8. KAPITEL

Opfer der Umstände

Max Harrison hatte Michigan nie gemocht. Jetzt landete er irgendwie ständig dort.

Carrie hatte er in Ziggys altem Schrotthaufen von Laster losgeschickt. Er hatte sie mit einem stillen Gebet verabschiedet, sowie einem Dutzend falscher Versprechungen, der Wagen werde schon durchhalten. Normalerweise mochte er Lügen nicht, aber sie hatten keine Wahl. Max brauchte sein Auto, um Nathan ausfindig zu machen, und der fensterlose Kasten des Lieferwagens verschaffte Carrie tagsüber Schutz vor der Sonne.

Den Schlüssel zur Wohnung hatte sie ihm mit den Worten überlassen, er solle sich wie zu Hause fühlen. Sie selbst wollte es noch so weit schaffen, wie bis Tagesanbruch möglich war.

Als ob er sich in einer Stadt zu Hause fühlen könnte, wo um neun die Bürgersteige hochgeklappt wurden.

Nachdenklich stapfte er die Stufen zu Nathans und Carries Wohnung hoch und schüttelte den Kopf. Der letzte Ort, wo er sich eine Weile am Stück aufgehalten hatte, war Chicago. Blues und Fusel bis zum Morgengrauen. Das war nicht zu schlagen. Aber er hatte nicht lange dort bleiben können. Es gab zu viele Erinnerungen an Marcus. Zu viel Schmerz.

Nun wünschte er sich, er könnte dort sein. Wünschte, er könnte in Zimbabwe sein. Überall, nur nicht hier.

Keine Sekunde zweifelte er an Carries Geschichte. Nathan war höchstwahrscheinlich besessen. Aber während sie voller Hoffnung und Entschlossenheit war, konnte Max allenfalls den Grad seiner desillusionierten Verzweiflung etwas mindern.

Dämonische Besessenheit ließ sich bei einem Vampir nicht ohne drastische Maßnahmen kurieren. Diese Maßnahmen beinhalteten gewöhnlich die scharfe Spitze eines hölzernen Pflocks. Auch wenn er sich kaum vorstellen konnte, Nathan tatsächlich zu töten, wusste Max, dass es weit besser für ihn war zu sterben, als wenn er nach einer Wunderheilung damit konfrontiert würde, dass er einen grausamen Tod über unschuldige Menschen gebracht hatte.

Aus Gewohnheit warf Max seine Tasche ans Ende der Couch. Das letzte Mal, dass er in dieser Wohnung gehaust hatte, war während der Zeit, als er Nathan und Carrie half, Cyrus zu töten. Carrie war wirklich eine Nummer für sich. Zog allein los, um den Kerl zu stellen – nach allem, was er ihr angetan hatte. Max war nicht sicher, ob er unter den gleichen Umständen den Mut gehabt hätte, sich so zu verhalten.

In der Küche sah er mit schlechtem Gewissen den Kühlschrank durch. Es war egal, wie oft ihm jemand sagte, er solle sich wie zu Hause fühlen, er kam sich immer wie ein Schnüffler vor. Er nahm einen Blutbeutel heraus, goss ihn in den Teekessel und hoffte, dass Carrie nicht bei einem ihrer Experimente mit dem Inhalt rumgepanscht hatte.

Das Zischen des Brenners brachte ihm zu Bewusstsein, wie still es in der Wohnung war, und er begab sich zur Stereoanlage. Sein Blick wanderte über die Reihen der CDs. Leicht festzustellen, welche Nathan und welche Carrie gehörten. Nathan war ein Freund von mildem, stimmungsvollen klassischem Rock, er hatte eine anständige Sammlung von Zeppelin bis Floyd. Carrie besaß eine kleine, aber respektable Jazzsammlung und ein paar Popalben von fragwürdigem Geschmack.

Wie Öl und Wasser. Max lachte in sich hinein, während er ein Album von Led Zeppelin in den CD-Player gleiten ließ. Die Maschine rotierte, dann drangen die ersten Töne von Babe, I’m gonna leave you aus den Lautsprechern.

„Exzellent“, sagte Max zu niemand Bestimmtem. Er ging in die Küche, goss das warme Blut in einen Becher und setzte sich an das gesprungene Resopaltischchen. Zeit, die Stadt systematisch abzusuchen, hatte er sowieso nicht und beschloss, die Dämmerung abzuwarten und dann auf gut Glück loszuziehen. Wo immer Nathan war, er würde ihn finden. Er war es seinem Freund einfach schuldig, dass er wenigstens durch die Hand eines Vampirs starb, nicht durch einen Werwolfkiller, der nach Dreck und Lagerfeuer stank. Das Einzige, was Max mehr hasste als Werwölfe, waren Hippies, und zuweilen fand er es sogar schwierig, beide Arten auseinanderzuhalten.

