15.
KAPITEL
Der Schlüssel
Ohne Carries ausufernde Sammlung an medizinischen Lehrbüchern hätte Bella sicher nicht mal eine Stunde nach Sonnenaufgang überlebt.
Und das wollte etwas heißen, wenn man bedachte, wie knapp Max die Zeit bis zum Sonnenaufgang bemessen hatte. Der Laster schlitterte, als er am Straßenrand vor der Wohnung scharf abbremste, während das Morgenlicht sich schon wie eine tödliche Welle in der Straße ausbreitete. Ohne große Rücksicht zog er ihren Körper vom Beifahrersitz und stürzte in den schattigen Schutz des zurückgesetzten Eingangs.
Keine Sekunde zu früh, dachte er reumütig, als er seine verbrannte Schulter mit einer antiseptischen Lösung bestrich. Das verletzte Gewebe fing schon an zu verheilen, und die meisten Viren und Bakterien konnten Vampiren nichts anhaben. Doch die kühle Flüssigkeit linderte etwas den Schmerz der Verbrennungen.
Mit einem besorgten Blick zu der Werwölfin auf der Couch, legte er den Wattebausch und das Fläschchen mit der Lösung zur Seite und griff nach einem der aufgeschlagenen Medizinbücher auf dem Sofatisch. Er hatte die Blutung der tiefen Wunden, die Nathan ihr verabreicht hatte, stillen können, aber Werwölfe heilten viel langsamer als Vampire, fast so langsam wie Menschen. Einige der Verletzungen mussten genäht werden, und da kein Arzt anwesen war, musste Max diesen Job übernehmen.
Wenigstens war sie eingeschlafen. Es ersparte ihm das unvermeidliche Frauengekreische, das er aushalten müsste, wenn er sie bei vollem Bewusstsein verarztet hätte.
Wenn er ehrlich war, dann musste er zugeben, dass er in Wirklichkeit vor etwas anderem Angst hatte: der Vorstellung nämlich, sie würde mitbekommen, wie er umkippte, wenn er zum ersten Mal versuchte, eine Nadel durch ihr Fleisch zu stoßen.
Max nahm einen Schluck von der Flasche Scotch, die Nathan nicht gut genug versteckt hatte. Er erhob sich und näherte sich der bewegungslosen Gestalt von Bella.
Im Schlaf sah sie nicht halb so zickig aus wie im Wachzustand. Aber das konnte auch an dem Blutverlust liegen. „Okay, saubere Handtücher, dieses Angelschnur-Zeugs, eine …“ Er unterdrückte eine Welle von Übelkeit. „Eine Nadel und die antiseptischen Tücher aus dem Erste-Hilfe-Koffer. Ich denke, wir können loslegen.“ Die seltsame Pinzette, mit der der Kerl auf dem Bild die Nadel hielt, hatte er nirgends finden können. Doch so schwer konnte es ja nicht sein, die Nadel nur mit den Fingern zu halten.
Entschlossen kniete er neben der Couch nieder und griff nach ihrem Knöchel. Wäre sie bei Bewusstsein, hätte sie wahrscheinlich jetzt einen Pflock in sein Herz getrieben, weil er es gewagt hatte, sie zu berühren. Sie konnte von Glück reden, dass sie sich hatte lebensgefährlich verletzen lassen, während er in hilfsbereiter Stimmung war.
Am Knie war das Bein ihrer Lederhose ähnlich zerfetzt wie das Fleisch, das normalerweise das Knie umgab. Er packte die Flasche mit Jodtinktur und spritzte das Zeug großzügig in die aufgerissene Wunde.
„Tötet alles ab, was da aus Versehen reingekommen ist“, sagte er, und kam sich im nächsten Moment wie ein Idiot vor, weil er einer halbtoten Werwölfin versuchte, etwas zu erklären.
Die hochstehenden Kanten des zerfetzten Leders schlug er zurück, damit er besser an die Verwundung kam. Dann wurde ihm klar, dass die Hose ganz weg musste. Und dann kam er sich total pervers vor.
Zuerst ging er noch ganz zivil vor und kämpfte geduldig mit der Küchenschwere, aber gegen das Leder kam er nicht an. Irgendwann wurde ihm klar, dass er wahrscheinlich eher mit der Schere abrutschen und sich selbst oder sie stechen würde als auch nur ein paar Zentimeter in das dicke Leder zu schneiden. Er packte das ruinierte Material und riss es auseinander, sprengte die Naht bis hoch zur Taille. Noch einmal ziehen, und ihr Bein war nackt von der Hüfte bis zu ihren Zehen.
Gütiger Himmel, sie trug schwarze Seidenunterwäsche.
Zur Stärkung nahm er noch einen Schluck Scotch, der hoffentlich auch den Teufel in seiner sündhaften Seele ersäufte. Da lag sie, praktisch tot und noch nicht mal von seiner Spezies, und er hatte nur Augen für ihre gebräunte Haut, die sich über der weich gerundeten Hüfte spannte.
Max biss die Zähne zusammen, zog ihr den Rest der Hose von dem unverletzten Bein und warf das zerrissene Kleidungsstück zur Seite. Er legte ihren Fuß gegen seine Brust und warf einen Blick in das Buch. Die Illustrationen konnte er noch so oft anstarren, er würde sich nie für diese Operation gewappnet fühlen. Also riss er die sterile Packung auf und fädelte den Nylonfaden durch die Nadel. Er holte tief Luft und machte sich an die Arbeit.
Am Anfang waren seine Stiche noch unbeholfen und unregelmäßig, doch bald arbeitete er in einer Art Rhythmus, presste die Wunde zusammen, stieß die Nadel durch die Ränder und zog dann den Faden straff. Schon nach kurzer Zeit war die Nadel nass von dem Blut und von seinem Schweiß, und sie glitt ihm immer wieder aus den Fingern. Eine Pinzette, wie sie auf den Illustrationen abgebildet war, hätte ihm geholfen, aber soweit er es einschätzen konnte, machte er die Sache auch so ganz gut. Inzwischen war er so in seine Aufgabe versunken, dass ein Flugzeug über dem Haus hätte abstürzen können, und er hätte nichts davon bemerkt.
„Nicht schlecht.“
Beim Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen, und sie zischte, als die Nadel in das aufgerissene Fleisch ritzte.
„Erschreck mich nicht!“ Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und warf ihr einen bösen Blick zu. Dann sah er, wie schlecht es ihr ging, und sein Ärger verflog sofort.
Der goldene Ton ihrer Haut war einem aschfahlen Grau gewichen, und Schweißtropfen sammelten sich auf ihrer Stirn. Die Lippen hatte sie fest zusammengebissen, ihr Körper war vollkommen steif.
„Ich dachte, ein bisschen positives Feedback könnte nicht schaden.“ Ihre Stimme klang heiser, als hätte sie eine Handvoll Sand geschluckt, aber sie verzog ihre bleichen Lippen zu einem winzigen Lächeln.
„Du siehst gar nicht gut aus.“ Er konzentrierte sich auf die Wunde und stach vorsichtig mit der stählernen Nadelspitze durch ihre Haut. Dabei versuchte er, ihre unterdrückten Schmerzensschreie zu ignorieren, doch es gelang ihm nicht.
Zwischen unregelmäßigen Atemzügen stieß sie hervor: „Dafür kannst du dich bei deinem reizenden Freund bedanken.“
„Weil du verletzt bist, habe ich das überhört. Und ich erwähne jetzt auch nicht, dass du mich heute Abend schon töten wolltest.“ Etwas heftiger als nötig zog er an dem Faden, um seine Worte mit einem gewissen Nachdruck zu unterstreichen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Knöchel der Faust, mit der sie sich an der Couch festklammerte, weiß wurden. „Du hast viel Blut verloren. Wenn ich hier fertig bin, dann mache ich alles fertig für eine Transfusion.“
„Du weißt, wie das geht?“, fragte sie, und im seltsamen Singsang ihrer Stimme war Überraschung zu hören.
