7. KAPITEL

Konsequenzen

„Wie um alles in der Welt konnten Sie so verantwortungslos handeln?“ Breton tigerte hinter seinem Schreibtisch auf und ab und erinnerte mich in seinem selbstgerechten Zorn an Nathan. Ich fragte mich, ob alle Vampire der Bewegung so zickig waren, oder nur die britischen.

„Um Max zu verteidigen, General, es war Anne, die mich zum Orakel gebracht hat“, wandte ich ein, nur um von Breton mit einem stählernen Blick bedacht zu werden.

„Ja, das weiß ich. Und dafür wird sie bestraft werden. Was Sie angeht, können Sie sich glücklich schätzen, wenn ich niemand rufen lasse, der Sie pfählt, oder das am besten gleich selbst in die Hand nehme.“ Breton schleuderte den Stapel Papiere, den er gepackt hatte, von sich. Mit lautem Klatschen traf er den Schreibtisch und fledderte uns vor die Füße. „Ihre Reisepapiere. Es ist alles geregelt.“

„Wow, was ist das?“ Max griff nach einem rosa Durchschlag.

„Der Befehl, der Sie vom Galbraith-Auftrag abzieht.“ Bretons Lippen zuckten, und ich wusste, dass er ein befriedigtes Grinsen unterdrückte, der blasierte Bastard.

„General, bitte!“ An meinen Seiten ballte ich die Hände zu Fäusten. „Das Orakel hat mir einen Hinweis gegeben. ‚Suche die Scharfzahnigen im Land der Toten.‘ Das liefert uns einen neuen Ansatzpunkt. Und sie ist sich sicher!“

„Sicher?“, höhnte Breton. „Und womit, verdammt, ist sie sich sicher?“

„Dass der Souleater etwas im Schilde führt.“ Ich blinzelte verzweifelt, denn der Glanz der polierten Schreibtischkante blendete mich. Wie viel von dem, was ich sagte, entstammte tatsächlich der Information des Orakels, und was erfand mein Verstand hinzu, indem er verzerrte, was ich gehört hatte? „Ich kann Ihnen nicht sagen, was oder warum, aber Sie müssen mir glauben. Was auch immer mit Nathan vorgeht, der Souleater steckt dahinter!“

„Soweit ich sehen kann, ist das einzige Problem mit Mr. Galbraith, dass er getötet hat. Zwei Mal.“ Breton legte die Fingerspitzen aneinander und ließ seine Hände auf dem Tisch ruhen. „Aber jetzt werden seine Freunde zu meinem Problem. Mr. Harrison, Sie sind von dem Fall suspendiert. Ich werde eine unvoreingenommene dritte Partei beauftragen.“

„Das können Sie nicht machen!“, stieß ich hervor. „Es war nicht Max’ Fehler und auch nicht Nathans! Er verdient Besseres als von einem x-beliebigen Killer getötet zu werden!“

„Was Mr. Galbraith verdient“, brüllte Breton los und beugte sich über seinen Schreibtisch, bis sein wutverzerrtes Gesicht wenige Zentimeter vor meinem war, „ist in Schrecken zu sterben, wie es seine Opfer taten!“

An meiner Seite fühlte ich Max’ strenge Präsenz, bevor er die Hand auf meinen Arm legte. „Lass uns gehen. Es gibt nichts, was wir jetzt noch tun könnten.“

Auf dem Weg zum Flughafen schwiegen wir. In der Eile waren wir zu knapp vor Sonnenaufgang aufgebrochen, und je heller es wurde, desto größer wurde unsere Anspannung. Als wir das Rollfeld erreichten, mussten wir zum Flugzeug spurten, wo die rasend schwirrenden Turbinen des Jets bereits laut dröhnten.

Die offizielle Begründung für unsere schnelle Abfertigung seitens der Bewegung war die Gewährleistung unserer Sicherheit, nachdem wir mit dem Orakel aneinandergeraten waren. Um uns ‚aus ihrer unmittelbaren telepathischen Reichweite‘ zu bringen, wie sie sagten. Obwohl ich wusste, dass Breton in Wirklichkeit verdammt sauer auf mich war, freute ich mich, dass wir verschwinden konnten. Wir hatten verdammt wenig Reserven und eine anscheinend unlösbare Aufgabe vor uns. Tagelang im Hotelzimmer auf Neuigkeiten zu warten, hätte mich um den Verstand gebracht – vor allem weil ich wusste, dass inzwischen ein anderer Vampirjäger nach Nathan suchte.