Als das Tempo der Musik allmählich anzog, stand er auf, wanderte herum und schlürfte sein Abendbrot. Wohin er auch blickte, überall waren Bücher mit geprägten Rücken, Notizbücher, Stapel von Papieren und gerahmte Schnappschüsse in den Borden. Es war ein Heim. Hier war jemand zu Hause.

Max ergriff eins von den Fotos. Es war ein Souvenir-Schnappschuss, wie man sie in Vergnügungsparks kaufen konnte, ein gefrorener Augenblick in einer Achterbahn, bei Nacht natürlich. Niemals, so lange er ihn kannte, hatte Max gesehen, wie Nathan aussah, wenn er so viel Spaß hatte.

Carrie war gut für ihn. Ein Schmerz regte sich in Max’ Brust. Es wäre die Hölle auf Erden für sie, wenn Nathan starb. Nicht nur aufgrund der Blutsbande. Ob sie es sich selbst und einander nun eingestanden oder nicht, Carrie und Nathan liebten sich.

Die ständig wachsende Spannung des Songs begann an Max’ Nerven zu zerren. Er machte einen Schritt, um zum nächsten Stück zu wechseln, und das Bodenbrett knarrte. Da echote ein weiteres Knarren aus dem Flur.

Max richtete sich auf. Es war also nicht der Rhythmus der Musik gewesen, der seine Nerven bloßlegte. Da war jemand. Irgendwer lauerte in den dunklen, leeren Räumen.

Er hoffte, es war nur ein ganz normaler Penner.

Die einzige Waffe in Reichweite war ein hölzerner Pflock. Den schob er in seine Gesäßtasche, nur für den Fall. Aus der Küche holte er sich ein Messer. Sein Plan war, den Eindringling messerschwingend mit voller Vampirfratze zu überraschen und in die Flucht zu schlagen. Wer es auch war, würde schleunigst verschwinden, wie er gekommen war, die Feuerleiter oder die Dachrinne runter, und sich hoffentlich nicht den Hals brechen. Daraufhin verwandelte Max sein Gesicht zur Fratze und stürmte den Flur entlang.

Zwei Schritte in Nathans Schlafzimmer, da traf ihn ein spornbewehrter Lederstiefel an der Stirn. Das Drecksding schürfte ihm das Gesicht auf, und er taumelte zurück. Die Überraschung ließ seine Fratze wieder zum Menschengesicht werden. Zwei weitere Treffer, ein Fausthieb in den Magen und ein Knie in die Lenden warfen ihn gekrümmt an die Wand und brachten das Monster zurück in sein Gesicht.

Als er durch Mund und Nase nach Atem rang, roch er den scharfen Duft ihres Parfüms. Werwolf. DeCesare.

Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf seine Gegnerin. Sie taumelte zurück, und er schmetterte sie zu Boden. Obwohl er gut vierzig Pfund mehr wog als sie, konnte sie sich herauswinden. Sie kratzte ihm mit rasiermesserscharfen Nägeln ins Gesicht, und er fuhr zurück. Dadurch gewann sie den Spielraum, den sie brauchte. Blitzschnell warf sie ihn auf den Rücken und zielte mit einem Pflock auf sein Herz. Er erstarrte.

„Nolen Galbraith“, keuchte sie mit einem fremden Akzent, „auf Befehl der Bewegung bist du zum Tode verurteilt für den Mord an Marianne Galbraith und Christine Allen. Wie lautet dein Plädoyer?“

„Mach das Licht an“, sagte er zwischen zwei mühsamen Atemzügen. Du blödes Miststück, fügte er lautlos hinzu.

Bella blinzelte in die Dunkelheit. „Nolen Galbraith?“

„Nein. Netter Versuch.“ Max schob sie von sich, erhob sich und klopfte sich die Kleidung ab, als sei sie mit Erde verdreckt.

Beim matten Schimmer des silbrigen Lichts von draußen sah er sie deutlich. „Du hast dich letzte Nacht mit dem General getroffen. Oder sollte ich sagen, mit deinem Lover?“

„Du machst das Licht an“, die exotische Rhythmik verlieh ihren Worten eine arrogante Autorität. „Ich habe nicht diese Nachtsicht wie du.“

„Könnte das daran liegen, dass du kein Vampir bist?“ Max machte trotzdem das Licht an, denn sie hatte immer noch einen Pflock, und er war kurioserweise allergisch gegen Holzsplitter im Herzen. „Ich dachte immer, Hunde könnten im Dunkeln sehen, oder waren das Katzen?“

„General Breton schickt mich. Er schien sehr in Sorge wegen eines Killers, der nicht tauglich ist, seinen Auftrag auszuführen.“ Ihre letzten Worte gingen in ein Knurren über.