Max schaute hoch und verdrehte die Augen. „Ich bin ein Vampir. Leuten Blut zu verabreichen, gehört zu unseren Spezialitäten.“
„Ich dachte, eure Spezialität ist es, den Leuten Blut abzunehmen.“ Sie rieb sich den Hals und wirkte leicht erschrocken, als sie feststellte, dass die Wunde mit einem Pflaster überklebt war. „Aber er hat mich nur einmal gebissen.“
„Vielleicht steht er nicht auf den Geschmack von Hund.“ Max schob die Nadel wieder durch ihr Fleisch und zuckte zusammen, als sie einen Schmerzenslaut von sich gab.
„Du machst es absichtlich so, dass es noch mehr wehtut“, sagte sie anklagend. Hätte sie nicht so hilflos geklungen, dann hätte er ihr gezeigt, wie es sich anfühlte, wenn er ihr wirklich mit Absicht Schmerzen zufügen wollte.
Stattdessen reichte er ihr den Scotch. „Brauchst du eine Pause?“
Sie legte den Kopf zurück, leerte die Flasche und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Ihre Züge nahmen einen entschlossenen Ausdruck an. „Bringen wir’s hinter uns.“
Max wollte sich von den vereinzelten Schmerzensschreien ablenken, die sie nicht zurückhalten konnte, und er wollte auch sie auf andere Gedanken bringen, deshalb stellte er ihr Fragen. „Also, wie ist das eigentlich passiert?“
„Ich hab mir den Tipp deiner Freundin zu Herzen genommen und die Friedhöfe überprüft.“ Bella krallte sich an der Rückenlehne des Sofas fest, als wolle sie darüberklettern, um von ihm wegzukommen.
„Bleib ruhig. Wenn ich dir durch die Wohnung hinterherjagen muss, dauert es noch länger, bis wir damit fertig sind.“ Er holte tief Luft und bewegte seinen Kopf, um die steifen Nackenmuskeln etwas zu entspannen. „Und Dahlia ist nicht meine Freundin.“
„Auf jeden Fall war es kein schlechter Tipp.“ Sie verzog bedauernd das Gesicht. „Theoretisch. Ich dachte schon, dass ich ihn erwischt habe. Mir kam es erst so vor, als ob er ganz bei Sinnen war. Dann habe ich kapiert, dass er nicht mit mir redet, sondern mit jemandem, der gar nicht da war.“
„Er hat geredet?“ Max drehte sich der Magen um. Wenn Nathan einfach verrückt geworden war, dann gab es keine Rettung für ihn. Es existierte nur eine Institution, die sich Vampiren annahm, die den Verstand verloren hatten, und die Bewegung würde wahrscheinlich keinen ausgeflippten Vampir zurück in ihren Reihen begrüßen.
Bella nickte, und als sie ausatmete, zitterten ihre Lippen. „Eine ganze Weile lang. Danach hat er sich vollkommen verändert.“
„Er ist ein Vampir geworden?“ Max warf den Kopf nach hinten, um die Strähnen aus seinen Augen zu schütteln, dabei verwandelte er sein Gesicht ganz kurz in seine Vampirfratze.
Ihre Augen blitzten, ein Funken Wut glomm in ihren Pupillen auf. „Lass das bleiben. Und nein, er sah immer noch wie ein Mensch aus.“
Max schaute zweifelnd auf ihr zerfetztes Bein. „Nathan hat dir das in seiner normalen Gestalt angetan?“
„Das Bein hat er mit dem Pfeil erwischt, den ich auf ihn abgefeuert hatte.“ Sie hob die Schultern. „Treffsicherheit war nicht meine Stärke in der letzten Nacht.“
„Du hättest aufhören sollen, als du noch vorne gelegen hast.“ Die Wunde war fast ganz geschlossen. Jetzt musste er nur noch die Fäden verknüpfen. „Glaubst du immer noch nicht, dass er besessen ist?“
Es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. „Ich gebe ungern zu, dass ich unrecht …“
„Du lagst voll daneben.“
Beleidigt verzog sie den Mund. „Ich hatte unrecht. Und ja, ich glaube dir. Als er mich angegriffen hat, wusste er nicht, was er tat.“
Vorsichtig ließ Max ihr Bein auf die Couch gleiten. „Von meiner Position sieht es so aus, dass dir zwei Möglichkeiten bleiben.“
„Da bin ich ja mal gespannt.“ Sie kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ein schiefes Grinsen erschien auf seinen Lippen, als er den Protest in ihrem schweißgebadeten, bleichen Gesicht sah. Wenn sie ihn noch so nerven konnte, dann war sie wohl doch nicht ganz so übel zugerichtet. „Also, du kannst dich entweder mit mir zusammentun und herausfinden, was mit Nathan vor sich geht …“
„Und damit der Bewegung abschwören.“
Am liebsten hätte er sie angeknurrt, aber er ließ es lieber. Wer weiß, bei ihrer Spezies wurde das vielleicht als Vorspiel interpretiert. „Gott, was Schlimmeres könnte uns ja wirklich nicht passieren. So wie ich das sehe, werden sie nur mich töten. Was sollen sie schon mit dir machen? Dich rauswerfen?“
„Stimmt, ein Punkt für dich.“ Ihre Augen waren schmale Schlitze. „Die zweite Möglichkeit?“
„Du kannst hier bleiben, bis ich die Situation unter Kontrolle habe. Deine Entscheidung.“ Er stand auf und streckte sich, ließ ihr Zeit, damit sie seine subtile Drohung einen Moment verdauen konnte.
Doch leider reagierte sie nicht so, wie er gehofft hatte, und im Nachhinein musste er zugeben, dass es naiv von ihm gewesen war, anzunehmen, sie würde sich einfach so auf seine Seite schlagen.
„Und wie willst du mich hier gegen meinen Willen festhalten?“ Sie warf ihm einen bösen Blick zu. „Irgendwann musst auch du einmal schlafen.“
Max griff in seine hintere Hosentasche und zog die Handschellen hervor, die er dort verstaut hatte. Auf der Suche nach einem Erste-Hilfe-Koffer hatte er sie in Nathans Flurschrank gefunden, und obwohl er erst gar nicht darüber spekulieren wollte, warum so etwas überhaupt dort herumlag, war er doch froh, dass er sie entdeckt hatte.
Ihre Augen weiteten sich, als er die glänzenden Fesseln von seinem Zeigefinger baumeln ließ.
„Du darfst dir sogar aussuchen, wo ich dich festbinde, Baby.“
„Ich zerreiß dich in Stücke“, drohte sie, und die letzten Worte kamen mit einem tiefen Knurren aus ihrer Kehle.
„Böser Hund“, ermahnte er sie und ließ die Handschellen um seinen Finger kreisen. „Du wirst nichts dergleichen tun. Zumindest nicht in diesem Zustand.“
Er rechnete damit, dass sie ihm die Hölle heißmachte, freute sich sogar darauf, dass sie ihn angiftete, aber sie schloss nur die Augen und strich sich mit einem erschöpften Stöhnen über die Stirn. „Du hast recht. Ich kann nicht gegen die kämpfen. Noch nicht.“
„Also, nehme ich an, du wählst Möglichkeit Nummer zwei?“ Er seufzte. „Vergiss nicht, es ist deine Wahl.“
„Vergiss du nicht, dass noch eine Vollmondnacht vor uns liegt. Vielleicht halte ich mich dieses eine Mal nicht an den Kodex meines Volkes.“ Purer Hass klang aus ihren Worten.