Gerade noch rechtzeitig gelang es uns, die Treppe zum Flugzeug hinaufzustürzen. Die heiße spanische Sonne stieg schon über den Horizont, als die Flugbegleitung die Luke schloss. Eine dünne Rauchfahne stieg von ihrem Handrücken auf, wo sie das Sonnenlicht getroffen hatte.

„Was zum Teufel hast du dir nur dabei gedacht?“ Max warf der Frau einen scharfen Blick zu, und sie verstand den Wink, die Sicherheitsbelehrungen zu überspringen.

„Ich hab mir gedacht, dass es vielleicht ein Weg ist, Antworten zu bekommen!“ Ich setzte mich in einen der Sessel. Eigentlich wollte ich stehen, war aber zu erschlagen. „Wenigstens einer von uns musste das doch versuchen!“

„Ach, dann ist das alles mein Fehler?“ Max lachte sarkastisch. „Jetzt ist ein anderer Killer unterwegs, und wir sind aus dem Verkehr gezogen, Carrie! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir wenigstens Zeit gewinnen können.“

„Nein, hätten wir nicht!“ Für einen kurzen Moment vergrub ich das Gesicht in den Händen. Dann sah ich ihn ernst an. „Das hätte nichts gebracht. Cyrus ist am Leben.“

Max’ Augen wurden schmal. Er hob die Hand und rieb sich sein ständig stoppeliges Kinn, während er mich unsicher und mit leisem Argwohn ansah. „Unmöglich.“

Ich kämpfte Tränen der Erschöpfung nieder. „Das Orakel hat es mir erzählt. Und diese Tatsache erklärt mir, warum ich diese Träume habe. Max … sie sagte mir Sachen.“

„Hat sie dir diese Sachen erzählt, bevor sie Anne das Rückgrat brach?“ Max wanderte hin und her wie ein Tiger im Käfig. „Vier Mal. Vier Mal! Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt.“

„Es ist kein Wunder.“ Mit hörbarer Resignation atmete ich aus. „Das Orakel wusste genau, was sie tat. Anne sagte, dass sie ihr schon vor Jahren durch eine Vision mitgeteilt hat, dass sie ihr viermal das Rückgrat brechen wird. Anne hat diese Vision nicht ernst genommen. Es war kein Unfall.“

„Gottverdammte Scheiße, und ob es ein Unfall war!“

„Max, krieg dich in den Griff!“ Mein strenger Ton überraschte mich selbst, und für einen Augenblick starrten wir uns verblüfft an.

Er erholte sich zuerst, wenigstens etwas. „Also gut.“

„Was meinst du mit ‚also gut‘?“ Ich fühlte meine Hysterie wieder aufsteigen. „Cyrus ist am Leben. Aber ich habe ihn umgebracht. Du warst dabei. Wir beide haben ihn sterben sehen. Wie kann er am Leben sein?“

Max zuckte die Achseln. „Das ist nicht so abwegig. Ich weiß, dass es Methoden für so was gibt, aber wer würde diesen Scheißkerl zurückholen wollen?“ Das Anschnallpflicht-Lämpchen leuchtete über uns auf, und Max dirigierte mich zur Couch.

„Also, wo wollen wir jetzt hin?“ Ich versuchte tapfer zu klingen, als ich mich neben ihm niederließ.

„Carrie“, sagte er sanft, als wollte er mich auf das Schlimmste vorbereiten. „Du weißt doch, was passiert, wenn ich der Bewegung nicht gehorche.“

„Und du weißt besser als ich, was passiert, wenn du ihnen gehorchst und meinen Schöpfer tötest.“ Ich hatte das alles so satt. Ich hielt es einfach nicht mehr aus, auch wenn ich wusste, dass wir nur ein kleiner Schritt auf einer sehr langen Reise waren. Die ständige Unsicherheit laugte mich aus, warf Schatten des Zweifels auf jeden Gedanken und jede Tat, bis ich nur noch wünschte, das Ganze wäre endlich vorbei, sei es auch ein Ende mit Schrecken. Denn dann hätte ich wenigstens Gewissheit. Ich müsste nicht ständig fürchten, Nathan zu verlieren, obwohl ich ihn vielleicht längst verloren hatte, müsste nicht dauernd meine Hoffnung im Keim ersticken, wenn sie sich tatsächlich erfüllt hatte.

Max’ kräftige Arme schlangen sich um mich und drückten mich an seine Brust. Seine Stimme zitterte nur leicht, als er mir ins Ohr flüsterte. „Vielleicht kommt es nicht so weit.“

„Wie ist der Plan? Ich ertrage es nicht mehr, still in Deckung zu bleiben.“ Ich schniefte ein bisschen, aber das lag an der Recyclingluft der Kabine, die in meinen Atmungsorganen Verwüstungen anrichtete, und nicht daran, dass meine Gefühle mich überwältigten.

