10. KAPITEL

March

Wieder lag ich in Cyrus’ Bett. Kerzenlicht flackerte auf den cremefarbenen Wänden. Hauchdünne Gardinen wehten in einem kühlen Nachtwind. Es war ein Traum. Das wusste ich, weil ich in dem zunehmend unbequemeren Laster schlafen gegangen war. Und auch, weil Nathan an meiner Seite lag.

Er berührte mein Gesicht, und ich schmiegte mich an seine Handfläche. „Du bist tot.“

Das war nicht das, was ich sagen wollte. Ich wusste, dass er nicht tot war. Sein Entsetzen und seine Qual erreichten mich unablässig durch das Blutsband. Irgendwann war es so überwältigend gewesen, dass ich auf den Standstreifen fahren und mich darauf konzentrieren musste, die Stimme in meinem Kopf zu blockieren. Dann war ich den Rest der Nacht unter Tränen gefahren und hatte gebetet, dass er nicht glaubte, ich hätte ihn verlassen.

In meinem Traum lächelte er. „Ich bin nicht tot. Ich bin hier.“

Seine Schreie hallten noch immer, um Hilfe flehend, wie ein Echo in meinem Kopf. Es gab einen verrückten Stereoeffekt, und die Schallwellen verzerrten sichtbar die Luft um uns herum. „Hast du das gehört?“

Natürlich hat er das gehört. Er hat es gesagt.

Aber Nathan lächelte nur, achtlos gegenüber meiner Unruhe. „Wo willst du hin?“

Die Folterschreie spalteten erneut die Luft. „Ich weiß, dass ich das nicht träume.“

Ich war nicht sicher, ob er mich gehört hatte, also versuchte ich die Worte zu wiederholen. Nur um zu merken, dass die Schreie jetzt aus meinem Mund kamen.

Nathan zog mich in seine Arme. Er fühlte sich genau so an, wie er es im wirklichen Leben getan hatte, kalt und fest.

„Du musst nicht wegrennen“, flüsterte er in meine Haare. „Bitte, lauf nicht vor mir weg.“

Ein Tropfen Karmesinrot platzte auf die bleichen Laken.

„Du blutest.“ Ich bemerkte diesen Umstand mit Desinteresse. Die ganze Szene war langweilig, laut und ärgerlich. Ich setzte mich auf, und Nathan plumpste auf die Matratze, die jetzt rot durchtränkt war, denn er blutete aus den geheimnisvollen Zeichen, die in seine Haut geritzt waren.

„Carrie, bitte.“

Ich wandte mich ab. Durch die Magie des Träumens stand ich plötzlich auf meinen Beinen. Ein einziger Schritt brachte mich weit genug vom Bett weg, sodass ich Nathan nicht mehr hören und kaum noch sehen konnte. Auf der anderen Seite des unmöglich langen Raumes wartete Cyrus auf mich, und ich ging zu ihm.

„Nathan braucht dich“, sagte mein früherer Erschaffer ohne den gewohnten Spott in seiner Stimme. „Willst du nicht zu ihm gehen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Es liegt jetzt außerhalb meiner Macht.“

Cyrus’ Arme umfingen mich, aber seine Hände verwandelten sich zu Klauen, die sich in mein Fleisch bohrten. Ich sah in seine Augen. Sein Gesicht verformte sich grotesk und wurde dann zu Nathans. Er schrie so laut und so lange, dass ich glaubte, ich könnte es nicht aushalten.

Als ich fürchtete, von dem Klang wahnsinnig zu werden, wachte ich auf. Mein Handy klingelte an meiner Seite. Immer noch betäubt durch den wilden Traum griff ich danach.

„Wir ziehen heut Nacht nach Nevada.“

Byron. „Danke für die Neuigkeiten.“

Er gackerte. „Ich dachte, Sie würden das gerne wissen, dann hätten Sie einen Vorsprung. Tauchen Sie auf, bevor wir Ihren Mann kriegen.“

„Er ist nicht mein Mann.“ Die Verleugnung entfuhr mir, ehe ich mich bremsen konnte. Mühsam räusperte ich meine verdorrte Kehle frei. „Ich meine, ich suche nach ihm, aber …“

„Mir ist das doch ganz gleich“, näselte Byron. „Haben Sie schon gefrühstückt?“

„Nein. Ich hab verschlafen.“ In Wahrheit war mein Blutvorrat so beträchtlich zur Neige gegangen, dass ich angefangen hatte zu rationieren, wodurch meine Energie zu schwinden begann. Ich wusste nicht, in welcher Verfassung ich Cyrus antreffen würde. Wenn sie ihn verwandelt hatten, musste ich ihn am Leben erhalten, bis wir nach Michigan kamen. Mit dem, was ich noch aufbewahrte, würden wir beide verhungern.