Entschieden schüttelte er den Kopf. „Tut mir leid, Süße. Max Harrison wird nicht als Hundefutter aus dem Leben scheiden.“
Wenn Blicke töten könnten, dann hätte sie ihm jetzt einen hölzernen Pflock ins Herz gebohrt. „Ich würde dich auch nicht fressen. Dein Fleisch schmeckt nach Aas.“
„Sie meinen wohl Ihr Fleisch, Lady“, sagte er höhnisch und legte die Hand auf sein Herz.
Entschlossen streckte sie ihm ihre Handgelenke entgegen. „Bitte in der Nähe der Toilette.“
Max ließ die Handschellen wieder in der Hosentasche verschwinden und trat vor die Regale auf der anderen Seite des Raums. „Ich schließe dich erst an, wenn ich mich zum Schlafen hinlege.“
„Und was hast du bis dahin vor?“ Es klang nicht so, als ob es sie wirklich interessierte, was er tun wollte. Eigentlich klang es eher so, als ob sie sich mit ihm streiten wollte.
Aber Max ließ sich nicht auf einen Disput ein. „Ich will mir Nathans Bücher anschauen. Vielleicht finde ich einen Hinweis darauf, was mit ihm vor sich geht. Und ob es, wovon auch immer er besessen ist, irgendetwas mit den Plänen des Souleaters zu tun hat.“
„Der Souleater?“ Wie alle Vampirjäger der Bewegung, die noch nie leibhaftig mit dem Mann zu tun gehabt hatten, sprach sie seinen Namen mit der gebotenen Ehrfurcht aus. „Hat dein Freund denn irgendeine Verbindung zum Souleater?“
Max stellte ein Buch über Heilkräuter zurück ins Regal. „Also, na ja, Nathan ist sein Zögling. Machen die Vampirjäger im alten Europa denn keine Hintergrundrecherche mehr?“
„Ich stelle keine Fragen. Sie haben mir einen Exekutionsbefehl gegeben, mit der Anweisung, ihn sofort auszuführen.“ Immerhin schien es ihr ein bisschen peinlich zu sein, dass sie dieses wichtige Detail übersehen hatte.
„Nun, wenn du mich mal gefragt hättest, anstatt sofort loszuballern, dann hätte ich dir so einiges erzählen können. Der Souleater will ein Gott werden, und wir denken, dass dieser Plan etwas damit zu tun hat, dass sein Sohn erst vor kurzem von den Toten wiedergekehrt und sein Zögling durchgeknallt ist.“ Er schwieg eine ganze Weile, damit sie diese Informationen verarbeiten konnte, dann setzte er ziemlich befriedigt nach: „Kommt es dir jetzt nicht blöd vor, dass du mich umbringen wolltest?“
„Weiß die Bewegung darüber Bescheid?“
„Nicht, dass ich wüsste. Sie haben uns ins Flugzeug gesetzt, bevor wir es selbst überhaupt begriffen haben. Das Orakel hat es Carrie gesagt.“ Noch ein Kräuterbuch. Entweder war Nathan ein leidenschaftlicher Kiffer oder er glaubte wirklich an diesen ganzen New-Age-Kram.
„Das Orakel?“ Bellas Stimme war leise, sie klang fast ängstlich.
Max drehte sich zu ihr um, schob dabei die Daumen in die Gürtelschlaufen. „Ich wollte dich nicht beunruhigen. Aber hier ist der Deal: Du hilfst mir, Nathan zu finden, und ich vertraue dir, dass du dich nicht davonmachst. Wenn wir ihn finden und es einen Weg gibt, wie wir ihn von diesem Fluch oder was auch immer heilen können, dann lässt du ihn in Frieden. Wenn wir ihm nicht mehr helfen können, dann kannst du ihn pfählen und die Lorbeeren dafür von Breton kassieren. Ich verzichte in diesem Fall sogar auf mein Honorar.“ Einen Moment dachte sie darüber nach, und Max redete weiter. „Was ist das Schlimmste, was passieren könnte? Du darfst ihn nicht töten. Aber da draußen laufen noch etliche andere Vampire herum, die du dir vornehmen kannst. Und du würdest mir persönlich einen echten Gefallen tun.“
Bella hob die Hand und unterbrach seinen Redefluss. „Ich helfe dir, deinen besessenen Freund zu finden, und ich werde ihn nicht töten, wenn wir ihn gefunden haben. Zumindest nicht, bis wir sicher wissen, dass es keine Hoffnung für ihn gibt.“
„Das“, sagte Max, als eine neue, unerbittliche Entschlossenheit von ihm Besitz nahm, „ist der erste kluge Satz von dir, seit wir uns getroffen haben.“
Kurz vor Sonnenaufgang kam ich in Louden an und parkte den Laster auf dem Parkplatz von ein paar zur Hälfte aufgegebenen, neben der Straße liegenden Geschäften, darunter ein Waschsalon und ein verwahrlost wirkender Ein-Dollar-Laden. Ich schloss die Türen ab, überprüfte noch einmal, ob die Plane zum vorderen Teil auch gut befestigt war, und kroch nach hinten, wo ich auf einem Stapel alter Ausgaben des „Hudson Herald“ und der „Louden Times“ landete. Der Butler hatte Marchs Anweisungen exakt ausgeführt und die Ausgaben von mehr als einer Woche auf den Laster geladen. Ich war versucht, erst mit dem Datum zu beginnen, als Nathan nachts überwältigt worden war, und mich von da an vorzuarbeiten, aber das Medizinstudium hatte mich eines Besseren belehrt. Bei Abkürzungen kam immer noch ein dickes Ende nach.
Ich hatte mich durch einige ziemlich unauffällige, örtliche Ereignisse gekämpft – die Eröffnung eines neuen Walmarts, ein achtundsechzigjähriger Rancher, der in seinem Keller Marihuana angebaut hatte – und schob den Stapel mit den schon gelesenen Zeitungen weg von denen, die ich noch durchgehen musste. Und da, oben auf dem Stapel, in Buchstaben, so groß wie meine Hand, stand das Wort „Feuer!“
Ich überflog die Seite, suchte hektisch nach dem Datum. Drei Tage, bevor ich Nathan verloren hatte.
St. Anne’s Catholic Church am frühen Samstagmorgen niedergebrannt. Drei Kirchenmitarbeiter vermisst.
Ungerufen blitzte das Bild aus meinem Traum vor meinem geistigen Auge auf. Zwei Tote, voller Blut. Ich hatte gedacht, es wäre eine Vorahnung, doch in Wirklichkeit war mein gestresstes Gehirn eifrig dabei gewesen, mich mit furchtbaren Bildern von Ereignissen zu überschwemmen, die gerade stattfanden. In dem Artikel wurden die vermissten Personen erwähnt – ein Priester, eine Nonne und die Gemeindesekretärin, die angeblich alle drei in die Wüste gewandert waren. Es folgte eine unheilvolle Warnung vor der für die Jahreszeit extremen Hitze, die die Chance, dass die drei überlebt haben könnte, gegen Null sinken ließ. Und die vermissten Personen hatten offenbar keinen Alarm geschlagen, als das Feuer ausgebrochen war.
Verwirrt setzte ich mich im Schneidersitz auf die Ladefläche und wusste nicht recht, was ich von der Zeitungsmeldung halten sollte. Für ein verschlafenes Örtchen wie Louden war ein Großbrand natürlich eine wichtige Meldung. Dass drei Leute in der Wüste herumwanderten, obwohl sie eigentlich im Kühlraum der Leichenkammer des Landkreises ruhen sollten, machte die Meldung für mich allerdings interessant. Wenn die Fangs in der Stadt waren, wie hoch standen dann die Chancen, dass die Opfer die Feuerwehr nicht alarmiert hatten, weil sie schon tot waren? Eine Kirche zu zerstören, passte exakt zum Stil der Fangs.