„Ich weiß, das fällt dir schwer.“ Er machte eine Pause. „Was hat das Orakel dir erzählt?“

„Sie sagte, ich soll ‚die Scharfzahnigen im Land der Toten suchen‘. Alles, was mir dazu einfällt, ist, dass sie die Fangs meinen muss.“ Ich verzog das Gesicht beim Gedanken an die unflätige Vampirbande, die ich in Cyrus’ Herrenhaus getroffen hatte. „Glaubst du, die können einen vom Tod zurückholen?“

Max seufzte auf. „Unglücklicherweise ja. Sie haben einst als mystische Verschwörung angefangen, haben sich ausgiebig mit zeremonieller Magie, Erweckung von Dämonen und solchem Zeug befasst, bevor ihre Motorrad-Leidenschaft dazukam. Heutzutage sind sie eine hübsche, gesunde Mischung aus beidem. Von Magie verstehen sie immer noch genug, um der Bewegung Angst zu machen und einen Großteil ihres Trainings widmen sie tatsächlich okkultistischen Studien.“

„Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen“, sagte ich, und meine Stimme troff vor Sarkasmus. „Na fein, und wären sie auch fähig, den Souleater in einen Gott zu verwandeln? Das war nämlich die andere Bombe, die das Orakel geworfen hat.“

„Einen Gott?“ Max’ Augen traten hervor bei der Vorstellung. „Ich … hoffe nicht.“

„Na, herrlich.“ Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen, um meinen Verstand zu beruhigen. Wenn ich jetzt schon fand, dass das unmöglich war, wie würde es mir dann gehen, wenn wir tatsächlich in eine Lage gerieten, in der wir dieses Chaos entwirren mussten?

„Die Sache ist die, sie haben diese Hexen“, erläuterte Max weiter. „Sie schulen sie immer noch emsig. Du weißt, wie übel es ausgehen kann, schon wenn man es nur mit einer zu tun bekommt.“

Autsch. Hexen. Schon der Gedanke bereitete mir eine Gänsehaut. Die Granulatmüsli knabbernden Erdanbeterinnen, die zur Stammkundschaft von Nathans Laden gehörten und sich Hexen nannten, hatten keinen Schimmer von den wahren Kräften, die da draußen existierten. Aber leider gab es diese beängstigende Macht, die von so großer Zerstörungskraft war, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Bis ich Dahlia begegnete.

Dahlia war Cyrus’ inbrünstigste Verehrerin gewesen, bis er einen Fehler gemacht und versucht hatte, sie auf einer Dinnerparty als Hauptgang zu servieren. Sie schaffte es, verwandelt zu werden, und ich möchte nicht wissen, was dem armen Vampir widerfuhr, der sie mit seinem Blut versorgt hatte. Danach wurde sie ein bisschen ruhiger. Sie war immer noch irgendwo da draußen, versehen mit der Macht einer wahren Zauberin und der Stärke der Untoten.

„Könnte Dahlia dabei ihre Finger im Spiel haben?“, fragte ich.

Der Gedanke an sie war Max sichtlich unbehaglich. Er war in der Nacht, in der ich Cyrus tötete, ihrer Gnade anheimgefallen, aber irgendwie entkommen. Ich wollte gar nicht wissen, was sie ihm angetan hatte, um diesen gehetzten Blick zu verursachen. „Glaubst du, sie würde ihn zurückholen wollen?“

Dahlia wäre nicht fähig gewesen, Cyrus zu töten, aber sie wollte seinen Tod. Sicher empfand sie eine verdrehte Art von Liebe für ihn. Aber sie war auch unberechenbar wie der Wind.

„Wahrscheinlich nicht“, musste ich zugeben, was meine eigene Frage beantwortete.

„Schön, lass uns mal über das ‚Land der Toten‘ nachdenken. Ich weiß, die Fangs mögen die Gegend um Barstow, unten in Kalifornien. Ich wurde da ein paarmal mit Aufträgen hingeschickt. Es ist schön tot alles da unten.“ Er machte mit den Fingern Gänsefüßchen um das Wort tot.