„Es gibt einen Ort gleich hinter der Grenze von Nevada, wo Leute wie Sie bedient werden.“ Die Art, wie er die letzten Worte des Satzes betont hatte, schrie nach Fragen.

Gereizt wechselte ich das Handy von einem Ohr zum anderen und grub in dem verwickelten Schlafsack nach meiner Jeans. „Leute wie ich?“

Byron gackerte wieder. „Vampirdamen. Es gibt dort ein Bordell, etwa dreißig Kilometer hinter der Staatsgrenze. Lauter hübsche Männer. Nur weibliche Kundschaft.“

„Es ist ein Spenderhaus“, stellte ich vorwurfsvoll fest.

„Es ist ein Bordell, aber wenn Sie ein bisschen extra zahlen, entblößen sie auch ein Stückchen Hals.“ Er gab einen sehnsüchtigen Seufzer von sich. „Sie Glückliche.“

„Entschuldigung, ich beiße keine Menschen.“ Zweimal hatte ich das getan. Einmal Dahlia, einmal Ziggy, und beide Male hatten mir eine unvertretbar hohe Dosis Schuld beschert.

„Wirklich? Wo bekommen Sie dann das Blut her, das Sie trinken?“

Ich sträubte mich gegen die Bestienlogik, die nun sicher folgte. Dieselben Rationalisierungen, die Cyrus benutzt hatte, um mich zu manipulieren.

„Wo ich mein Blut herbekomme, geht Sie einen feuchten …“

„Hey, ich richte nicht. Ich versuche nur, Ihnen ein paar Hinweise zu geben. Im rauen ungezähmten Westen zu überleben, ist ganz anders als Ihr feudales Dasein im Mittelwesten. Außerdem gebe ich nur wieder, was mir Road Dog erzählt hat.“

„Road Dog?“ Ich erinnerte mich an seinen struppigen Kompagnon. „Aus diversen Gründen kann ich mir nicht vorstellen, dass er darüber Vorträge hält.“

„Also schön, ich hab es aus seiner Körpersprache gelesen, während er einen Lkw-Fahrer verspeiste.“ Byron machte eine Pause. „Also, wollen Sie die Adresse?“

Ich äugte auf die Kühltasche und seufzte. „Krieg ich das Blut da en gros?“

„Mit Trockeneis.“

„Schön, erklären sie mir den Weg.“

Es war fast Sonnenaufgang, als ich das elegante Herrenhaus aus roten Ziegeln erreichte. Ungeachtet der Tatsache, dass es an einer öden Straße mitten in der Wüste lag, war der Rasen, der es umgab, üppig und grün, so weit ich das hinter den spitzen Stäben des hohen Eisenzaunes, der das Gelände begrenzte, erkennen konnte. Es gab keinen Nachbarn im Umkreis von fünfzehn Kilometern, aber ich wusste auf Anhieb, dass ihre Sicherheitsmaßnahmen nicht für simple Einbrecher gedacht waren.

Eine schicke Kommunikationskonsole war am Tor angebracht. Ich drückte einen Knopf und ließ den Summer brummen.

Eine Sekunde später knisterte eine Stimme aus dem Lautsprecher. „Nennen Sie Ihr Anliegen.“

Ich wiederholte das Passwort, das Byron mir gegeben hatte, und fühlte mich mit jeder Sekunde verruchter. „Entzug.“

„Eintreten.“ Plötzlich erklang ein lautes mechanisches Surren, und das Tor setzte sich in Bewegung. Es öffnete sich weit, sodass ich den langen Pflastersteinweg hochfahren konnte. Ich ließ den Laster in der Obhut eines gelangweilt aussehenden Parkwächters und lief die Marmorstufen zu dem dunklen Holzportal hinauf.

