir, wobei sich seine Züge veränderten, und die furchtbare Schnauze mit den Reißzähnen erschien, die seine wahre Natur ausmachten.
Für einen Moment trat die Werwölfin zurück. Als ob er ihren Horror spüren konnte, verwandelte Max die Fratze sofort in ein menschlicheres Gesicht. Offenbar merkte sie, dass sie seine Gefühle verletzt hatte, denn sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Wir brauchen seine Hilfe, Max. Er ist erschöpft, und er hat einiges durchgemacht. Wir können kaum erwarten, dass er anders reagiert. Er ist nur ein Mensch.“
Die Worte sollten ihn treffen, aber Cyrus war froh, dass er nicht mehr zu dieser bizarren Parallelwelt gehörte, in der sie lebten. Er nahm das Buch und ließ sich in einem Sessel fallen, blätterte darin, ohne wirklich etwas zu erkennen.
Es war seltsam und unangenehm, hier in Nolens Wohnung zu sein. Überall auf den Bücherregalen und den Tischchen neben der Couch standen Fotos in billigen Rahmen. Auf einigen war Ziggy zu sehen, der junge Mann, den Nolen als seinen Sohn betrachtet hatte.
Cyrus erinnerte sich gerne an den Jungen. Er war intelligent gewesen, mit einer angenehmen Persönlichkeit und sehr talentiert im Bett. Und Cyrus hatte ihm seine Freundlichkeit mit Grausamkeit bezahlt, er hatte den Jugendlichen abwechselnd an sich gebunden und ihn von sich gestoßen.
Als er sich daran erinnerte, wurde er rot vor Scham. „Du weißt, dass dein Vater und ich auch einmal miteinander geschlafen haben, oder nicht? Natürlich war er nicht halb so leidenschaftlich wie du. Erregt dich das? Zu wissen, dass du ein bessere Fick bist als er. Gott, was würde er jetzt von dir denken, wenn er dich sieht, auf Händen und Knien, wie du darum bettelst, dass ich es dir besorge.“
Und er hatte darum gebettelt, dafür hatte Cyrus gesorgt.
Gedankenverloren griff er nach dem nächsten Foto und drehte es mit dem Bild nach unten, damit die lächelnden Gesichter von Vater und Sohn ihn nicht mehr anstarren konnten.
Max trat sofort heran und stellte den Rahmen wieder hin.
Ah, so lief es also. Er sah sogar den tieferen Sinn dahinter. In seinem Leben hatte Cyrus entsetzliche Dinge getan, sogar Schlimmeres, als sich dieser Vampirjäger vorstellen konnte. Nun erhielt er seine gerechte Strafe dafür. Aber wenn dieses aufgeblasene Jungchen, das hier den harten Vampir markierte, meinte, dass er ihm eine harte Strafe auferlegte, dann täuschte er sich. Nichts kam der Vergeltung gleich, die zwei Vampire in der Wüste unwissentlich an ihm verübt hatten.
Vielleicht war er besessen vom Tod, aber seine Gedanken fanden den Weg zurück in den Keller der Kirche. Brannte das Feuer noch? Hatte jemand sie gefunden? War ihr Körper verbrannt? Jetzt erschien es ihm falsch, dass er sie zurückgelassen hatte, ihren hilflosen toten Körper. Sein Verstand sagte ihm, dass sie keine Schmerzen mehr fühlen konnte, aber seine Gefühle brachten diese Logik in Verwirrung. Sie zeigten ihm ihre friedliche Miene, die sich in eine von Todesangst entstellte Fratze verwandelte, als sie erwachte und merkte, dass er sie dem Feuer überlassen hatte.
Er hätte nicht mit Carrie mitgehen, sondern bei ihr bleiben sollen, damit er alleine von ihr hätte Abschied nehmen können. Oh, er hätte sie nie so missbraucht wie die Mädchen, die er selbst getötet hatte. Allein der Gedanke war furchtbar, wenn es um eine Person ging, die er gerngehabt und deren Leben ihm etwas bedeutet hatte. Aber jetzt schien sein Aufbruch ihm überstürzt. Er hatte sie im Arm halten wollen, neben ihr liegen, ihre Augen schließen und sich der Illusion hingeben wollen, dass sie noch am Leben wäre, auch wenn ihr schon die Steifheit in die Glieder kroch und ihre Haut erkaltet war. Vielleicht wäre er noch ein paar Tage dort geblieben und nie von ihrer Seite gewichen. Vielleicht wäre er dort an einem gebrochenen Herzen gestorben.
Diese Möglichkeit gab es jetzt nicht mehr. Sein Kummer, den er verdrängt hatte, war abgeklungen. Cyrus wollte nicht mehr leben, weil er Mouse verloren hatte, aber die Umstände hatten ihn gezwungen, mit grausamer Geschwindigkeit über ihren Verlust hinwegzukommen. Er sehnte sich nach ihr, aber er war nicht soweit, dass die Sehnsucht ihn in einen Irrsinn trieb, in dem er sich wirklich selbst etwas antun könnte.