Langsam nickte ich. „Was meinst du, ob wir da runterfahren und es rausfinden?“

Ich kann nicht auf Reisen gehen. Ich denke, von uns beiden habe ich die besseren Chancen herauszufinden, was mit Nathan passiert ist. Du hingegen …“

Energisch schüttelte ich den Kopf. „Nicht alleine!“

„Nathan hat dich gelehrt, selbst auf dich aufzupassen“, erinnerte mich Max. „Er lehrte dich zu kämpfen. Du riskierst vermutlich weniger, wenn du im Nirgendwo nach Cyrus suchst, als wenn du in deiner Wohnung sitzt und die Vampirjäger dich einkreisen.“

Ich wollte darauf verweisen, dass Nathan mir nur Selbstverteidigung beigebracht und mir nicht den Zivilistentrottel ausgetrieben hatte, aber Max hatte recht. Es würde mich nicht umbringen, nach Barstow zu fahren. Es war verdammt viel leichter, als herumzusitzen und zu warten, dass irgendwer Nathan erwischte und zur Strecke brachte. Ich war noch nie gut als Mädchen in Nöten, ich war eher ein Mädchen, das mit anpackte.

„Ich frage mich, wen sie wohl auf Nathan ansetzen.“

Max schnupperte plötzlich. „Riechst du das?“

Für eine Sekunde fragte ich mich, ob die Stewardess still und leise im Gang verbrannt war, doch dann prüfte ich meine Wahrnehmung genauer. Das war nicht der verkohlte Würstchengeruch von brennendem Vampirfleisch. Es roch eher wie ein exotisches Parfum.

Jedenfalls war es nicht so beunruhigend, dass wir es nicht hätten ignorieren können. „Nein, ich riech nichts Schlimmes.“

„Bist du sicher, dass du das nicht riechst?“ Max stand auf. „Komm hoch und sieh dich um.“

„Was ist mit der Anschnallpflicht?“, fragte ich zögernd.

„Lass es drauf ankommen.“ Es war kein Funken Humor in seiner Stimme. Er schritt zur Kabinentür, und ich folgte ihm dicht auf den Fersen. Die Stewardess, die gerade ihre verbrannte Hand verpflasterte, sprang bei unserem Anblick auf.

„Ist irgendjemand außer uns in diesem Flugzeug?“, bellte er.

Sie zuckte die Achseln. „Nun, die Piloten. Aber sonst …“

Max ließ sie stehen, um selbst nach zu sehen. Wir teil ten uns den Rest des Flugzeugs zur Durchsuchung auf – ich wusste gar nicht, wonach ich suchte, aber Max war so in Fahrt, dass ich nicht zu fragen wagte. Er übernahm das Cockpit und den Gang, während ich die Schlafkabine unter die Lupe nahm. Obwohl unser Aufbruch bei der Bewegung eher überstürzt vonstatten gegangen war, hatte jemand uns mit einem in Zellophan verpackten Früchtekorb bedacht.

Das wäre schön, wenn wir Vampirhäschen wären wie Kanicula. Die Anspielung zog bittersüße Erinnerungen nach sich. Ich hatte das Kinderbuch in jener Nacht entdeckt, als Nathan mir half, Cyrus zu entkommen. Damals war Ziggy, Nathans Adoptivsohn, gestorben. Ich sank auf das Bett, erschüttert vom Gewicht meiner Trauer und dem Herzschmerz, den ich für ihn in dieser Nacht empfunden hatte.

„Du denkst, ich lass ihn sterben?“ Nathans anklagende Stimme hallte in meinem Kopf. Ich sagte grausame, bittere Sachen zu ihm, aber am Ende war es eine Art Katharsis für uns beide gewesen. Er war zusammengebrochen und hatte geweint, und ich hatte ihn in den Trümmern des Frühstücks, das er in seiner Wut zerstört hatte, im Arm gehalten. Uns war das Blut ausgegangen, und wir mussten auf menschliche Nahrung zurückgreifen, ehe wir den letzten Beutel tranken, den Ziggy zurückgelassen hatte.

Mit schmalen Augen schielte ich auf den Früchtekorb. Menschennahrung war der letzte Ausweg. Ein Vampir hätte eher einen hübschen, körpertemperierten Beutel Nullnegativ als zuvorkommende Geste empfunden.

Max kam herein, als ich gerade den Korb an mich nahm.

„Miststück! Ich wusste doch, dass ich einen Hund gerochen habe.“ Er trat gegen das Bett und setzte sich dann auf den Rand, während ich das Zellophan aufriss.