Als Byron Bordell sagte, hatte ich mir ein altes Wildwest-Hurenhaus vorgestellt: Weinrote Velourstapeten, altmodische Lampen mit verzierter Messingfassung und teure Prostituierte, die sich auf samtenen Chaiselongues rekelten. Als ein livrierter Butler die Tür öffnete, war ich angenehm überrascht. Ungeachtet des spießig englischen Äußeren war das Innere eingerichtet wie ein Heim aus Schöner Wohnen. Lange helle Läufer schützten die Hartholzböden und die geschwungene Treppe. Die Wände waren in äußerst modernem Weiß gestrichen, und Punktstrahler setzten die aufgehängte Kunst ins richtige Licht.

„Madam wird jeden Augenblick für Sie da sein, Madam“, erklärte mir der Butler. Ich erwartete fast einen Trommelwirbel nach seiner Begrüßung. Sein Gesicht blieb humorlos, als ob er sein eigenes Wortspiel nicht bemerkt hätte.

Ich entspannte mich und wanderte langsam durch das Foyer. Zu beiden Seiten hinderten mich große Doppeltüren an weiteren Erkundungen, aber der breite Gang, der sich hinter der geschwungenen Treppe erstreckte, schien öffentlicher Raum zu sein. Ich schlenderte mit Muße umher und betrachtete die Kunstwerke. Bei einem hohen vergoldeten Bild in einem teuren Rahmen blieb ich stehen.

„Klimt.“

Die heisere Stimme erschreckte mich. Ich wandte mich um. Da stand eine kleine, üppig gerundete Frau mit langen, geschwungenen grauen Locken, die in Wellen über ihre Schultern fielen.

„Ja, ich weiß“, sagte ich. „Das ist doch nicht das Original, oder?“

„Und ob es das ist!“ Ich konnte nicht sagen, ob sie pikiert über meine Frage war oder über die Maßen stolz auf ihren Besitz.

Lächelnd versuchte ich meinen Fauxpas zu korrigieren. „Mein früherer Schöpfer besaß jede Menge Kunst, aber es waren alles Fälschungen, daher finde ich jetzt fast alles verdächtig.“

„Ach, Mist, Schätzchen, das kümmert mich doch gar nicht.“ Die Frau kam auf mich zu und stellte sich neben mich. Sie zog eine Packung Zigaretten aus dem Ärmel ihres wallenden Kaftans. „Wenn es eine Fälschung wäre, würde ich es dir sagen.“

„Ich wollte Sie nicht beleidigen.“ Obwohl meine Entschuldigung sie wahrscheinlich eher beleidigte als mein Patzer. Etwas in ihrer Körpersprache ließ darauf schließen, dass sie ihr Leben zur heuchelfreien Zone erklärt hatte.

Die Augen der Frau leuchteten mit einem Funken Amüsement auf. „Habe ich Sie richtig verstanden? Sagten Sie ‚früherer Schöpfer?‘“

Das war ein dummer Fehler. „Ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen.“

Ein wissendes Lächeln zeigte sich in ihren Augenwinkeln. „Weil ich ihn nicht gesagt habe. Ich bin March. Sie würden mich den Zuhälter nennen, aber wir sagen ‚Madam‘, weil es vornehmer klingt. Machen Sie sich keine Sorgen über Ihren kleinen Ausrutscher. Ich mag Geheimnisse. Solange Sie mir keinen Ärger auf meinem Anwesen machen.“

Ich räusperte mich und sah an die hohe, gewölbte Decke. „Ihr Haus ist wunderschön.“

„Danke. Aber Sie sind nicht hergekommen, um sich das Haus anzusehen.“ Sie drohte mir mit gekrümmtem Zeigefinger und wandte sich zu den Türen. „Möchten wir heute ein flüssiges Mittagessen, oder sind wir nur für ein bisschen Spaß hier?“

„Ich brauche Blut.“ Hilflos spreizte ich die Hände. „Wie immer Sie das nennen.“

„Ich nenne es Ihren Glückstag.“ Mit verschrobener großer Geste öffnete sie die Tür zu meiner Linken.

Vielleicht hatte ich in Sachen der Einrichtung falsch gelegen, aber was die Klasse der Prostituierten anbelangte, hatte ich ins Schwarze getroffen. Wo ich auch hinsah, überall drapierten sich hinreißende Männer über ultramaskuline Ledermöbel. Angesichts der Vielfalt gingen mir die Augen über. Dunkle, Blonde, langhaarig oder adrett kurz geschnitten, manche fast androgyn, andere übermäßig muskulös gebaut.