„Das erklärt noch nicht, warum du im Haus meines Freundes bist. Vor allem, wenn er auf den Straßen den Berserker spielt. Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, hier einzubrechen?“ Das Messer lag auf dem Boden zu seinen Füßen. Er musste nur einen Weg finden, danach zu greifen, ohne aufgespießt zu werden.

Zum Glück schien sie seinen schnellen Blick nach unten nicht bemerkt zu haben. „Ich könnte dich dasselbe fragen. Du läufst hier rum, trinkst ihre Blutkonserven und benutzt ihre Sachen. Es sieht aus, als ob du auf beiden Seiten spielst.“

„Es gibt nur eine Seite, Schätzchen. Ich hasse es, dich zu enttäuschen, aber auf der ist auch …“, Max machte Anführungszeichen mit den Fingern, „Nolen.“

„Er hat getötet.“

„Unter sehr mildernden Umständen!“

Bella schüttelte den Kopf. „Es gibt keine mildernden Umstände. Er hat getötet. Er wird getötet.“

„Es sei denn, ich töte dich vorher.“ Max erwartete, in ihren Augen eine Reaktion zu erkennen, aber da war keine. Nur das kalte, kalkulierende Starren eines Raubtiers, das nur für die Jagd lebt.

Schneller als jede sterbliche Kreatur, die er je gesehen hatte, warf die Werwölfin den Pflock. Er duckte sich und klaubte das Messer vom Boden. Die hölzerne Rakete grub sich in die Wand, etwa dort, wo sein Herz gewesen wäre.

Bella flüchtete zur Tür und ergriff im Vorbeirennen eine Handvoll Kleidung, die auf dem Wäschekorb lag.

Wegen des Geruchs, wurde ihm klar, und er fluchte im Stillen. Mit schmerzlichem Grimm gestand er sich ein, dass sie in diesem Duell womöglich die besseren Karten hatte. Eine Person konnte man zum Jäger ausbilden, aber ein Raubtier … war dazu geboren.

Max setzte ihr nach und erwischte sie beinahe am Fuß der Treppe, aber als sie die Tür aufriss, flutete neugeborenes Sonnenlicht in das Treppenhaus. Er fauchte und sprang zurück.

Als sie die Straße hinunterfloh, rief sie: „Komm mir nicht in die Quere, Vampir. Ich töte dich, wenn ich muss.“

Ich klemmte mich hinters Steuer, nahm die Interstate-94 und rauschte über die Staatsgrenze, noch bevor die Sonne aufging. Nach einem langweiligen Tag, den ich in den unerträglich muffigen Laster gequetscht verbrachte, war ich bei Einbruch der Dunkelheit wieder auf der Straße. In der Hand hielt ich einen Reisebecher mit kaltem Blut aus der Kühltasche, die ich mir angeschafft hatte. Meinen Blick richtete ich nach Westen.

Kurz hinter Chicago passierte ich den Knotenpunkt zur 80-90, die mich nach Iowa führen würde. Die Landschaft wurde schlagartig flacher. Ohne Kassettendeck und mit kaputtem Radio hatte ich meine Stimme – und das Repertoire von ABBA-Songs – ziemlich bald überbeansprucht.

Mangels Beschäftigung für mein Gehirn wanderten meine Gedanken unweigerlich zu Nathan. Ich wusste, dass er nicht tot war und prüfte wachsam unser Blutsband, obwohl alles, was ich empfing, nur ein ganz leises Ziehen war. Ich erfüllte meinen Geist mit so viel Liebe und Unterstützung wie ich hatte, sandte sie in seine Richtung und hoffte, er würde die Botschaft bekommen. Am Ende rührten sich Erinnerungen, die ich jetzt lieber ignoriert hätte, und stiegen an die Oberfläche.

Ich dachte an all unsere missglückten Versuche, Kniffel zu spielen. Wie ich jedes Mal „Böses Omen! Böses Omen!“ rief, wenn er den Würfel warf. Es hatte ihn wahnsinnig gemacht, aber nicht so, dass er nicht mehr lachen konnte.

Dann fiel mir ein, wie wir versucht hatten, die Krypta zu renovieren.

„Was zum Teufel soll das sein?“, fragte er beim Anblick einer botanischen Bordüre, die ich an der Oberkante der Wände angefangen hatte und um den Raum ziehen wollte. Ich betrachtete mein Werk mit einem, wie ich fand, kritischen Blick.