Auf der Suche nach anderen ungewöhnlichen Meldungen las ich weiter, bis ich mich nicht mehr wach halten konnte. Den Kopf auf den Ergebnissen der örtlichen Mädchen-Volleyballmannschaft gebettet, schlief ich ein. Ich weiß nicht, wie lange ich weg gewesen war, als ich von meinem klingelnden Handy geweckt wurde.
„Zu was für einem verdammten Bordell hast du mich da eigentlich geschickt?“, zischte ich, kaum hatte ich die Sprechtaste gedrückt. „Eine männliche Prostituierte wollte mir gestern schon mein Blut stehlen!“
„Ähm … Hier ist Max.“
„Oh.“ Ich hatte einen Anruf von Byron erwartet, der sich an meinen Erlebnissen ergötzen oder mir noch mehr wertvolle Ratschläge für die Reise geben wollte. „Wie sieht es bei dir in Michigan aus?“
„Offenbar nicht halb so interessant wie bei dir in … Hast du da eben gesagt, du warst in einem Bordell?“ In Max’ Stimme war nichts von seinem typischen Humor zu hören. Ganz im Gegenteil, er klang wirklich sauer.
„Nun, rein technisch …“
Sein lauter Fluch verwandelte das Rauschen in der Leitung in ein hohes Fiepen. „Also, das ist super. Ich stecke in einem Paralleluniversum fest, in dem alle außer mir dauernd Sex haben, und ich darf mit einem Dauersteifen durch die Gegend rennen. Ich bin in der Hölle.“
„Bitte keine weiteren Einzelheiten.“ Ich wischte mir Speichel von der Wange und hoffte, dass die Druckerschwärze nicht auf meine Haut abgefärbt hatte.
Für einen Moment war am anderen Ende der Leitung Schweigen. Als Max etwas sagte, klang seine Stimme sehr ernst. „Ich habe Bella gefunden.“
Oh Gott. Mein Arm fühlte sich an, als wäre er nicht länger an mein zentrales Nervensystem angeschlossen. Hatte sie Nathan umgebracht? War Max zu spät gekommen? Verzweifelt versuchte ich, eine Verbindung zu ihm über unsere Blutsbande aufzunehmen, die ich die ganze Zeit abgeblockt hatte. Aus Dummheit und Egoismus hatte ich mich von Nathan abgeschottet, und jetzt war er tot. Ich hatte mich um die letzten Momente mit ihm gebracht.
„Carrie, alles in Ordnung?“
Ich gab ein bejahendes Wimmern von mir, denn ich wollte nicht in das Handy heulen.
„Sie ist hier bei mir. Sie hat Nathan gefunden, und er hat sie ziemlich schwer verletzt. Seither haben wir keine Spur mehr von ihm entdeckt.“ Er schwieg einen Moment. „Aber das hättest du mir wahrscheinlich gleich sagen können.“
Wenn ich in diesem Moment gestanden hätte, wäre ich auf den Boden gesunken. Die Erleichterung hätte meine Knie auf der Stelle in Brei verwandelt. Ich wollte den Mund öffnen und Danksagungen in den Himmel schreien, aber alles, was ich herausbrachte, war: „Ach?“
„Also, es ist wirklich nicht nötig, dass du in Begeisterungsstürme ausbrichst oder so.“ Es folgte einer von Max’ typischen Immer-dasselbe-Seufzer. „Ich musste ihr eine Ewigkeit hinterherjagen, sie hat mich mitten ins Gesicht getreten und auf mich geschossen, und dann musste ich sogar ihre Wunde nähen, aber klar, meine harte Arbeit ist nichts, wofür man mich mal loben könnte.“
Völlig perplex hielt ich das Handy vor mein Gesicht und starrte es stirnrunzelnd an. „Sie hat auf dich geschossen? Max, bist du in Ordnung?“
„Ja klar, das wird schon wieder. Es ist nur eine Fleischwunde“, versicherte er mir frohgemut. „Wir ziehen nach Sonnenuntergang wieder los. Irgendetwas Neues bei dir?“
„Ich glaube. Aber vielleicht ist es auch nichts.“ Doch ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder, es war zu unwahrscheinlich, dass der Brand nichts zu bedeuten hatte. „Ich weiß nicht. Dieser Trip ist ziemlich komisch.“
„Ach, ich verstehe schon, die Sache mit der männlichen Prostituierten und so. Aber es wird noch komischer. Ich hab Dahlia getroffen.“
Obwohl er es nicht sehen konnte, war ich nach seinem ersten Satz schon dabei, dem Handy meinen gestreckten Mittelfinger zu zeigen. Doch bei seinen letzten Worten erstarrte ich. „Dahlia?“
„Ja. Sie hatte so eine hellseherische Vision. Ich bin mir nicht sicher, was sie bedeuten soll. Und ich würde ihr auch erst dann eine wirkliche Bedeutung zumessen, wenn wir allen anderen Möglichkeiten nachgegangen sind, aber …“
„Wir sollten sie besser sofort ernst nehmen.“ Ich wusste, dass Dahlias Kräfte nicht zu unterschätzen waren. „Was hat sie gesagt?“
„Louden. Und Hudson.“ Er sprach die Worte aus, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass er mir damit elektrische Stöße über den Rücken jagte. „Ach, und die Jungfrau Maria kommt auch irgendwo vor.“
„Max, ich muss los.“ Ich hielt mich zurück und sagte ihm nicht noch einmal, dass er vorsichtig sein sollte, sondern klappte das Handy zu. Ich wühlte in den Zeitungen, die ich vorhin gelesen hatte, und fand die Meldung über den Brand in der Kirche. Der Zufall war zu groß, zu viel in Dahlias Vision entsprach dem, was ich vermutete. Cyrus war in der St. Anne-Kirche, oder er war dort gewesen, bevor das Gebäude niedergebrannt war.
Ich zwang mich zu schlafen – ich hatte keine Ahnung, was in der Wüste auf mich wartete, doch ich wollte ihm zumindest ausgeruht entgegentreten –, doch schon kurz nach Sonnenuntergang weckte mich der Lärm einer Gruppe Motorräder.
Die Fangs fanden sich ebenso wie ich auf dem kleinen Parkplatz an der Zufahrtsstraße nach Louden ein. Mein erster Gedanke war, ihnen zu folgen, wenn sie den Ort wieder verließen. Dann kam ich zu Verstand und mir wurde klar, dass ein leuchtend oranges, unförmiges Monster von einem total verrosteten Laster wahrscheinlich nicht die allerbeste Tarnung abgab. Ich war ihnen auf der Spur. Wenn ich jetzt ungeduldig wurde, vermasselte ich alles.
Als sie den Waschsalon wieder verließen – ich war zutiefst bestürzt, dass sie diese Einrichtung tatsächlich benutzten –, ging ich zum Zeitungskasten und holte mir die aktuelle Ausgabe der Louden Times heraus. In der letzten Woche war die Geschichte, die mich interessierte, von der Titelseite in den hinteren Teil gerutscht, aber schließlich fand ich eine kurze Meldung. Von der achtzehnjährigen Stacey Pickles fehlte weiterhin jede Spur, doch die Polizei hatte die Leichen der beiden anderen Opfer entdeckt. Der Zustand der Leichen ließ darauf schließen, dass nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, und jeder, der Informationen zum Aufenthaltsort des vermissten Mädchens geben konnte, sollte sich bei den örtlichen Behörden melden.
Ich war ziemlich sicher, dass ich mit den Hinweisen aus den Zeitungsartikeln und der Karte, die mir March gegeben hatte, den Ort der Kirche finden konnte. Weniger sicher war ich mir, ob ich ihn finden würde, bevor die Fangs mit Cyrus das veranstalteten, was immer sie mit ihm vorhatten. Und dann war da noch das kleine Problem, wie ich ihn dazu bringen sollte, mit mir mitzugehen. Aber im Moment, so sagte ich mir, begrenzte negatives Denken nur meine Chancen auf Erfolg.