„Suchen Sie sich einen aus“, sagte March stolz. „Dies sind die Spender.“

„Nun …“ Ich deutete zum Foyer, wo der Butler mit meiner Tasche stand. Eine von Nathans vielen nützlichen Regeln lautete: Sei immer vorbereitet. In meiner Tasche hatte ich alles, was man brauchte, um einem willigen Spender Blut abzunehmen. Keine Ahnung, wie ich einen finden wollte, wenn ich ihn brauchte, aber ich war vorbereitet.

„Ich bin nicht gerade … konventionell“, erklärte ich March. Ich biss mir auf die Lippe und musterte jeden einzelnen Mann.

Die Madam lachte. „Sie können nichts tun, was die schockieren würde.“

„Nein, ich meine, ich beiße nicht.“ Ich trat einen Schritt vor und räusperte mich. Viele neugierige männliche Augenpaare waren auf mich gerichtet. „Ich suche jemanden, der keine Angst vor Nadeln hat.“

Es gab eine spürbare Veränderung in der Atmosphäre des Raums. Ein paar der Männer schauten weg, als wären sie ganz plötzlich von den Wänden fasziniert. Der Rest sah besorgt oder amüsiert aus. Oder beides.

„Nichts Schmutziges“, versicherte ich ihnen. „Ich brauche nur Blut.“

„Warum beißt du uns nicht?“, fragte ein großer schlanker Model-Typ.

„Wie bitte?“ March stemmte die Hände in die Hüften und harkte mit einem bösen Blick durch die Männer. „Bezahle ich euch, damit ihr meine Klientinnen ausfragt?“

Ein paar von ihnen knurrten ein widerstrebendes Nein.

„Ich kann euch nicht hören“, setzte March nach und hob ihre Hand ans Ohr.

Über den Chor der folgenden Antworten erhob sich eine einzelne Stimme. „Ich mach’s.“

Als ich den Inhaber der Stimme ausgemacht hatte, tat mein Magen einen Satz. Vielleicht hatte ich doch gelogen, als ich „nichts Schmutziges“ sagte. Der Kerl war atemberaubend, mit langen blonden Haaren und einer Bräune, die Ikarus vor Neid beweint hätte. Er trug kein Hemd, und seine ausgeblichenen Jeans hingen locker und recht tief um seine Hüften.

Mit trockenem Mund bedeutete ich ihm, näher zu kommen. „Welche Blutgruppe haben Sie?“

Er lachte. „Das ist ein Scherz, oder?“

„Nein. Ich habe darüber Forschungen betrieben“, erklärte ich und kam mir vor wie ein hoffnungsloser Klugscheißer. Dann fragte ich mich, warum es mir etwas ausmachte, ob irgendeine austauschbare Männerhure mich für Dr. Seltsam hielt. Ich wischte mir meine vor Aufregung feuchten Handflächen an den Jeans ab und fuhr fort. „Vampire sind imstande, das Blut, das sie trinken, effizienter zu metabolisieren, wenn der Spender die gleiche Blutgruppe hat wie sie, bevor sie Vampire wurden. Mit metabolisieren meine ich …“

„Ich weiß, was metabolisieren bedeutet“, sagte er mit einem Lächeln, bei dem mir die Knie weich wurden. „Ich habe Null-Positiv. Universalspender.“

„Ich glaube, ihr zwei werdet prima zurechtkommen“, verkündete March, trat vor und schlang einen Arm um die breiten Schultern des Mannes, obwohl der Größenunterschied zwischen ihnen gut dreißig Zentimeter betrug. „Unglücklicherweise müssen wir noch die Banalitäten des Geldtransfers und der Regeln klären. Wollen wir das unter vier Augen tun?“

„Warum nicht?“ Ich folgte March und dem Halbgott ins Foyer, wo ich stehen blieb. „Ich brauche meine Tasche.“

Der Butler war nicht geneigt, sie herzugeben. „Nachdem ich sie durchsucht habe, Madam. Danach bringe ich sie auf dem schnellsten Wege in Ihr Zimmer.“

March zwinkerte mir zu. „Es ist nur eine Formalität. Wir hatten hier schon spannende Gäste, nicht wahr, Evan?“

„Ja, Madam.“

Evan? Er sah mir mehr wie … Tarzan aus.