„Ein Feigenblatt.“

Mein Blick war wohl nicht kritisch genug gewesen. Er machte ein Gesicht, als hätten meine künstlerischen Fertigkeiten ihn tief gekränkt. „Augenscheinlich unterscheidet sich deine Vorstellung von einem Blatt ganz gewaltig von meiner.“

Trotzig schnitt ich eine Grimasse und betupfte schützend die Farbe. „Ich finde, es sieht gut aus.“

„Ich sage ja nur, wenn du für die Gestaltung vom Garten Eden verantwortlich wärst, wäre ich froh, nicht dort leben zu müssen.“ Es war kurz vor der Morgendämmerung, und wir hatten seit Sonnenuntergang gearbeitet. Nathans müde Stimme, mit seinem Akzent, der durch die Erschöpfung stärker geworden war, brachte Worte hervor, die kaum noch als Englisch erkennbar waren.

Einem gutturalen „Hach!“ hatte ich nicht widerstehen können. Die darauffolgende Farbschlacht bespritzte die Regale und die Decke. Wir wären noch dazu gekommen, es zu übermalen, wenn es nicht darin geendet hätte, dass wir uns auf den Plastikplanen balgten, bis mehr daraus wurde als eine Balgerei.

Aus diesen Erinnerungen zog ich so viel Glücksgefühl wie ich nur konnte, und speiste sie ins Blutsband. Vielleicht beruhigte ihn ja das Wissen, dass wir nach ihm suchten, und bewahrte ihn vor dem Verzweifeln.

Ich wünschte, ich könnte auf dem Parkstreifen anhalten und weinen, aber dafür war keine Zeit. Ich schluckte meinen Schmerz hinunter und hielt die Augen auf der Straße.

Was würde passieren, wenn Max ihn erwischte? Anne hatte sehr überzeugt geklungen, als sie sagte, er würde Nathan nicht ausschalten. Sie war allerdings auch davon überzeugt gewesen, dass das Orakel niemanden verletzen würde? Die Vorstellung, dass Max Nathan etwas antat … ich war nicht sicher, ob ich je wieder ein Wort mit ihm reden könnte, wenn das geschah.

Dann gab es das Problem mit Cyrus. Es war leicht gewesen, meinen Groll gegen ihn sterben zu lassen, als ich davon ausging, dass er tot war. Aber wie sollte ich es durchstehen, ihn möglicherweise wiederzutreffen? Würde er immer noch diese kranke, verführerische Macht über mich haben?

Es gab nur sehr wenig, was ich fürchtete, seit ich selbst zu den nächtlichen Schreckgestalten gehörte. Unglücklicherweise gehörte mein früherer Schöpfer zu dem sehr Wenigen. Cyrus hatte eine Macht über mich, die stärker war als alle Blutsbande. Er ließ mich glauben, dass er mich brauchte, und dass ich die gleiche Macht über ihn haben könnte. Für jemanden, der im Leben nichts lieber wollte als diese Art der Kontrolle, wäre dies jetzt ein wahr gewordener Traum. Wie würde ich auf ihn reagieren, jetzt, wo er ein Mensch war und mich wirklich brauchte?

Vorausgesetzt, er war noch Mensch, wenn ich dort ankam. Eigentlich konnte ich mir kaum vorstellen, dass er diesen Zustand lange hinnahm.

Draußen hinter den Scheiben flogen die Kilometer vorbei. Ich hatte nie verstanden, warum man diese Landschaft Rolling Plains nannte. Hier rollte nichts. Alles erstreckte sich endlos in die Nacht hinein. Nur gelegentliche Farmen und kleine Städtchen widerlegten den Eindruck, dass man sich gar nicht vom Fleck bewegte.

So kurz vor der Dämmerung wie möglich fuhr ich auf einen Rastplatz, keine Ahnung, in welchem Bundesstaat ich mich befand, und kroch durch die schweren Trennvorhänge nach hinten, um zu schlafen.

Mehr aus Einsamkeit als aus Hoffnung überprüfte ich noch einmal das Blutsband.

Wir kriegen das hin, Nathan. Ich verspreche dir, wir kriegen das hin.

Zunächst spürte ich überhaupt nichts, nicht mal das zarte, fremdartige Ziehen, das ich bei meinen vorigen Kommunikationsversuchen wahrgenommen hatte. Aber dann hörte ich ihn.

Hilf mir.

Seine Antwort war schwach, aber ich wusste, dass er es war und nicht meine verrückte Vorstellungskraft. Es war eindeutig Nathan.

Und er litt unvorstellbare Qualen.

Cyrus erwachte bei Sonnenaufgang. Mouse lag an seine Seite geschmiegt, den Anflug eines Lächelns im schlafenden Gesicht. Wovon auch immer sie träumte, er hasste den Gedanken, sie zu wecken.