Außerdem hatte ich immer noch das Chloroform.
Es war an der Zeit. Bereit oder nicht bereit, ich würde mich Cyrus stellen müssen.
Jemand klopfte laut an der Beifahrerseite meines Lasters, und ich wäre vor Schreck fast mit dem Kopf gegen das Dach geknallt. Byron blickte mit einem dümmlichen Grinsen durch das Fenster. „Hallo! Verbringen Sie eine schöne Zeit?“
Blitzschnell warf ich mich über den Sitz, stieß die Tür auf und packte ihn am Kragen seines tuntigen, rüschenbesetzten Hemds. Er protestierte heftig, aber er hatte keine andere Wahl, als in den Laster zu steigen. Mein Angriff kam für ihn völlig überraschend, und so saß ich am längeren Hebel.
„He, das ist ein sehr teures Hemd!“, brüllte er und versuchte, den Stoff aus meinen Händen zu befreien.
„Dann wird es jetzt eben ein bisschen staubig!“ Ich packte einen Pflock und drückte ihn gegen seine Brust, in der Hoffnung, dass ich dabei die kostbare Seide aufschlitzte. „Warum haben Sie mich ins Messer laufen lassen?“
„Ins Messer laufen?“, stammelte er, wobei er die weit aufgerissenen Augen nicht von dem Pflock nahm.
„March hat mir erzählt, dass Sie bei ihr angerufen haben. Und dass Sie ihr gesagt haben, ich sei eine wichtige Person!“ Ich drückte den Pflock tiefer in seine Brust.
Es war schon peinlich, wie laut er aufschrie. „Ich wollte Ihnen doch damit nicht schaden, das schwöre ich! Ich dachte, sie kann Ihnen vielleicht weiterhelfen!“
„Mir weiterhelfen?“ Ich nahm den Druck etwas zurück. Ich wusste genau, dass er ohne neue Informationen nicht hier aufgekreuzt wäre, und deshalb war es wenig hilfreich, wenn ich ihn aus Versehen umbrachte. „Was soll das denn heißen?“
„Ich dachte, wenn Sie nach diesem Typen suchen, kann sie Ihnen dabei helfen. March hat ziemlich gute Beziehungen.“ Er schob den Pflock weg, ich ließ ihn gewähren und beobachtete amüsiert, wie er mit schmerzverzerrter Miene seine Brust rieb.
„Sie hat Superbeziehungen, daran gibt es keinen Zweifel. Sogar den Souleater scheint sie zu kennen.“ Ich schob den Pflock in meine hintere Jeanstasche. Byron keuchte vor Schreck, und ich hob die Augenbraue. „Ach, Sie haben schon von ihm gehört?“
Etwas verstört strich er sich immer noch über seine nicht vorhandene Wunde und nickte. „Natürlich habe ich von ihm gehört. Sogar zu meiner Zeit kursierten schon Gerüchte über ihn. Damals waren Vampire sehr populär. Haben Sie Das Bildnis des Dorian Gray gelesen?“
„Darin geht es nicht um Vampire“, meinte ich.
Mit einem wissenden Lächeln sagte er: „Ach, es geht nicht um Vampire?“
Ich seufzte. „Hören Sie, ich hab keine Zeit, um über Literatur zu diskutieren. Ihre Freunde da unten werden wahrscheinlich heute Nacht Cyrus abholen, und ich muss vor ihnen bei ihm sein.“
„Genau deshalb bin ich ja hier.“ Byron griff in die Tasche seiner knallengen Jeans und holte etwas hervor, das aussah wie eine Murmel, die im Dunkeln leuchtete.
„Was ist das?“ Ich wollte noch einen hässlichen Kommentar dazu abgeben, dass das Ding wohl kaum erklärte, warum er March von meinen Plänen erzählt hatte. Doch er hatte ja nicht wissen können, dass wir Feindinnen werden würden.
„Es ist Ihr Schlüssel. Die Fangs benutzen einen Tarnzauber, um zu verheimlichen, wo sie Ihren Mann versteckt halten. Mit diesem Ding hier können Sie sehen, was niemand sonst sehen kann.“ Er lächelte. „Und Sie sehen, was meine ungehobelten Begleiter nun nicht mehr sehen können, weil ich das hier habe mitgehen lassen. Aber Ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich war vor einer halben Stunde dort, und da haben sie schon in weniger als einer Stunde mit ihnen gerechnet. Und sie werden sicher noch früher bemerken, dass ihnen etwas abhanden gekommen ist.“
„Warten Sie.“ Es war zu verdächtig, dass er sein Leben aufs Spiel setzte, um mir zu helfen. „Warum geben Sie mir das?“
„Dieses Ding, das verstehen Sie sicher, hat seinen Preis.“ Er wurde ernst, nahm meine Finger in seine weichen, eleganten Hände und bat mich aufrichtig: „Lassen Sie mich über Sie schreiben.“
„Wie bitte?“ Ich riss meine Hände los.
„Ich kann kein Buch über diese Kretins schreiben. Sie sind bösartig und unzivilisiert. Über die kann ich mir keine Geschichte vom Heroismus in der Wüste ausdenken.“
„Ach, und über mich können Sie so eine heroische Geschichte schreiben?“ Klar. Als ob ich eine besonders tolle Heldin abgeben würde.
Eifrig nickte er und gestikulierte mit seinen fliegenden Hemdsärmeln, während er meine Tugenden verkündete. „Sie sind wie … wie eine moderne Corday. Sie schlagen eine einsame, aber überwältigende Schlacht für Ihre Sache inmitten einer Herrschaft des Terrors, die Sie nicht hinnehmen können. Die Leser werden begeistert sein!“
Diese Geschichte kaufte ich ihm schon jetzt nicht ab. „Und dass es zufällig Sie waren, der mir das Messer verkauft hat …“
„Logischerweise müsste ich auch eine Rolle spielen, als Erzähler. Nur am Rande, natürlich“, stammelte er und hatte immerhin so viel Anstand, dass er das Gesicht peinlich berührt verzog. „Aber im Zentrum der Geschichte steht Ihr tapferer und nobler Kampf für das Gute.“
„Ach, so wie in Blood Heat?“ Ich konnte mir die Spitze nicht verkneifen.
„Sie können sich gerne darüber lustig machen. Aber Sie bekommen den Schlüssel erst, wenn Sie mir Ihren Segen geben.“ Er hielt die Murmel zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie leuchtete in einem eisigen Blau, als ob eine winzige Galaxie mit kalten weißen Sternen in ihrem Inneren existierte.
Resigniert seufzte ich. „Sie werden das Buch auf jeden Fall schreiben, hab ich recht?“
Er nickte.
„Okay.“ Ich schnappte mir die Murmel aus seiner Hand. Im ersten Moment hatte ich erwartet, dass sie sich irgendwie magisch anfühlte, aber bis jetzt war sie nur ein kleines, glattes Gewicht in meiner Handfläche. „Wo werden Sie hingehen? Die Fangs werden Sie umbringen, wenn sie es herausfinden, das ist Ihnen doch klar?“
„Ich weiß. Darum habe ich sie mitgebracht.“ Er lehnte sich im Beifahrersitz zurück, sodass ich den orangen Volkswagen Rabbit sehen konnte, der neben einem Laternenpfahl parkte. Eine Frau, offenbar Mitte vierzig, mit aufgebauschtem, blondiertem Haar und einem Lippenstift, der viel zu hell war für ihren orangefarbenen Teint, starrte besorgt zu uns herüber. „Sie heißt Penny. Sie fährt mich in die nächste Stadt.“
„Erzählen Sie mir jetzt nicht, dass Sie für das Benzin bezahlen müssen“, sagte ich grinsend, als er die Tür öffnete und aus dem Laster sprang.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute, Charlotte“, sagte er mit einer solchen Inbrunst, dass ich ihm wirklich glaubte, als er sich mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete.
