17. KAPITEL

Mouse

Als ich zu mir kam, dachte ich zuerst, ich wäre auf einem Schiff. Und zwar mitten auf dem Meer während eines Sturms. Dann erkannte ich das Innere des Lasters und fragte mich, welcher miserable Autofahrer da zum Teufel am Steuer saß.

Und dann erinnerte ich mich an Cyrus.

Wütend riss ich den Vorhang zur Seite, und er schrie auf vor Schreck, wobei er den Laster noch abrupter zur Seite lenkte, als er es eh schon tat. „Geh wieder nach hinten, Carrie, oder ich schwör dir bei Gott, ich pfähle dich.“

„Womit denn?“, fragte ich und griff dabei in meine hintere Tasche.

Er packte den Pflock, den er im Tassenhalter verstaut hatte. „Damit. Jetzt setz dich hin und halt den Mund. Wir fahren zurück und holen sie.“

„Wen denn? Angie?“ Ich lachte. „Ich bin sicher, du findest einen Ersatz für sie.“

„Angie?“ Cyrus trat heftig auf das Gaspedal, dann ließ er es wieder hochschnappen. „Nein! Mouse. Wir müssen zurück zu ihr, bevor sie sehen, dass ich weg bin. Verdammt, ist das überhaupt der richtige Weg?“

Ein kalter, unangenehmer Knoten bildete sich in meinem Magen. „Mouse?“

Mein erster Schöpfer starrte auf die Straße und trat wieder auf das Gaspedal. „Ja. Ich nenne sie nur so. Ihr wirklicher Name ist einfach lächerlich. Sie ist ein Mensch.“

„Ein Mensch.“ Ich war nach vorn auf den Beifahrersitz geglitten, nun ergriff ein lähmender Schock Besitz von meinem Körper. „Ich wusste nicht, dass sie ein Mensch war.“

„Ist. Sie ist ein Mensch“, insistierte er und schlug dabei auf das Lenkrad ein. „Fahre ich wenigstens auf der richtigen Straße?“

Ungelenk nickte ich. Ich hatte einen Menschen an diesem Ort zurückgelassen? Mit diesen Vampiren? Mit zitternden Fingern griff ich in meine Tasche und holte den Schlüssel heraus. „Nimm das.“

Fragend schaute er einen Augenblick auf meine Hand, und sofort bewegte sich der Laster in Richtung des abschüssigen Straßenrands. „Was soll das sein, eine Murmel?“

„Damit kannst du die Kirche finden. Oder … soll nicht lieber ich fahren?“, bot ich an.

„Keine Zeit“, erwiderte er knapp.

Ich wollte das Mädchen genauso schnell wie er da herausholen, aber dafür in einem brennenden Autowrack zu sterben, schien mir doch nicht sinnvoll. „Hast du denn schon mal ein Auto gefahren?“

„Nein.“ Er klang ungeduldig. „Im Kino sieht es viel einfacher aus.“

Vor uns tauchte die Kreuzung auf, hinter der die Kirche lag. Am unteren Ende der Straße, wo eigentlich die ausgebrannten schwarzen Ruinen zu sehen sein sollten, erhob sich über dem Horizont der geisterhafte Umriss der Kirche. Der Tarnzauber, den die Fangs über das Gebäude gelegt hatten, wurde durchlässig.

„Vielleicht sind sie einfach gegangen und haben sie zurückgelassen“, sagte ich hoffnungsvoll. Aber ich wusste genau, dass das eine trügerische Hoffnung war. Und Cyrus wusste das auch.

Mit quietschenden Reifen bog er auf den Parkplatz. Falls er wirklich damit rechnete, dass die Fangs noch da waren, gab er sich nicht besonders viel Mühe, seine Rückkehr geheim zu halten.

Wie aufgezogen griff er sich den Pflock und trat die Fahrertür auf. „Sie werden mich nicht verletzen. Aber dich werden sie wahrscheinlich töten.“

„Das Risiko gehe ich ein.“ Auch ich schob mir einen Pflock in die Tasche, für alle Fälle.

„Mouse!“, schrie er, als wir die dunkle Empfangshalle betraten. Doch er wurde still, als wir die Türen zur Kirche sahen, die aus ihren Angeln gerissen waren und wie zersplittertes Brennholz auf dem Teppich lagen.

Für eine ganze Weile war er wie erstarrt, nur sein Adamsapfel bewegte sich, als er schluckte. „Nein.“

„Cyrus, warte“, bat ich, als er zur der Tür rannte, die in den Kellerraum führte. Ich wollte als Erste nach unten gehen. Aus irgendeinem verrückten Grund wollte ich ihm den furchtbaren Anblick ersparen.