Um sie nicht zu stören, erhob er sich so behutsam er konnte und ging ins Badezimmer. Leise schloss er die Tür, dachte dann an die Biester dort oben und öffnete sie wieder einen Spalt, damit er hören konnte, falls sie herunterkamen. Obwohl er sicher war, dass seine Gegendrohung Eindruck gemacht hatte, wusste er doch aus Erfahrung, dass ein Vertrag mit einem Vampir nie wirklich ein Vertrag war.

Vorsichtig drehte Cyrus den Hahn der Badewanne auf und hoffte, das Rauschen des Wassers würde Mouse nicht wecken. Sie hatte ein Recht auf Schlaf. Jeder Moment, in dem sie schlief, war ein Moment, in dem sie nicht über ihre schreckliche Lage nachdenken musste.

Obwohl er wusste, dass sie einen Namen hatte, konnte er sich nicht überwinden, an sie als ‚Stacey‘ zu denken. Schon gar nicht ‚Stacey Pickles‘. Er verzog das Gesicht. Sie verdiente einen besseren Namen als ‚Mouse‘, aber er passte zu ihr und er konnte sich keinen besseren ausdenken.

Er stieg ins Wasser und glitt tiefer, um seinen Kopf unterzutauchen. Das Gefühl, vollständig von Wasser umgeben zu sein, hatte er immer genossen, aber im Augenblick konnte er es nicht aushalten. Seine sterblichen Lungen lechzten nach Luft, und jedes gedämpfte Geräusch schien bedrohlich. Rasch setzte er sich auf und rang nach Luft.

Als Mouse von der Wanne zurückprallte, war er völlig verblüfft. Er hatte sie nicht hereinkommen hören, und seine mangelnde Wachsamkeit beängstigte ihn. „Du hast mich erschreckt.“

„Entschuldigung“, sagte sie leise. Noch immer trug sie das T-Shirt, in dem sie geschlafen hatte, ihre mageren Beine ragten unter dem kurzen Saum hervor, der ihr wenig Schamgefühl ließ. „Ich hörte dich aufstehen und wollte nicht allein sein.“

Cyrus lehnte sich in der Wanne zurück und ließ den Arm über den Rand hängen. „Schon in Ordnung.“

Behutsam machte sie einen Schritt nach vorn. „Die Tür war offen. Ich wusste nicht, dass du …“

„Du störst mich nicht.“ Er hatte sie gern in der Nähe. So wusste er, dass sie sicher war.

Ihre Blicke streiften seinen nackten Körper unter Wasser und sanken dann auf den Fußboden, als sie an seiner Seite niederkniete. Er streckte seine feuchte Hand aus und streichelte langsam ihr Haar. Sie platzte heraus: „Heute ist mein Geburtstag.“

„Im Ernst?“ Warum ihn das tatsächlich interessierte, konnte er nicht nachvollziehen. Die Gefangenschaft tat Seltsames mit ihm. „Wie alt bist du?“

Sie nickte gewissenhaft und lehnte sich gegen die Wanne, als wäre es sein lebendiger Körper. „Neunzehn.“

„Neunzehn, und du bist …“ Cyrus wollte eine Bemerkung über ihre Unberührtheit machen, begriff dann aber, dass sie das vielleicht treffen könnte. Bei jemand anderem hätte ihn das nicht gestört – ein weiteres gefährliches Anzeichen, das er zu ignorieren beschloss. „Du bist erst neunzehn?“

„Wie alt bist du?“ Sie sah mit erschrockenen ernsten Augen zu ihm auf.

Mittlerweile kannte er diesen Blick und zog seine Hand zurück. „Ich weiß nicht. Ich schätze, ich war so siebenundzwanzig, als ich ein Vampir wurde. Über die folgenden Jahre habe ich nicht Buch geführt. Es waren sieben Jahrhunderte, wenn das weiterhilft.“

„Sieben …“ Sie würgte an dem Wort. „Ich dachte, ich wäre alt.“

Er lachte laut auf, weil ihre unschuldige Feststellung so absurd war. „Kaum.“

Mit einem Seufzer ließ sie eine Hand über den Wannenrand fallen und graziös durchs Wasser an seiner Seite gleiten. Ihre Finger kamen zentimeternah an ihn heran, und für einen Moment dachte er, sie würde ihn berühren. Sie tat es nicht. Er blickte in ihr Gesicht und versuchte ihre Absicht zu erraten, aber er fand kein Anzeichen von verstohlener Verführung oder nervöser Ängstlichkeit. Sie starrte auf die verrußte Steinwand, aber es war offensichtlich, dass sie nichts sah.

„Wie kannst du vergessen, wie alt du bist? Freust du dich denn überhaupt nicht auf deinen Geburtstag?“ Sie legte ihre Hand auf die gerundete Kante der Badewanne, dabei immer noch mit den Fingern im Wasser spielend. Ein schlanker Finger strich über seine Rippen. Es kostete ihn alle Willenskraft, nicht zu zucken.