Noch immer von den männlichen Schönheiten beeindruckt, folgte ich ihnen die Treppe hinauf. March ließ sich Zeit und erläuterte mir die Geschichte des Bauwerks. „Dieses Haus wurde mir von meinem seligen Gatten Edgar hinterlassen, Gott schenke seiner Seele Frieden. Ich habe seit unserer Heirat darin gelebt, bis ich es 1973 hierher verlegen ließ.“

Am oberen Ende der Treppe berührte sie liebevoll die Wand. „Ich habe es Stein für Stein von Massachusetts hierher bringen und wieder aufbauen lassen, dann folgten Modernisierung und Renovierung. Natürlich würde Edgar sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, wie ich es nutze. Der Gute, er konnte sich für heterosexuellen Sex nie recht begeistern.“ Sie seufzte und zeigte dann auf einen Gang zu unserer Rechten. „Ich bringe Sie dort unter.“

Selbst Cyrus’ Herrenhaus in all seiner Grandezza konnte nicht mit der Pracht dieses Gebäudes mithalten. Vor der siebten Tür zur Linken – zumindest glaube ich, es war die Siebte, aber ich könnte mich verzählt haben – blieben wir stehen, und March zog einen kleinen goldenen Schlüssel aus ihrem Ärmel.

„Es gibt neunundzwanzig legale, genehmigte Bordelle in Nevada, und wir sind das einzige, das Vampire bedient. Es gibt automatische Stahljalousien in jedem Raum, und ich meine jeden Raum dieses Hauses, um die Sonne auszusperren. Es gibt auch einen Bereitschafts-Arzt, falls Ihre Party ein bisschen aus dem Ruder läuft.“

„Ich bin selbst Ärztin“, erwiderte ich und fühlte den vertrauten Stachel in meinem Stolz, als eine innere Stimme mich verbesserte: Du meinst, das warst du mal.

March schien von dieser Eröffnung beeindruckt zu sein, und ich fühlte, dass wir irgendwie verwandte Geister waren. Wir waren beide werktätige Frauen, die kämpften, um in einer Männerwelt durchzukommen.

Andererseits war Prostitution weitgehend eine Frauendomäne.

Das Funkeln der Bewunderung verschwand aus ihren Augen, und sie winkte ab. „Wie dem auch sei, ich will gar nicht, dass es so weit kommt. Sie scheinen ein nettes Mädchen zu sein. Ich will Sie nicht auf meine schwarze Liste setzen müssen, klar?“

„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Ich musterte Evan. Vampire mögen stärker sein als Menschen, aber ich hätte gewettet, dass Evan mir etwa fünfzig Pfund felsenharter Muskeln voraus hatte. Er sah aus, als könnte er mir mühelos einhändig das Rückgrat brechen, und March sorgte sich um seine Sicherheit? „Was ist mit Geld? Sie sagten, wir müssten die Bezahlung regeln.“

„Sie können es mir bei Morgengrauen anvertrauen. Das Zimmer kostet regulär zweihundert Dollar am Tag. Die Servicepreise müssen Sie mit Evan verhandeln.“ March stieß die Tür auf und öffnete einen so prächtigen Raum, dass er das Cover eines Möbelmagazins hätte zieren können. In der Mitte stand auf einem erhöhten Podest ein ultramodernes Himmelbett, lackiert in glänzendem Schwarz. Die Bettwäsche nahm das makellose Weiß des Teppichs auf, das in Abständen von schwarzen Ledersesseln und schimmernden Ebenholztischchen gebrochen wurde. Der einzige bunte Farbtupfer im Raum war eine Vase mit leuchtend rosa Tulpen auf dem Nachttisch.

Gute Sache, etwas Spielraum im Budget zu haben.

„Und noch eins“, sagte sie, als Evan und ich über die Schwelle traten. „Sie sind vielleicht unsterblich, aber die sind es nicht. Alle meine Jungs müssen sich schützen, ohne wenn und aber, ist das klar?“

„Oh, wir werden nicht …“ Das sanfte, jetzt seltsam anzügliche Schließen der Tür ließ mich abbrechen.

„Wir werden nicht?“ Der Halbgott – Evan – klang tatsächlich enttäuscht. Seine Körperwärme drang auf mich ein, als er vortrat und seine harte Brust an meinem Rücken rieb.