„Ich glaube, es heißt ‚den Braten riechen‘, nicht einen Hund“, murmelte ich. In dem Korb waren Äpfel, Kirschen, Orangen – und ein Strauß aus Pflanzen mit schmalen Lanzettenblättern und haselnussgroßen grünen Kapselfrüchten. Mir entglitten die Züge. „Oh.“

„Wolfsmilch“, knurrte Max mit höhnischem Grinsen. Er ergriff den Strauß und schleuderte ihn zu Boden, dann stampfte er ihn mit dem Absatz in den Teppich.

Ich folgte ihm zurück in die Kabine, wo wir uns gerade rechtzeitig zum Start anschnallten.

„Sie war hier. Sie will, dass wir wissen, dass sie hier war. Und sie hat immer noch einen Vorsprung“, sagte er mit lauter Stimme, um das Heulen der Motoren zu übertönen, als wir uns in den Himmel erhoben. „Ich hätte es in der Sekunde wissen müssen, als ich das Miststück in Bretons Büro antraf. Er hatte nie die Absicht, mich auf Nathan anzusetzen, nicht mal, als er mir den Exekutionsbefehl aushändigte. Bella hatte den verdammten Job schon längst! Sie ist einfach in einen anderen Jet gehüpft und gestartet, während wir noch im Hauptquartier waren. Sie hatte sogar noch Zeit, uns ein ‚Geschenk‘ zu hinterlassen.“

Ich konnte mich nur im Sitz zurücklehnen und versuchen, mich zu beruhigen. Die Bewegung sabotierte uns. Der Souleater war auf dem Wege, ein Gott zu werden. Mein erster Schöpfer hatte sich von den Toten erhoben, mein zweiter wurde von Profi-Killern gejagt. Und die Einzige, die sich all diesem Chaos in den Weg stemmen konnte, war ausgerechnet ich.

Die Nacht zog auf, und Cyrus stellte fest, dass er die Gesellschaft von Mouse genoss. Sie hatte, so gut es ging, ein annehmbares Mahl für sie zubereitet. Das hieß zwar nicht viel, trotzdem würdigte er ihre Bemühungen.

Außerdem war sie eine angenehme Unterhalterin. Er hatte gedacht, es wäre schlimm, dass sie ihn nicht mehr fürchtete, aber jetzt empfand er ihr Geplapper als anregende Art, die Zeit totzuschlagen. Sie wurde immer noch schnell gefühlsduselig, das war störend, aber er baute darauf, dass das vielleicht noch nachließ. Während des Essens hatte sie von ihrer Familie erzählt, oder was davon übrig war. Mouse war Vollwaise. Ihre Eltern waren beide gestorben, woran, sagte sie nicht. Es gab noch eine Schwester. Die war nach Los Angeles gegangen, um Schauspielkarriere zu machen, wurde aber vom schnellen Geld der Pornobranche verführt. Das Letzte, was Mouse von ihr gehört hatte, war ihre Flucht aus einer gerichtlich verordneten Rehabilitationseinrichtung wegen irgendeiner Art von Drogenabhängigkeit.

Danach war Mouse’ einzige Familie die Kirche. Cyrus hatte dazu eine Grimasse geschnitten, und sie hatte das schwer persönlich genommen. Ihr Glaube hatte sie so lange durchhalten lassen, hielt sie ihm vor, und sie würde sich jetzt nicht dafür verspotten lassen.

Der glücklose tote Priester war neu in der Gemeinde gewesen. Er war im Begriff, sich zur Ruhe zu setzen, als er von der kleinen Gemeinde hörte, die in der einsamen Wüste ums Überleben kämpfte. Er hatte sich einverstanden erklärt, sie zu leiten, bis ein neuer Hirte gefunden war. Die Nonne gehörte der Gemeinde seit ihrer Gründung vor fünfundzwanzig Jahren an. Beide, so befand Cyrus, hatten einen ganz schlechten Zeitpunkt erwischt.

Mouse hatte ihm zugestimmt und auf ihr unberührtes Sandwich gestarrt. Erst als sie schniefte, bemerkte Cyrus, dass sie angefangen hatte zu weinen.

Cyrus hätte sie gern in die Arme genommen und ihre Nerven besänftigt. In den Händen dieser Monster hatte sie zu viel Schreckliches gesehen. Aber er hielt sich zurück. Er war noch immer nicht sicher, ob er ihr nicht etwas entsetzlich Grausames antun würde. Und das konnte er auf keinen Fall zulassen.