Gegen meinen Willen musste ich lächeln. „Ich heiße Carrie.“
Byron richtete sich auf und drehte sich zu dem Wagen, in dem Penny wartete. Während er zu ihr lief, rief er mir über die Schulter zu: „Nicht in meinem Buch.“
Und so hatte ich alles zusammen, was ich brauchte.
Nun musste ich mich nur noch psychisch auf die Fangs und auf die Konfrontation mit Cyrus vorbereiten. Als ich aufgebrochen war, erschien mir die Möglichkeit, dass ich wirklich in einen echten Kampf verwickelt werden könnte, ungefähr so real wie ein weit entferntes Land irgendwo im Nirgendwo. Jetzt, wo der Kampf direkt vor mir lag, verfiel ich in Panik. Wie konnte ich gegen Vampire kämpfen, die sich mit mir anlegen wollten? Nathan hatte mir ein paar einfache Selbstverteidigungstechniken gezeigt, aber diese Vampire standen im Dienst des Souleaters, was schon an ganz normalen Tagen ein ziemlich gefährlicher Job war. Dazu kam, dass die meisten das Kämpfen und Töten fast so sehr liebten wie ihre Motorräder, und die Chance, dass so eine unerfahrene Null wie ich einen von ihnen, geschweige denn eine ganze Gruppe, im direkten Kampf besiegen könnte, hielt ich für verdammt gering.
Und falls ich wirklich meine Fehde mit diesen eiskalten Vampirjägern überlebte, dann war da immer noch das Problem mit Cyrus. Falls sie ihn wieder in einen Vampir verwandelt hatten, würde er seine früheren Kräfte wiedererlangt haben? Dann würde er mich zur Schnecke machen. Oder war er noch ein Mensch? Würde ich dann mit meinem eigenen Wunsch nach Rache zu kämpfen haben?
Die letzten zwei Monate waren zu kurz gewesen, als dass ich seine Grausamkeit inzwischen hätte vergessen können. Am Ende hatte ich mehr Mitleid als Hass für ihn empfunden, aber ich war menschlicher als die meisten Vampire von sich selbst zugeben würden. Gut möglich, dass mir nach dem schmerzlichen Verlust von Nathan und der Einsamkeit und der Erschöpfung der letzten Tage die Nerven durchgingen und ich meine Wut auf den Souleater an Cyrus ausließ.
Dann gab es noch eine andere, weit erschreckendere Möglichkeit. Während ich durch das Blutsband mit Cyrus verbunden war, hatte er mich auf eine Art angezogen, die ich nicht erklären konnte. Liebe war es nicht gewesen, sondern eine dunkle Parodie dieses Gefühls. Ich war vollständig in seinen Bann geschlagen. Unsere geistige Verbindung hatte sich in den letzten Tagen immer wieder für kurze Episoden aufgebaut. Würde ich seiner gefährlichen Anziehungskraft wieder zum Opfer fallen?
Nein, ich war stärker geworden, weil ich ihn schon einmal besiegt hatte. Trotzdem vermittelte mir der Gedanke, dass ich ihn bald wiedersehen würde, nicht besonders viel Selbstvertrauen.
Aber eins nach dem anderen. Erst einmal musste ich zu ihm kommen, ohne dass ich den Fangs dabei in die Arme lief.
Die verkohlten Überreste der St. Anne Catholic Church lagen wie ein riesiges, verloschenes Lagerfeuer im Sand. Das Gebäude war bis auf den letzten Stein niedergebrannt. Wie die Fangs hier irgendjemanden versteckt hatten, ohne Schutz vor den Elementen der brennenden Wüstensonne ausgesetzt, war mir ein Rätsel.
Mir war klar, dass mich vielleicht jemand beobachtete, deshalb fuhr ich an der Ruine vorbei und schaute mich nach einem unauffälligen Ort um, wo ich den Laster abstellen konnte. Anders als in jedem Road-Runner-Comic war nirgends ein praktischer Felsvorsprung zu sehen, hinter dem ich mich ganz wie Wyle E. Coyote auf die Lauer legen konnte. Die Fangs aus der Autobahnraststätte waren sicher immer noch hinter mir her. Ich fuhr an den Straßenrand und öffnete die Motorhaube, wobei ich betete, dass die Warnblinkanlage nicht den letzten Saft aus der Batterie verbrauchte. Alle Heimlichkeit und List konnte mir nicht helfen, wenn ich Cyrus erfolgreich entführt haben sollte, mir aber dann das Transportmittel versagte, das mich vom Tatort wegbringen sollte.
Als ich mir die Dinge anschaute, die March mir mitgegeben hatte, kam ich mir schon ein wenig naiv vor. Noch nie hatte ich eine Person mit Chloroform außer Gefecht gesetzt. Gefesselt hatte ich auch nie jemanden, zumindest nicht, um ihn oder sie zu kidnappen. Ich fühlte mich wie eine Anfängerin, die an ihrem ersten Tag auf Skiern den steilen Abhang der Profiabfahrt hinunterstarrt. Nichts wollte ich so sehr wie zurück zum Anfängerhügel.
„Wo ist der verdammte Ersatzreifen?“, sagte ich etwas zu laut, für den Fall, dass mich jemand belauschte. Ich zog das leuchtende Murmelding von Byron aus meiner Tasche und ließ es in meiner Handfläche hin- und herrollen.
Sofort stieg vor mir eine leichte Verzerrung vom Boden auf, so, als ob die Luft in der Hitze flirrte. Eine Millisekunde später erfüllte Motorengeheul meine Ohren. Ich wand mich in die Richtung, woher der Lärm kam, und hätte mir fast die Augen gerieben, wenn mir nicht noch rechtzeitig eingefallen wäre, dass ich die Szenerie vor mir eigentlich gar nicht sehen sollte. Scheinbar aus dem Nichts war die Kirche wieder aus den Ruinen auferstanden. Die bunten Glasfenster wurden von innen beleuchtet und warfen ein seltsames Farbenspiel auf den Wüstensand. Einige Vampire ließen ungeduldig ihre Motorräder aufheulen, während zwei andere Gestalten vor ihnen wild gestikulierend auf sie einbrüllten. Die Gruppe war in ein blaues, quecksilberartiges Licht getaucht.
Aufgrund des Motorenlärms konnte ich nicht hören, worüber sie sich stritten, aber sie schienen sich durch meine Anwesenheit am Straßenrand nicht ablenken zu lassen, und das war mir im Moment das Wichtigste. Sie dachten, sie wären für mich unsichtbar, was mir vollkommen recht war, solange sie nicht auf den Gedanken kamen, den Überraschungseffekt zu nutzen und sich die schmackhafte, gestrandete Autofahrerin zu schnappen. Ich tat noch ein paar Minuten so, als suche ich nach etwas hinten auf dem Laster, dann ging ich nach vorn und beugte mich über den Motor, als ob dort etwas nicht in Ordnung wäre.
Ab und zu warf ich einen kurzen Blick auf den Parkplatz und bekam mit, wie das Wortgefecht sich in ein Hin-und-her-Geschubse und schließlich in einen richtigen Faustkampf verwandelte. Jetzt wurde mir auch klar, warum sie sich in den Haaren lagen. Die Fangs aus der Bar waren nie hier aufgetaucht. Schließlich wurde der Motorenlärm noch lauter, und die Maschinen rollten auf die Straße. Ich nahm an, um nach ihren Freunden zu suchen. Die unförmige Gestalt eines bewusstlosen Vampirs blieb auf dem Asphalt zurück, während der Rest der Horde in die Richtung davondonnerte, aus der ich gekommen war. Mir blieb nicht viel Zeit, bis die beiden Gruppen sich treffen würden.