Ich drehte mich und sah ihn an. „Wünschen Sie sich denn nie eine Nacht Pause?“

Ein verschmitzt genüssliches Lächeln wanderte über sein Gesicht. „Nein. Normalerweise nicht.“

In diesem herzerweichenden Augenblick erinnerte er mich so heftig an Cyrus, dass ich nicht atmen konnte. Oh, er war wesentlich kräftiger gebaut als mein erster Schöpfer und außerdem tief gebräunt. Cyrus war mager und blass gewesen, das Haar heller als Evans, fast weiß. Aber ihre Ausstrahlung war nahezu identisch: eine gefährliche Sinnlichkeit, in die sich Verzweiflung mischte, so scharf, dass sie mir ins Herz schnitt.

Ich hätte blind sein müssen, um das nicht zu erkennen: Genau wie Cyrus erstickte Evan seine Einsamkeit mit der Gewissheit körperlicher Befriedigung. Sein Pech war, dass er weniger Macht über meine Libido hatte, als er annahm.

Ein sanftes Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Ich wurde knallrot, als ich merkte, dass ich den Mann vor mir die ganze Zeit unverblümt anstarrte. Mit Sicherheit hielt er meine stille Betrachtung für sprachloses Verlangen. Und so war ich über die Störung richtig froh.

„Ihre Tasche, Madam“, intonierte der Butler mit einer trockenen Note des Missfallens, als er die Tür öffnete.

Wie kam so ein verknöcherter alter Kerl dazu, ausgerechnet in einem Bordell zu arbeiten? „Danke, stellen Sie sie einfach ab.“

Wieder allein mit meinem hünenhaften Mannsbild von Spender, atmete ich tief ein.

„Setzen Sie sich bitte und …“, ich brach ab. „Tja, aus reiner Gewohnheit wollte ich sagen, krempeln Sie bitte den Ärmel hoch, aber das erübrigt sich ja.“

„Ich könnte etwas anderes aufkrempeln“, bot er an und ließ sein Jägergrinsen aufblitzen.

„Nein, so ist es gut. So nackt, wie Sie sind, komme ich gerade noch damit zurecht.“ Ich langte in meine Tasche und förderte einen Spiralschlauch, einen Auffangbeutel sowie eine Butterfly-Kanüle und antiseptische Tupfer zutage. Ich legte mir meine Utensilien bereit wie für eine Folterkammerszene und hoffte, dass zumindest jetzt seine selbstsichere Haltung ins Wanken geriet.

Doch er zuckte nicht mit der Wimper. Vielmehr lehnte er sich bequem im Stuhl zurück und richtete seinen Arm in einer Linie mit der Armstütze aus. „Das ist mein guter Arm.“

Ich beäugte die dicke blaue Vene mit klinischem Interesse, aber mein knurrender Magen verriet meine Absicht. „Wird Ihnen oft Blut abgezapft?“

„Das muss sein, bei meiner Art von Arbeit.“ Er griff nach einem Päckchen Alkoholtupfer und riss es auf. Während er seine Armbeuge großzügig mit Alkohol bestrich, zuckte er die Achseln. „Wir müssen uns regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten untersuchen lassen, sonst verlieren wir unsere Lizenz.“

„So. Was ist dann mit Ihren Kollegen los, dass sie sich so fürchten? Ich meine, werden sie lieber von einem Vampir gebissen als mit einer kleinen Nadel gepiekst?“ Ich machte mich daran, den Schlauch mit dem Auffangbeutel zu verbinden.

„Das hat damit nichts zu tun, glaube ich.“ Evan streckte die Beine aus, und ich konnte nicht umhin, zu bewundern, wie lang sie waren. „Wir haben viele Kunden hier, und das sind nicht alles Säulen der Vampirgemeinde. Oder vielleicht gerade, und das ist ihr Problem. Mit der Zeit machen hier alle ihre Erfahrungen, und wir trauen Vampiren, die Requisiten mitbringen, generell nicht.“

Ich machte ein verständnisvolles Geräusch und wickelte einen Gummistreifen um seinen Bizeps. Darüber, was für Arten verworfener Torturen diese Jungs ausgesetzt gewesen waren, wollte ich gar nicht nachdenken. „Und warum trauen Sie mir?“