Die Werwölfin – Bella hatte Max sie genannt – drehte ein paar gemächliche Runden um einen Haufen Decken, dann legte sie sich darauf nieder. Sie überflog ein Buch und legte dabei das Kinn auf ihre Vorderarme, die sie vor sich ausgestreckt hatte, wie ein Hund die Pfoten.
Max streckte sich auf der Couch aus und versuchte tapfer, handgeschriebene Seiten zu entziffern. Gelegentlich glitt sein Blick von dem Notizbuch zu der Frau auf dem Boden.
Cyrus wollte ihm zur Vorsicht raten. Die Liebe war unbeständig und konnte einem so leicht genommen werden. Aber die beiden bedeuteten ihm zu wenig, als dass er ihnen sein Wissen verraten hätte. Wenn sie klug waren, dann wussten sie es längst selbst.
Stattdessen deutete er auf das Notizbuch in Max’ Händen. „Was ist das?“
„Das Große Buch, das Sie nichts angeht.“ Er konzentrierte sich auf die Zeilen, als ob er sich tatsächlich mit den Worten beschäftigt hätte, und nicht mit dem Wesen auf dem Boden, in das er so offensichtlich verliebt war.
Dass er ihn so abfertigte, prallte an Cyrus ab wie Wasser. „Es sieht aus wie ein Tagebuch. Ein Buch der Schatten?“
Max schaute nicht hoch. „Es ist ein Tagebuch, und wenn Sie wollen, können Sie jetzt den Mund halten.“
„Ich würde gerne erfahren, wonach ich suchen soll. Oder soll ich diesen ganzen Schinken zusammenfassen.“ Cyrus ließ das Buch mit einem lauten Knall zufallen, worauf sich Staubwölkchen von ihm erhoben. Verziert mit billiger goldener Tinte standen die Worte „Besessenheit und Gedankenkontrolle durch Voodoo-Zauber“ auf dem Umschlag.
Reizend.
Max hatte endlich die Güte, die Nase aus dem Tagebuch zu nehmen. Blanker Hass stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Sie wissen doch viel besser als wir, was er vorhat.“
„Er?“ Cyrus zuckte mit den Achseln, als wisse er von nichts. „Wenn Sie damit meinen Vater meinen, dann täuschen Sie sich. Ich habe ihn das letzte Mal vor meinem Tod gesehen, und da war er nicht gerade glücklich mit mir.“
„Klar, und das sollen wir Ihnen einfach so abnehmen. Ich nehme mal an, Sie haben auch keine Ahnung, warum er Sie von den Toten zurückgeholt hat.“ Max stand auf und ging im Zimmer umher wie ein Haifisch, der auf der Suche nach toten Fischen ein Riff umkreist.
So konnte man ihn nicht wirklich einschüchtern. Stattdessen musste Cyrus angesichts der absurden Situation fast lachen, aber er unterdrückte den Reflex lieber. „Nein, das weiß ich. Carrie hat es mir gesagt. Er will ein Gott werden. Aber ihr werdet in diesen Büchern nichts finden, womit man ihn stoppen kann.“
„Wo können wir dann etwas finden?“ Bella richtete sich auf, offenbar hatte die Unterhaltung nun doch ihre Aufmerksamkeit erregt. Wäre sie kein Hund, hätte Cyrus sie ziemlich attraktiv gefunden, doch er hatte den Verdacht, dass es nicht besonders klug wäre, wenn er vor den Augen ihres Freundes mit ihr flirten würde. Ganz besonders nicht, weil dieser Freund offensichtlich vollkommen hin und weg von ihr war.
Also antwortete er ihr in einfachen Sätzen, damit auch der Steinzeit-Vampir alles mitbekam. „Ich weiß es nicht. Wie ich Carrie schon gesagt habe, zu einer gewissen Zeit war mein Vater förmlich von der Suche nach einem antiken Zauber besessen, der ihm angeblich einen göttlichen Status verschaffen konnte. Aber ich weiß nicht, ob er diesen speziellen Zauber gefunden hat, und wenn, wo er ihn entdeckt hat. Und ich kann überhaupt nichts dazu sagen, wie man ihn aufhalten könnte. Wenn der Zauber so funktioniert wie die meisten antiken Rituale, dann kann er nur noch durch ein unmögliches Unterfangen abgebrochen werden, sobald er in Gang gesetzt wurde. Und ganz sicher hat mein Vater das Ritual bereits begonnen, sonst wäre ich nicht hier. Vater hält sich bei allen okkulten Dingen sehr strikt an den Zeitplan. Es gibt dann weniger Probleme.“
„Wir versuchen einen Weg zu finden, wie wir Nathan helfen können. Wir denken, dass Ihr Vater ihm vielleicht etwas angetan hat“, gab Bella Auskunft, wobei sie Max’ böse Blicke ignorierte.