Mit einem deutlichen Gefühl, dass dies meine einzige und beste Chance war, steckte ich das Chloroform in meine hintere Hosentasche, einen Pflock in die andere, und überquerte die Straße.
Dann war meine kurze Glückssträhne auch schon zu Ende, denn der Vampir kam just in dem Moment wieder zu sich, als ich den Parkplatz betrat. Fluchend hielt er den Kopf in den Händen, wobei er heftig blinzelte, als ob er noch nicht wieder richtig sehen konnte. Dabei verwandelte sich sein Gesicht immer wieder in eine Vampirfratze, wie ein kaputtes Neonlicht. Ich räusperte mich, um ihn auf mich aufmerksam zu machen.
„Fuck“, sagte er nicht zum ersten Mal und rieb dabei die blutige Nase. Seine Finger ragten aus schwarzen fingerlosen Handschuhen. Sie waren mit schlechten, selbstgestochenen Tattoos bedeckt.
„Hallo. Ich habe Probleme mit meinem Laster. Haben Sie ein Telefon, das ich benutzen könnte?“ Ich lächelte und hoffte, dass ich an ihm vorbei zur Kirche kam, bevor sein lädierter Schädel wieder einsatzfähig wurde und er sich daran erinnerte, dass er eigentlich unsichtbar sein sollte.
„Nein, da gibt es kein Telefon“, knurrte er, aber seine Haltung änderte sich schlagartig, als sein Blick von meinen Schuhen die Beine hoch zu weiter oben liegenden Körperteilen glitt. „Hat wahrscheinlich jemand vergessen, die Rechnung zu bezahlen.“
Sein Lachen klang, als ob kleine schmutzige Seifenbläschen in seiner Kehle zerplatzten. Er lächelte und stellte dabei eingeschlagene braune Zähne zur Schau. Ich nehme an, der dazugehörige Gesichtsausdruck sollte charmant wirken. Seine schmutzigen Haare wurden von einem zerfransten Band zusammengehalten, trotzdem sah er aus, als dachte er tatsächlich, ich würde ihn attraktiv finden.
„Ach, Mist.“ Möglichst gelassen ließ ich die Hände in die Po-Taschen gleiten und legte die Finger um den Pflock. Dann wartete ich auf den Moment, in dem ihm klar wurde, dass etwas nicht stimmte. Erst wenn er vollkommen verwirrt war, würde ich zuschlagen.
Leider kam er früher darauf, als ich erwartet hatte. Meine Worte waren kaum verklungen, da zog er die Augen zusammen und seine Stirn legte sich in Falten. „Moment mal, Sie sollten doch gar nicht …“
Ruckartig stürzte ich auf ihn zu und trieb den Pflock mit aller Kraft in ihn, sodass sein Brustbein durchbohrt wurde. Der Aufprall ließ meinen Arm vibrieren, und ich spürte den Rückstoß bis in meine Knochen, aber ich hatte ins Ziel getroffen. Er brachte keinen Schrei mehr über die Lippen, bevor er in Flammen aufging.
Und das ist auch gut so, dachte ich, als ich mir über den schmerzenden Ellbogen rieb. Ich war nicht wirklich in Topform.
Irgendwie kam es mir zu tollkühn vor, einfach durch die Vordertür hereinzuplatzen. Außerdem hatten sie ein großes, kompliziertes Zeichen an die Tür gesprayt, und ich hatte den leisen Verdacht, dass es noch so eine Art Zauber sein könnte, der Eindringlinge abhielt oder Alarm auslöste. Ich ging zur Seite des Gebäudes, wo kein Licht auf die Gegenwart von Fangs hinwies.
Eine Seitentür, die unvorsichtigerweise nicht verschlossen war, führte in einen dunklen Raum. Die Fangs waren keine Organisation von Intellektuellen, das konnte man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Ich brauchte eine Weile, bis ich erkannte, dass ich mich in einer Küche befand. Mein Blick fiel auf die leere Spüle. An dem tropfenden Wasserhahn hatten sich Mineralien in Form eines dünnen Stalaktiten abgesetzt. Wenn Cyrus ein Mensch war, dann gaben sie ihm entweder nichts zu essen, oder niemand spülte das Geschirr.
Als ich durch die Küche auf die Tür am anderen Ende zuging, fühlte ich mich wieder ziemlich gut. Dann öffnete sie sich, und der hässlichste Vampir, den ich jemals gesehen hatte, trat in den Raum.
Ich glaube, es war eine Frau, aber bevor ich nachfragen konnte, hatte sie schon ein Schlachtermesser von der Ablage geschnappt und nach mir geworfen. Ich wich dem Messer aus und rammte den großen Gasherd. Im gleichen Moment packte ich eine der schmiedeeisernen Kochplatten hinter mir und warf sie in ihre Richtung. Mit ihrem großen Vorderarm schleuderte sie die Platte zur Seite und kam weiter auf mich zu.
Während ich den Pflock aus der Hosentasche zog, nahm ich die Kampfstellung ein. Aber sie griff mich nicht so an, wie ich gedacht hatte, nicht mit voller, direkter Kraft. Stattdessen sprang sie in die Höhe, packte mich an den Haaren und riss mich mit sich nach oben.
Meine lange Erfahrung mit geschlagenen Frauen in der Notaufnahme hatte mich wertvolles Kampfwissen gelehrt: Lass deine Haare nie dahin zerren, wo dein Körper ihnen nicht folgen kann. Wenn die Kopfhaut erst einmal vom Schädel gerissen war, dann war es fast unmöglich, die Blutung zu stoppen. Ich wollte kein Risiko eingehen, deshalb wehrte ich mich nicht mehr, sondern drückte meine Hände auf ihre Faust und presste sie an meinen Kopf, während sie mich auf den Gasherd zog. Mit geradezu klinischem Desinteresse drehte sie das Gas auf und entzündete die Brenner.
Schmerz explodierte in meinem Rücken, als mein dünnes T-Shirt Feuer fing und meine Haut versengte. Ich schrie, trat mit den Beinen um mich und suchte nach etwas, wo ich mit den Füßen Halt finden konnte, während ich immer noch horizontal auf dem Herd lag. Es gelang mir, die Absätze unter der Arbeitsplatte festzuhaken und meinen Körper aufzubäumen, wodurch ich für einen kurzen Moment frei war und den Flammen entwich.
Jetzt lag ich nicht mehr auf dem Herd, doch ich brannte immer noch. Ich warf mich auf den Boden und rollte mich auf den entsetzlich kalten Fliesen, wobei ich vor Schmerz laut aufschrie, als sich meine verkohlte Haut von dem darunterliegenden Fleisch löste.
Die Vampirin stürzte sich auf mich, als ich gerade wieder auf die Beine kam. Ich trat zur Seite, und ihr Fehler erwies sich als meine Chance. Ich schnappte mir den Pflock vom Boden und traf sie zwischen den Rippen, als sie sich umdrehte, um mir den nächsten Schlag zu verpassen.
Ungläubige Fassungslosigkeit breitete sich in ihrem Gesicht aus, als die Flammen an ihrem Körper emporzüngelten.
Meine Hand hielt immer noch den Pflock umfasst, sie krallte sich im Todeskampf um meinen Arm, als ob dieser simple Halt mich mit ihr in die Hölle zerren könnte. Dann zerfiel ihre Hand zu Asche, und ich stolperte rückwärts auf meine verbrannten Ellbogen.
Bei all dem Lärm, den wir veranstaltet hatten, erwartete ich eigentlich jeden Moment eine Gruppe wütender Vampir-Biker in der Küche. Doch als niemand auftauchte, erhob ich mich und streifte mir die Überreste des verbrannten T-Shirts von den Schultern.