„Ich weiß nicht, wann ich Geburtstag habe. Meine Mutter starb wenige Tage nach meiner Geburt. An einem Fieber. Mein Vater nahm eine neue Frau, die wusste nicht, an welchem Tag ich geboren war, und mein Vater hat es nicht protokolliert.“

Mouse wandte ihm das Gesicht zu, sie wirkte den Tränen nahe. „Das ist so traurig.“

„Nicht wirklich“, versicherte er. „Geburtstage bedeuteten damals nicht viel. Es gab nicht so viel Gefühlsduselei darum wie heutzutage.“

„Du kannst immer noch einen haben“, bot sie euphorisch an. „Du nimmst einfach den Tag, an dem sie dich zurückgeholt haben. Oder den Tag, an dem sie …“

„Lass uns nicht davon reden.“ Ihm war es einfach unangenehm, dass sie Kenntnis von seiner Vampirwelt bekam. Er wollte keines dieser besudelten, dreckigen Worte von ihren Lippen kommen hören und zwang sich zu einem Lächeln: „Ich habe gute Neuigkeiten.“

Dass sie darauf nicht anbeißen würde, hatte er schon vorher gewusst. Um ihre Hoffnung zu wecken, müsste er ihr schon die zerschmetterten Leichen der Fangs präsentieren. Aber dann konnte sie der Versuchung doch nicht widerstehen. „Was denn?“

„Als ich letzte Nacht mit der Vampirfrau sprach, sagte sie, dass sie uns mehr Verpflegung beschafft.“ Besorgt blickte er auf seinen mageren Bauch. Er musste seine Nahrungsaufnahme überwachen, aber er könnte auch fett werden. Das war etwas, worüber er noch nie hatte nachdenken müssen.

„Woher nehmen sie die Lebensmittel?“ Mouse’ Miene wurde besorgt.

Was war mit ihr los? Wollte sie verhungern? „Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie noch was hier. Das ist doch eine Kirche. Gibt es hier keine Almosen für die Armen?“

„Die Vorratskammer ist für die einkommensschwachen Familien der Gemeinde da.“

„Ja, und die glauben, dass sie abgebrannt ist.“ Er runzelte die Stirn. „Mouse, uns bleibt nicht viel übrig.“

„Mouse?“ Ein zögerliches Lächeln huschte über ihre Lippen. „Warum nennst du mich so?“

Verdammt. Bisher hatte er sie noch nie anders als mit ‚du da‘ angesprochen. „Weil du mich an eine Maus erinnerst.“

Eilig versuchte er, sich zu korrigieren, als er sah, wie tief gekränkt sie war. „Nicht körperlich. Aber du bist so still. Wenn du willst, dass ich dich …“

„Nein. Nenn mich ruhig Mouse. Ich hatte noch nie einen Spitznamen.“ Ihr Lächeln blühte auf, als wüsste sie von einem Geheimnis, das er nicht kannte. „Es ist ein gutes Geburtstagsgeschenk.“

Sie saßen in der Stille, das einzige Geräusch war das gelegentliche Tropfen aus dem Wasserhahn.

„Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei, das Essen anzunehmen.“ Sie sah ihm in die Augen. Etwas Neues funkelte da. Eine innere Flamme, die brannte, um die Hoffnungslosigkeit zu bannen, der sie vorher erlegen war. „Aber ich werde es trotzdem essen, denn jetzt ist Not am Mann.“

„Oder an der Frau.“ Cyrus griff nach der Seife. „Es freut mich, dass du Vernunft annimmst.“

Sie zuckte die Achseln. „Du hast versprochen, dass mir nichts passiert. Du bist das Beschützerähnlichste, was ich habe, deshalb glaube ich dir.“

Sein Herz schmerzte bei der beschämenden Erinnerung, was er ihr angetan hatte, aber er würde keine Abbitte leisten. Gewissen hin oder her, er hatte auch seinen Stolz, und er würde nicht in Reue leben.

Cyrus beendete sein Bad und warnte Mouse, dass er aussteigen wollte, so konnte sie sich sittsam abwenden. Sie ging ins andere Zimmer, um sich umzuziehen, und nachdem sie fertig war, brachte sie auch ihm frische Sachen. Als er aus dem Bad kam, stand sie am Fuß der Treppe und spähte besorgt nach oben.