„Ach, er hat ihm ganz sicher etwas angetan“, stimmte Cyrus zu. Er wandte sich an Max und sagte: „Ist es nicht erstaunlich, was man alles erfahren kann, wenn man nur höflich fragt?“
„Halt die Klappe und sag uns einfach, was du weißt, Arschloch.“ Max stand in der Tür, die wahrscheinlich in die Küche führte.
Cyrus knurrte der Magen. „Ich habe Hunger. Hat Nolen irgendetwas Essbares im Haus außer Blut?“
„Hol ihm etwas“, befahl Bella Max. Der Vampir starrte sie mit offenem Mund an, dann drehte er sich wütend um und tat, was sie ihm gesagt hatte.
Ach ja. Gott schütze uns vor einem verliebten Vampir. Cyrus wartete, bis Max das Wohnzimmer verlassen hatte, dann begann er zu sprechen. Er tat das mit Absicht, um Max eine Lektion zu erteilen.
„Wenn mein Vater das Ritual durchführt, das ich meine, dann muss er die Seelen von all jenen, die er verwandelt hat, von ihren Sünden läutern. Das kann er nur erreichen, in dem er ihre Seelen frisst, wobei er dann einen weiteren Teil des Rituals vollzieht. Ich bin nicht sicher, was dieser Teil alles beinhaltet. Aber wenn er damit fertig ist und all die Seelen zerstört sind …“
„Zerstört?“ Bellas Augen wurden groß vor Schreck.
Cyrus brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, wie barbarisch das klingen musste. Die Seele war der einzige Besitz einer sterblichen Kreatur – hatte er jetzt auch eine? –, und den Sterblichen bedeutete sie sehr viel.
„Ja. Wenn die Läuterung vollzogen ist, kann er das Ritual wie vorgeschrieben zu Ende bringen.“ Cyrus lachte und zuckte mit den Schultern. „Das wird der beste Weg sein, um ihn zu stoppen. Man muss ihn davon abhalten, die Seelen, die er braucht, einzusammeln.“
„Genau das haben wir vor.“ Max kam aus der Küche zurück. In der Hand hielt er eine zerdrückte Tüte Knabberzeug mit Käsegeschmack. „Hier. Die Küche hat geschlossen.“
Obwohl sie alt waren und entsetzlich schmeckten, tat Cyrus, als schmeckten ihm die „Cheese Puffs“, wie sie auf der Tüte angepriesen wurden. „Nun, ich denke, Vater hat Nathan einfach mit dem Blutsband zu sich geordert.“
„Das Blutsband?“ Max schmunzelte. „Damit kenne ich mich zufällig auch ziemlich gut aus, aber ich würde mich deswegen nie am ganzen Körper aufritzen und als Killer Amok laufen.“
Cyrus schüttelte den Kopf. „Nein. Aber Sie würden bestimmt auch ein wenig verrückt werden, wenn Sie die ganze Zeit nur damit beschäftigt wären, Ihre Gedanken von der Verbindung zu Ihrem Schöpfer abzuschirmen. Ich kenne meinen Vater, früher hat er mich Tag und Nacht mit Visionen gequält von …“
Nein. Er würde diesen Fremden seinen persönlichen Horror nicht anvertrauen. „Mit Visionen von sehr unangenehmen Dingen. Das tat er so lange, bis ich ihm gab, was er von mir wollte.“
„Was immer er mit Nathan macht, es muss um einiges furchtbarer sein als Horrorbilder.“ Max schüttelte den Kopf. „Wenn wir nur herausfinden könnten, was …“
„Wir suchen weiter“, sagte Bella und nahm das nächste Buch in die Hand. „Nathan besitzt eine beeindruckende Bibliothek. Wir werden etwas finden.“
Als die Stunden vergingen, und Max auf der Couch heimliche Blicke auf die Werwölfin warf, die so tat, als würde sie es nicht bemerken, während Cyrus sich zum Schein in den verstaubten Wälzer auf seinem Schoß vertieft hatte, spürte er einen seltsamen Frieden. Obwohl seine Gefährten ihn nicht akzeptierten, war er doch in ihre zielstrebigen Bemühungen verstrickt und war ein Teil der Hoffnung, die sie antrieb. Vielleicht starb er doch nicht schon in dieser Woche und auch nicht in der nächsten. Vielleicht lebte er noch ein ganzes Jahr, oder sogar zwei. So lange jedenfalls, wie er diesen Optimismus hatte, den sich nur die Guten leisten konnten.
Ich stehe jetzt auf der guten Seite, Mouse, dachte er, und glaubte mit aller Kraft daran, dass sie ihn hören konnte. Und ich denke, ich bleibe auf dieser Seite.