Evan lachte. Ein voller samtener Klang, der mein Rückgrat hinunter vibrierte. „Weil du harmlos und verdammt gut aussiehst.“

„Na, klar.“ Ich konnte mein erschöpftes Lachen kaum bändigen. „Ich fahre durch das Land, ohne zu duschen, mit rationierter sauberer Unterwäsche, und die letzten Tage habe ich in einem Laster geschlafen. Du musst dir schon was Besseres einfallen lassen, bevor ich dich für deine Komplimente mit meinem hart verdienten Geld überschütte.“

„Ich lüge nicht“, sagte er mit einer Ernsthaftigkeit, die nicht geübt genug klang, um geheuchelt zu sein. „Du bist weder mit verrücktem Make-up bekleistert, noch ganz in schwarz gekleidet wie der Rest der Kundschaft. Du darfst mich umsonst beißen.“

Das war sicher eine sehr verlockende Aussicht, besonders für meine Biestseite. Eine kurze Vision von mir unter seinem harten Körper, während ich meine Zähne in seinen Hals versenkte, huschte durch meinen Geist. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden.

„Also, wie viel kannst du liefern?“, fragte ich und verbannte alle unreinen Gedanken.

„Wovon? Sex oder Blut?“

„Es wird keinen Sex geben“, sagte ich halb zu mir, halb zu ihm.

„Komm schon“, drängte er und ließ seine Hand über meinen Arm gleiten. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich nicht langweilst, den ganzen Tag hinten im Laster.“

Es war eine Spur Bedürfnis in seiner Stimme. Dieser Mann wollte etwas von mir. Und es gab nur eines, was Menschen von Vampiren wollten. Verwandelt werden.

„Nein“, sagte ich leise. „Ich langweile mich nicht.“

Den ganzen Tag wurde ich von Albträumen wach gehalten. Sobald die Sonne aufging, füllte sich mein Kopf mit Nathans Schreien. Und Cyrus war irgendwo da draußen in der Wüste, und ich musste ihn finden, bevor sein Vater ihn in die Finger bekam. Keine Chance, mich zu langweilen.

Mit einem ärgerlichen Seufzer stach ich die Nadel in Evans Vene, während er sich eine neue Taktik zurechtlegte. „Und kein noch so charmantes Geplänkel wird dir heute Nacht zur Verwandlung verhelfen.“ Mein Kopf hämmerte. Körperliche und geistige Erschöpfung überwältigten mich. „Gibt es hier ein Bad? Ich muss wirklich den Straßenschmutz loswerden.“

Evan deutete auf eine Tür.

Erleichtert betrat ich das weitläufige Marmorbadezimmer und drehte die Hähne auf, um die Wanne zu füllen. Ich würde Evan abzapfen, was ich brauchte, ihn dann bezahlen, zur Hölle schicken und ein schönes, warmes Bad nehmen.

Müde lehnte ich die Stirn gegen das kühle Glas des Spiegels über dem Waschbecken und nahm einen tiefen Atemzug, der mich auf das Senken meines Schutzschildes und das Öffnen der Blutsbande vorbereiten sollte. Sobald ich das getan hatte, war Nathan da, genauso verzweifelt und schreiend wie immer in den letzten Tagen. Aber da war noch eine Präsenz. Eine, die ich nicht mehr gefühlt hatte seit jener Nacht, in der Nathan mir sein Blut in die Kehle goss, während ich bewusstlos auf der Straße lag.

Das muss ein Fehler sein.

Der Dampf des einlaufenden Wassers wurde schrecklich drückend, und ich rang automatisch nach Luft. Mit zitternder Hand wischte ich mir das feuchte Haar von der Stirn. Es war kein Fehler. Es war eine Strafe, die das grausame Schicksal für mich ausgeheckt hatte.

Der Klang kam von ihm. Ein einzelnes Herz schlug vernehmlich in seiner menschlichen Brust und übertönte den Lärm von Nathans Qualen, als meine beiden Schöpfer in meinem Kopf um die Vorherrschaft rangen.

Ich packte die Kante der Marmorplatte so fest, dass ich erwartete, Furchen im Stein zu hinterlassen. Als ich ausatmete, drang mit Gewalt ein einziges Wort aus meinem Mund.

„Cyrus.“

Dann stürzte ich, und ich spürte nicht mehr, wie ich am Boden aufschlug.