Es war nicht so, dass er es nicht mochte, ein Vampir zu sein. Er war so lange einer gewesen, dass er nicht mehr wusste, wie man etwas anderes war. Wenn er die Chance hatte, würde er das Menschsein vielleicht schätzen lernen. Und was sprach eigentlich dagegen, dass er das Leben als Mensch genauso genießen konnte wie das als Vampir? Der Schrecken seiner Lage hatte etwas nachgelassen, und er kam dazu, einfache menschliche Sinnesfreuden zu genießen. Es verlangte ihn jetzt lediglich nach Beständigkeit, nicht mehr nach Macht und Kontrolle. Er lachte bei geselligen Gesprächen und nicht mehr, weil er jemanden quälte. Als Mensch konnte er freundlich sein, und er fand es erstaunlich angenehm, freundlich zu sein.

Also hatte Cyrus das Einzige getan, was er konnte, hatte keine sanften Worte des Trostes gesprochen oder ihr versichert, dass alles gut würde, sondern einfach das Thema gewechselt.

„Wir sollten heute groß zu Abend essen“, verkündete er spontan. Als sie zu ihm aufsah, mit Tränenstreifen im Gesicht, die im Sonnenlicht glänzten, setzte er noch eins drauf in der Hoffnung, ihre Miene würde sich aufhellen. „Wir machen ein richtiges Erlebnis daraus. Ich finde, wir sollten meine Rückkehr in die Menschlichkeit feiern.“

„Mag sein“, hatte sie zögernd gesagt. „Aber wir sollten etwas von unserem Essen aufheben.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich kenne diese … Leute da oben. Ich habe einigen von ihnen mal einen Gefallen getan. Ich bin sicher, sie werden uns mehr geben.“ Sie hatte immer noch zweifelnd ausgesehen, und so hatte er hinzugefügt: „Die lassen mich nicht verhungern. Sie haben mich doch nicht umsonst wieder unter die Lebenden gebracht.“

Da hatte sie sich gefügt und eifrig begonnen, das Leben der Heiligen und Geschichten aus der Bibel zu diskutieren. Er hatte es toleriert, weil es ihr dabei besser ging.

Jetzt stand sie an dem kleinen Herd, und Gott allein wusste, was sie essen würden. Aber sie hatte gebadet und ihr Haar gekämmt, und sie summte bei der Arbeit vor sich hin. Er wusste, dass sie ihn beobachtete, als er sich in frische Kleider vom Herrenausstatter des Priesters warf. Eins der verdammten schwarzen Polyesterhemden würde seinen Zweck erfüllen, wenn er es ungeschlossen über einem der primitiven weißen T-Shirts trug. Er streckte die Arme aus und drehte sich. „Was denkst du?“

Mouse antwortete nicht. Sie errötete verlegen und wandte sich wieder zum Herd. Andächtig wartete er am Tisch, während sie das Essen auftrug: kleine gummiartige Hühnerbrüste in einer verdächtigen Sauce aus einem Tiefkühlmenü, Dosenmöhren und Makkaroni mit Käse. Sie wollten gerade anfangen zu essen, als die Tür am oberen Ende der Treppe geöffnet wurde.

„Ich dachte, es wäre abgeschlossen“, flüsterte Cyrus. So vorwurfsvoll hatte er gar nicht klingen wollen.

Ihre Augen wurden groß vor Angst, und an ihrer Kehle pochte sichtbar der Puls. Er wollte sie beruhigen, aber dafür war keine Zeit. Schwere Schritte kamen die Treppe herunter.

„Entschuldigt, dass ich euer Abendessen störe, Leute“, verkündete eine Stimme, die vom Zigarettenrauch krächzte, dann trat der Sprecher ins Bild. Das Gesicht war zur Vampirfratze verzerrt. Die Schultern waren wahrscheinlich breiter als die von Cyrus. Er brauchte einen Moment, bis er sie als Frau erkannte.

Mouse schrie auf, fuhr zu schnell hoch und stieß an den Tisch, so dass ihre Teller schepperten. Sie sah aus, als wollte sie wegrennen, aber es gab keine Fluchtmöglichkeit, nur die monströse Frau, die am Fuß der Treppe stand.

„Beruhige dich“, warnte er Mouse und stand langsam auf. „Komm her.“ Sie warf sich auf ihn und schlang ihre Arme um seinen Hals. Als er sich behutsam loszumachen versuchte, klammerte sie sich noch fester an ihn, aber am Ende musste sie ihn freigeben.

„Ich lasse nicht zu, dass sie dir etwas antun“, flüsterte er ihr beschützend zu und rieb sich den Hals. Am nächsten Morgen würde er einen blauen Fleck haben, das war sicher. An die Vampirin gewandt, fauchte er: „Was soll das alles bedeuten?“

„Wir müssen reden. Werd sie mal für eine Minute los.“ Sie deutete auf den Tisch. „Es wird nicht lange dauern.“

„Los, geh, geh!“, drängte er Mouse und gab ihr einen Schubs. Die Vampirin ließ er nicht aus den Augen. Cyrus hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn sie ihn angriff, und hoffte, sein warnender Blick würde ausreichen, damit sie sich anständig benahm.