„Was ist los?“ Er berührte ihren Arm. Warum, wusste er nicht genau. Sie fuhr zusammen und nickte entschuldigend, als wollte sie ihm zeigen: Er war es nicht, der ihr Angst machte. „Sind sie … ich meine, werden sie rauskommen? Wenn wir da hochgehen?“

„Sie können nicht ans Licht, sie würden verbrennen. Wenn wir ans Tageslicht kämen, hätten wir gute Chancen.“

Erwartungsvoll kaute sie auf ihrer Lippe. „Also wenn wir erst mal draußen sind, dann … wären wir in Sicherheit?“

„Theoretisch schon.“ Worauf wollte sie hinaus?

Mouse begann, die Stufen hinaufzusteigen, aber langsam. Cyrus packte ihren Arm. „Was machst du?“

Sie hob den Zeigefinger an die Lippen. Er wollte ihr nicht folgen, aber ihre eigensinnige Zielstrebigkeit zog ihn mit. Eine Hand am Geländer, die andere um ihr Handgelenk, blieb er dicht hinter ihr. Ein paarmal blieb sie stehen. Er dachte schon, sie würde sich besinnen und umkehren, aber dann ging sie weiter, als hätte sie nur Mut geschöpft, um weiter vorzudringen.

Als sie das Vestibül betraten und die Kellertür hinter sich schlossen, verflüchtigte sich ihre Courage. Wie gelähmt vor Schrecken starrte sie auf die Türen des Heiligtums. Ein Kreidesymbol war auf das Holz gezeichnet. Cyrus konnte den Zweck nur erahnen.

„Sie können nicht herauskommen“, erinnerte er sie und deutete auf das Sonnenlicht, das sich über den Teppich ergoss. Wie dieser Anblick ihn einst entsetzt hatte, und wie harmlos er jetzt wirkte. Kein Wunder, dass sie Zweifel hatte, ob dieser Schutz wirklich schon genügte.

Vor den Ausgangstüren, die zu beiden Seiten von hohen schmalen Fenstern eingerahmt waren, blieb sie stehen. Und dann wusste er, warum sie ihn hierher geführt hatte. Ihre sonst resigniert gekrümmten Schultern strafften sich. Ihr Gesicht erschien weniger müde und traurig, und als sie die raue Landschaft draußen betrachtete, breitete sich sogar ein fröhliches Lächeln darüber.

„Wir können entkommen.“ Energisch griff Cyrus nach der Klinke.

Doch sie packte sein Handgelenk und bremste ihn. Ihre Schultern sackten zusammen, und ihr Gesicht trug wieder den traurigen, gehetzten Blick, den er schneller erkannte als Hoffnung. „Es hat keinen Sinn.“

„Doch! Sieh doch hin! Wir können durch diese Tür gehen und Hilfe finden.“ Seine Hände zitterten, als er sie auf den metallenen Riegel legte. Er betete, dass kein Alarm losging. Es gab ein schwaches Klicken und ein Quietschen von Scharnieren, dann lag in Gestalt einer öden Wüstenstraße die Freiheit vor ihm. Sein Herz sank, aber er unternahm noch einen verzweifelten Versuch. „Es kann doch bis zur nächsten Stadt nicht so weit sein.“

Sie schüttelte den Kopf. „Acht Kilometer.“

„Acht Kilometer? Ist das alles?“ Selbst als Mensch würde er acht Kilometer mühelos gehen können. Acht Kilometer. Er könnte sie acht Kilometer tragen! „Lass uns keine Zeit verschwenden!“

„Nein.“ Sie schüttelte traurig den Kopf.

„Warum nicht?“ Er fühlte die alte Gewalttätigkeit in sich aufsteigen, ein wilder Impuls, ihr das Genick zu brechen und sich selbst zu retten.

„Wir sind in Death Valley. Niemand überlebt das. Acht Kilometer durch brennende Wüste. Nach einer halben Stunde bist du tot.“ Ihre Augen erloschen, und sie ließ den Kopf hängen. „Es ist hoffnungslos.“

„Nein!“ Panik wuchs in seiner Brust. Sie waren so nah dran. „Was ist mit trampen? Was, wenn wir …“ Er sah auf die Straße hinaus, und ihm wurde bewusst, dass in der ganzen Zeit, die sie hier standen, kein Auto vorbeigekommen war. Er musste sie nicht ansehen, um ihre schweigende Verneinung zu verstehen.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Am Tag kann man es nicht schaffen, und in der Nacht …“

„Nachts kriegen sie uns.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Schön. Es war ein guter Plan, zumindest für einen Moment.“

Unschlüssig stand sie im Weg. „Wenn du zu fliehen versuchst, würdest du mich mitnehmen?“

„Na klar“, sagte er und spürte bis in die Knochen, dass das die Wahrheit war. Warum, das wollte er sich lieber nicht eingestehen.