Natürlich hatte ich heute Morgen meinen ältesten BH angezogen.
Wen kümmert es schon, was du anhast, wenn du ihn nur findest?, fragte mein allzu vernünftiger Verstand. Und diese Verbrennungen sind wahrscheinlich dritten Grades, aber lass dich davon nicht stören, wenn du dich lieber über dein Aussehen oder sonst etwas aufregen möchtest.
Ich schüttelte den Kopf, als ob ich damit meine Gedanken loswerden könnte, und trat vorsichtig durch die Küchentür in einen breiten Flur. Er vergrößerte sich und führte um eine runde Wand im Innern des Gebäudes. Ich war nie eine eifrige Kirchgängerin gewesen, aber ich wusste doch, dass der Raum hinter der Wand das eigentlich Wichtige war. Als ich mich durch das Halbrund der Halle bewegte, kam der Haupteingang mit den großen Doppelflügel-Türen in mein Sichtfeld, ihm direkt gegenüber lagen die Portale, die in den eigentlichen Kirchenraum führten. Auch diese waren mit seltsamen Symbolen markiert. Im Innern des Kirchenraums konnte selbst die gedämpfte Musik die ärgerlichen Stimmen nicht übertönen.
Kein Wunder, dass sie den Kampf in der Küche nicht gehört hatten. Ich presste mein Ohr an das Holz, wobei ich mich von der Markierung fernhielt, und versuchte zu hören, was sie sagten.
„Wo zum Teufel ist Angie? Der Schimmer wird nicht mehr lange halten, wenn sie ihren Arsch nicht in den Zirkel zurückbewegt“, warnte eine aufgeregte männliche Stimme.
„Sie kommt sicher gleich“, erwiderte eine ruhigere weibliche Stimme. „Sie schaut wahrscheinlich nach dem Typen.“
Dem Typen. Das konnte nur Cyrus sein. Mein Herz fing wild an zu schlagen. Jemand anderes bestätigte mir, dass er wirklich hier war, und plötzlich wurde meine Aufgabe furchtbar real.
„Wenn sie in fünf Minuten nicht hier ist, dann hole ich sie“, erklärte der männliche Vampir. Seine Schritte polterten näher an der Tür vorbei, als mir lieb war.
Einige Meter trat ich zurück und sah mich nach etwas um, mit dem ich die Tür von außen versperren könnte. Wie in einem Wartezimmer stand eine Reihe von Stühlen neben einem Ständer mit Broschüren über natürliche Familienplanung und wie man den Rosenkranz betet. Ich hob den nächsten Stuhl ganz hoch, sodass die Beine nicht verräterisch über den Boden kratzten. Mit angehaltenem Atem klemmte ich den Stuhlrücken unter die Türklinke und stellte den Stuhl so gegen die Tür, dass die hinteren Beine zwischen Teppich und Tür verankert waren. Ewig würde der Stuhl sie nicht aufhalten, aber wenn ich Glück hatte, würde das Hindernis ihnen einige Probleme bereiten.
Eilig ging ich den Flur entlang und stieß nach kurzer Zeit auf eine weitere Tür. Es war eine einfache Holztür mit splitternden Kanten und einem billigen Türknauf. Ich versuchte, den Knauf zu drehen und stellte fest, dass auch diese Tür offen war.
Hält heutzutage eigentlich niemand mehr etwas von Sicherheitsvorkehrungen?
Eine Treppe führte hinunter in einen dunklen Keller, der auf den ersten Blick leer schien. Ich war auf der zweiten Treppenstufe, als das rhythmische Quietschen von Bettfedern mich stoppte.
Eine Frau keuchte, und ein Mann stöhnte in der Dunkelheit. Die Härchen auf meinem Rücken stellten sich auf. Ich erkannte das Stöhnen des Mannes.
Ich nahm an, das war „Angie“, die nach dem Typen schaute. Unerwartet drehte mir Eifersucht den Magen um. Die Schuld dafür gab ich dem immer wieder aufblitzenden Blutsband zwischen uns, und der Tatsache, dass ich mit vielem, aber nicht damit gerechnet hatte, ihn beim Sex zu überraschen.
Flach presste ich mich an die Wand und betete, dass man mich vom Bett, wo immer es stand, nicht sehen konnte. Wenn ich jetzt die Treppe hinunterstürzte und mich auf einen Kampf einließ, würde es mich das Leben kosten. Besonders, da diese Angie-Tussi offensichtlich etwas mit dem Zauber zu tun hatte, der die Kirche tarnte. Schon zu oft war ich mit Hexen aneinandergeraten – nun, zumindest mit einer – und war nicht wirklich scharf darauf, mich noch einmal mit einer anzulegen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich fertig waren, wahrscheinlich weil die Situation so ungünstig und ihnen peinlich war. Allmählich fragte ich mich, wie viel Zeit wirklich vergangen war, und ob die Vampire nicht bald herunterkamen, um nach Angie zu suchen. Ich hatte oben kein Türhämmern gehört, aber vielleicht war es auch in dem Hämmern des Betts auf dem Boden untergegangen. Da unten gingen sie wirklich heftig zur Sache.
Schließlich verebbten ihre ekstatischen Geräusche, und das Bett quietschte, weil Angie aufstand. „Ich gehe ins Badezimmer.“
Mir kam es komisch vor, dass eine Vampirin, die ein ganzes Gebäude in Ruinen verschwinden lassen konnte, in einem so ängstlichen Ton mit Cyrus sprach, egal ob er nun ein Mensch oder ein Vampir war. Aber wahrscheinlich löste die Todesangst vor seinem lieben alten Daddy in den meisten seiner Gefolgsleute eine gewisse Zurückhaltung ihm gegenüber aus.
Ich hörte die leise Bewegung von Decken und Cyrus, der zufrieden seufzte, als er sich anders hinlegte. Schmerzhaftes Verlangen durchfuhr mich, ein Gefühl, als ob man zusehen musste, wie der Ex, der einen hatte sitzenlassen, mit seiner neuen Liebe glücklich das Muster für das Hochzeitsservice aussuchte. Man kann den Vampir zwar in einen Menschen stecken, aber den Menschen selbst nicht aus dem Vampir löschen.
Die Badezimmertür schloss sich, und ich hörte Wasser rauschen. In diesem Moment schlug ich zu. So schnell und leise wie möglich ging ich Treppen hinunter, aber er hörte mich trotzdem. Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, und ich sah ihn, wie er sich aufrichtete und mich fassungslos anstarrte.
Cyrus war noch ein Mensch. Ich erkannte es an seinem Geruch und an der Körperwärme, die mir entgegenströmte. Er hatte seine Haare geschnitten.
Entsetzt öffnete er den Mund, wahrscheinlich wollte er Angie um Hilfe rufen. Alles, was er herausbrachte, bevor ich ihm Mund und Nase mit dem chloroformgetränkten Fetzen meines verbrannten T-Shirts bedeckte, war: „Nein, sie ist …“
Dann war es geschafft. Er kippte nach hinten, lag schlaff und bewusstlos auf dem Bett, und ich hievte ihn über eine Schulter. So war es leichter, sein Gewicht zu tragen, aber die Treppen hochzukommen, war wirklich ein Problem. Glücklicherweise schien die Frau sich ein Bad einlaufen zu lassen, sie bekam nichts davon mit, wie ich mich die Treppe hochkämpfte und Cyrus den Flur entlang und zurück durch die Küche schleppte.
Wenn mein Abgang irgendeinen magischen Alarm auslöste, war es zu spät. Ich warf Cyrus hinten auf die Ladefläche und fuhr los in die Wüste, bevor uns irgendjemand verfolgen konnte.