Mouse begab sich behutsam zum Bett, setzte sich steif hin und beobachtete die beiden. Die Vampirin trat den Stuhl, auf dem Cyrus gesessen hatte, aus dem Weg, zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche ihrer Lederweste und klopfte eine heraus. „Simon Seymour. Endlich begegnen wir uns.“

„Wir sind uns noch nicht wirklich begegnet. Du hast mir noch nicht gesagt, wer du bist.“ Er verzog das Gesicht, als ihm klar wurde, dass er auf seinen alten Namen geantwortet hatte. „Und mein Name ist jetzt Cyrus.“

„Hab ich gehört.“ Sie streckte die Hand aus. Ihr Griff war stark. „Nenn mich Angie. Ich höre, du schmeißt krasse Silvesterpartys. Setz dich.“

„Manche sind krasser als andere.“ Unauffällig rieb er seine gequetschte Hand, als er sich ihr gegenübersetzte. „Was läuft hier?“

Sie zog eine Zigarette aus dem Päckchen und bot sie ihm an. Obwohl er das Rauchen vor seinem Tod aufgegeben hatte – in den gesundheitsbewussten Neunzigern als Raucher einen Tisch im Restaurant zu finden war eine ärgerliche Prozedur –, nahm er sie dankbar an. Seine Nerven lagen blank von den Prüfungen der letzten Tage. Er würde alles nehmen, was dagegen half.

Angie lehnte sich zurück und betrachtete ihn für einen Augenblick, bevor sie zugab: „Ich bin nur runtergekommen, um zu sehen, wie du so weit überlebt hast. Ich weiß nicht, was du von mir erwartest.“

„Fang einfach an zu erzählen, wer euch zu dieser Nummer angestiftet hat.“ Er imitierte ihre lässige Haltung und sog den ätzenden Rauch in seine Lunge. Jahrhunderte der Genusssucht waren durch den Tod nicht weggewischt worden. Er musste weder husten noch wurde ihm schlecht, und er blies einen perfekten Rauchring über den Tisch. „War es mein Vater?“

„Hat irgendwer sonst die Art von Verbindungen, die erforderlich sind, um jemanden von den Toten zurückzuholen?“ Sie hob eine Augenbraue.

Cyrus hatte schon geargwöhnt, dass der Souleater dahintersteckte. Trotzdem kroch eisige Kälte sein Rückgrat hinauf, als sein Verdacht sich bestätigte. „Warum?“

Gelangweilt zuckte sie die Achseln. „Hat er nicht gesagt. Er gab mir zweihunderttausend, damit ich das erledige. Ich hätte mehr verlangt, wenn ich gewusst hätte, wie viel Arbeit das machen würde. Aber man bricht kein Versprechen, das man dem großen S.E. gegeben hat.“

„Nenn ihn richtig“, schnappte Cyrus, mehr aus Gewohnheit als aus Respekt. Wie konnte sein Vater ihm das antun?

Es war nicht so, dass Jacob Seymour jemals großes Vertrauen in seinen jüngsten Sohn gehabt hatte. Die bloße Vorstellung, er könnte Cyrus für irgendetwas brauchen, schien abwegig. Und doch stand er hier, der Versager von Sohn. Lebend. Als Mensch.

Aber für wie lange? „Ich nehme an, du wirst mich zurückverwandeln?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nö.“

Richtig überrascht war er nicht. „Er erwartet wahrscheinlich, dass ich mir meine Verwandlung erst mal verdiene. Vater hatte immer schon ein Gespür fürs Dramatische. Wer kommt und holt mich?“

„Noch keine Ahnung.“ Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. „Wir warten auf Nachricht.“

„Ich kann nicht länger warten. Es gibt fast nichts mehr zu essen hier unten.“ Er vermied es sorgfältig, ‚wir‘ zu sagen. Obwohl sie recht gesellig wirkte, hatte diese Frau für Geld einen Toten erweckt. Sie war gefährlich und definitiv niemand, dem er Mouse anvertrauen wollte.