Herausfordernd intensiv blickte sie ihn an. Was würde sie als Nächstes tun? Würde sie schreien? Würde sie ihn küssen? Langsam neigte sie sich ihm entgegen, da gab es plötzlich einen Tumult hinter den Türen zur Kirche. Wütende Stimmen erhoben sich, dann erklang der Schrei einer Frauenstimme.

Bevor sie sich rühren konnten, wurde die Tür aufgerissen, und eine Frau stürzte über die Schwelle, nackt bis auf zerrissene Fetzen eines BHs. Bisswunden verunstalteten jeden Zentimeter ihrer Haut. Ihre Lippen waren blau, ihre Glieder fleckig. Dies war ihr Todeskampf.

Mouse erstarrte an seiner Seite, die Augen weit vor Schreck. Die Frau taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf sie zu und fiel zu Boden. Aus dem Schatten der Türen starrten die Fangs sie gierig an.

„Sie schaffen es nicht bis hierher“, erinnerte Cyrus, griff ihre Hand und zog sie zur Kellertür. Er hoffte inständig, dass sie keinen Weg gefunden hatten, die Gesetze der vampirischen Natur zu umgehen. Wenn doch, waren er und Mouse geliefert.

Ein ausgemergelter Vampir mit hohlen Augen und dichten Stoppeln am Kinn bekam den Knöchel der sterbenden Frau zu fassen und zerrte. Sie hob den Kopf und öffnete riesige, tränengefüllte Augen. Ihre gesprungenen Lippen formten ein einziges stummes „Bitte“. Verzweifelt grub sie die Finger in den Teppich und schrie, als der Fang sie zurück ins Allerheiligste zog.

„Ihr da, runter mit euch!“, knurrte ein anderer Vampir sie an. Im nächsten Moment wurden die Türen zugeschlagen, und sie waren wieder allein.

„W-was?“, stammelte Mouse, dann sackte sie schwer gegen Cyrus. Kurz darauf begriff er, dass sie in Ohnmacht fiel, aber seine Kraft reichte nicht aus, um ihr Gewicht zu halten. Er versuchte es bis zur Kellertür zu schaffen, aber sie fielen hin – dort, wo die halbtote Frau bei ihrem verhängnisvollen Fluchtversuch gelandet war. Er blickte auf den Teppich. Fingernägel. Sie hatten sich in den Teppichfasern verfangen und waren ihr aus den Händen gerissen worden, als sie verzweifelt versucht hatte, sich festzuhalten.

Mouse hob den Kopf, und ihr Keuchen sagte ihm, dass auch sie es gesehen hatte. „Warst du … als du …“

„Nein.“ Cyrus konnte ihr jetzt nicht in ihr entsetztes Gesicht sehen. „Nein, ich war noch viel schlimmer. Diese da haben zu mir aufgesehen, auch wenn mich jetzt überhaupt nichts mehr mit ihnen verbindet.“

Mit aller Kraft zog sie sich hoch, taumelte. „Wir sollten runtergehen. Vielleicht geht bald die Sonne unter, und sie sind wütend.“

Sonnenlicht oder nicht, sie waren so oder so verloren, wie Cyrus auf dem Rückweg in ihre Kellergefangenschaft begriff. Die Fangs zeigten einen schrecklichen Erfindungsgeist, indem sie ihn und Mouse gerade hier festhielten. Natürlich hatten sie mit Bedacht einen Ort wie diesen gewählt, wo das Klima ihre Gefangenen über Tag einzäunte, während ihre Bewacher höchst verwundbar waren.

Cyrus und Mouse saßen wirklich schön in der Falle. Die Ausweglosigkeit der Lage, die ihm bis jetzt eher unangenehm und lästig erschienen war, drang Cyrus endlich ins Bewusstsein. Mouse, das zarte Rettungsfloß, an dem er hing, würde diese Episode nicht überleben. Der Gedanke war unfassbar. Er, der in früheren Zeiten mit so viel sadistischer Freude gemordet hatte, würde sicher verschont bleiben, weil es dem Willen seines Vaters entsprach. Sie jedoch, die ihre Unschuld, ihren Körper und ihre Seele bewahrt hatte, würde als Opfer der Umstände sterben.

Doch er konnte das nicht zulassen. Obwohl dieses Eingeständnis ihn aufschreckte, war es unglücklicherweise die bittere Wahrheit. Als er Angie sagte, dass Mouse’ Tod den seinen nach sich ziehen würde, entsprach das ebenfalls der Wahrheit. Selbst wenn ihm klar war, dass ihre gemeinsame Situation großen Einfluss auf seine Gefühle hatte und seine Bindung an sie verstärkte – er konnte nicht länger leugnen, dass der Gedanke, sie zu verlieren, ihn gehörig aus der Fassung brachte.

Und vielleicht war das beängstigender als die Mordlust der Fangs und die dubiosen Ziele seines Vater zusammen.