Angie nickte. „Ich werd mich darum kümmern.“

„Gut.“ Er erhob sich. „Ich nehme an, wir sind hier fertig?“

Sie lächelte. In ihrer verzerrten Fratze wirkte das Lächeln monströs. Dann stand sie ebenfalls auf. „Bevor ich gehe …“

Sie zog einen Umschlag aus ihrer Lederweste und reichte ihn ihm. Stirnrunzelnd öffnete Cyrus die Lasche und zog den Inhalt heraus.

Polaroidfotos. Er und Mouse, Seite an Seite in dem schmalen Bett während der letzten Nacht. Sein Arm war schützend um ihre schlanken Schultern geschlungen, sein Kopf ruhte an ihrem Hals.

„Ich bin froh zu sehen, dass es dir hier unten so gut geht.“ Angies Gesicht verwandelte sich und nahm seine menschliche Form an. Als Vampir sah sie besser aus.

Mit trockenem Mund schob Cyrus die Fotos in seine Tasche. Er sagte nichts, aber er wusste, was los war. Die Fangs hatten gemerkt, dass Mouse ihm etwas bedeutete. Dieses Wissen war eine hervorragende Waffe, von deren Existenz er nichts geahnt hatte, bis er sie mit eigenen Augen sah. Sie konnten ihr wehtun, um ihn zu testen, um ihn zur Zusammenarbeit zu zwingen, oder einfach, weil sie es spaßig fanden, ihn zu martern.

„Es ist doch hilfreich zu wissen, was wir an Verhandlungsmasse haben, findest du nicht auch?“ Angie drückte ihre Zigarette auf der Plastiktischplatte aus.

Mit trockenem Mund nickte Cyrus. „Ich nehme es an.“

Bevor er etwas von seiner Selbstsicherheit wiedergewann, musste er einige Schritte Richtung Tür machen. Dann blieb er stehen und sah sie an. „Denkt dran, ich habe auch Verhandlungsmaterial. Ich brauche sie. Ich bin immer noch zu schwach, um für mich selbst zu sorgen.“ Eine Lüge, aber leicht aufrechtzuerhalten. „Wenn sie stirbt, sterbe ich, und du verlierst dein Geld.“

„Deinem Vater sein Geld zurückzuzahlen, wäre in dem Fall meine kleinste Sorge.“ Angie verschränkte die Arme über der Brust. „Nebenbei, ich kann dich jederzeit noch mal zurückholen.“

Cyrus beobachtete sie, bis sie am Ende der Treppe verschwand und die Tür hinter sich schloss. Dann rannte er hoch und verriegelte sie, wobei er sich im Geiste beschimpfte, nicht den Schlüssel verlangt zu haben, oder womit sie auch immer hereingekommen war.

Mouse hockte noch auf der Bettkante, die dünnen Arme um sich selbst geschlungen. Über ihre Knie gekrümmt, schniefte sie leise.

„Verdammt.“ Cyrus konnte sich einen Fluch nicht verkneifen. „Was ist los?“

Sie sah auf, die großen geröteten Augen voller Tränen. „Was passiert, wenn du weg bist? Was werden sie mit mir machen?“

„Es wird alles klargehen.“ Er hasste sich für das leere Versprechen. Schließlich hatte er selbst keine Ahnung, was passieren würde, wenn sein Vater nach ihm schickte. Dennoch setzte er sich neben sie aufs Bett und konnte nicht verhindern, dass ihm noch mehr fromme Lügen von den Lippen perlten. „Ich sorge dafür, dass dir niemand etwas antut.“

Du warst doch auch unfähig, die anderen zu retten, höhnte eine gemeine Stimme in seinem Kopf. Die Anspielung auf sein früheres Versagen bei der Rettung seiner Kameraden störte ihn nicht so sehr wie der Umstand, dass er plötzlich von ihr in dieser Kategorie dachte.

„Und was, wenn sie … dich verwandeln?“ Es fiel ihr anscheinend schwer, die Worte auszusprechen. „Wenn du einer von ihnen bist, wirst du mich dann töten?“

Wahrscheinlich. Er dachte daran, was sein Vater Nolen angetan hatte: Er hatte ihn gezwungen, sich vom Blut des Menschen zu ernähren, den er mit seinem letzten menschlichen Atemzug beschützen wollte. Wenn die Fangs ihn verwandelten und mit Mouse einsperrten, würde die Zeit kommen, wo er sie töten musste. Und wenn sein Vater die Tat selbst ausführte, sollte Mouse doch besser unter seinen Händen sterben.

Doch all das erzählte Cyrus ihr nicht. „Nein. Ich würde kein hirnloses Monster werden. Ich verspreche, ich werde dich nie verletzen.“

In Wahrheit hatte er deutlich das Gefühl, dass sie beide schon tot waren.