Ich war zwei Stufen hinter ihm auf der Treppe. Die Kellerwohnung wurde durch eine einzelne Glühbirne erleuchtet, die von der Decke hing. Am Rand des Lichtscheins sah ich zwei bleiche Beine, die sich kaum von den Leinentüchern abhoben und unnatürlich verrenkt auf dem Bett lagen.

Der Anblick hielt ihn nicht auf, wahrscheinlich sah er es gar nicht. Auch das blutige Bettzeug hinderte ihn nicht daran, neben sie auf die Matratze zu klettern, von der das Leinentuch halb heruntergerissen war. Er schlug ihr leicht gegen die Wangen. „Mouse? Wach auf. Wach auf.“

„Cyrus“, sagte ich, aber er konnte mich nicht hören. Die Augen des toten Mädchens waren offen und schienen mich anklagend anzustarren.

„Mouse?“ Der Schmerz klang seltsam in seiner kultivierten, britischen Stimme. „Wach auf. Bitte.“

Völlig außer sich vergrub er sein Gesicht neben ihrem zerbissenen Hals, der von Ohr zu Ohr mit Krallen oder Zähnen aufgeschlitzt worden war. Er legte die flache Hand auf ihre blutverkrusteten Haare, dann ballten sich seine Finger zur Faust, er hob den Kopf und gab einen Laut von sich, der Klage, Schmerzensschrei und Weinen zugleich war.

Zitternd ließ ich mich an der Betonwand zu Boden gleiten. Noch nie hatte ich eine so echte und machtvolle Emotion bei ihm erlebt. Nie hätte ich gedacht, dass er zu so einem ehrlichen Gefühl überhaupt fähig war.

Cyrus hat sie geliebt. Als hätte mir jemand eine eiskalte Ohrfeige verpasst, wurde es mir klar. Hatte ich es gewusst, hatte ich es gespürt und sie deshalb mit Absicht zurückgelassen? Bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Wenn es wirklich so gewesen war, dann hatte ich einen Mensch einem grausamen und würdelosen Tod ausgeliefert, und ich hatte es getan, um Cyrus eins auszuwischen.

Du hast es nicht gewusst. Die Stimme der Vernunft in meinem Kopf gehörte nicht mir. Es war Nathan, der in einem seltenen Moment der Klarheit über das Blutsband mit mir kommunizierte. Und er machte sich Sorgen um mich, wo er doch in viel größeren Schwierigkeiten steckte. Es war zu viel, mir brach das Herz, als ich seine Stimme hörte.

Nathan, ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann. Ich war müde, müde von der Reise, und ich konnte dieses Blutbad nicht länger aushalten. Ich wollte nur noch ins Bett und jahrelang schlafen.

Nathans kurzer klarer Moment verschwand wieder, und er überließ mich Cyrus’ unendlichem Schmerz, der so viel gemein hatte mit der Todesangst in Nathans Seele.

„Es tut mir leid“, flüsterte Cyrus, während er den Körper des toten Mädchens in seinen Armen hielt. „Es tut mir so leid.“

Ich konnte seinen Schmerz nicht mehr ertragen, meine eigene Schuld am Tod dieses unschuldigen Mädchens lag mir auf der Seele, und ich schloss die Augen. Mein Fehler war durch nichts wiedergutzumachen, ich konnte Cyrus nicht trösten oder die Situation irgendwie erträglicher machen. Das Leben dieses Mädchens war für immer ausgelöscht, und ich war schuld daran. Ihr Tod würde wie ein Damoklesschwert für den Rest meines Lebens über mir hängen.

Als Ziggy umgekommen war, hatte ich mir Vorwürfe gemacht, weil ich ihn nicht hatte beschützen können. Doch den größten Teil der Schuld konnte ich Cyrus zuschieben, der ihn umgebracht hatte. Sogar Nathan war in meinen Augen mitverantwortlich an Ziggys Tod. Nathan war völlig ausgeflippt, als er seinen Sohn in einer verfänglichen Situation überraschte, und hatte ihn dadurch verjagt. Aber jetzt musste ich mich meiner alleinigen Schuld stellen, da gab es nichts wegzudiskutieren. Ich hatte Scheiße gebaut, und jetzt war dieses Mädchen tot.

Kein Wunder, dass manche Vampire kein Vergnügen am Töten empfinden konnten. Wie auch, wenn dieses Gefühl der Schuld sie danach immer begleitete? Zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung von Nathans Selbstvorwürfen und seinen Gewissensqualen. Die Gedanken voller Selbstanklage, die ich mir wegen dieses toten Mädchens machte, glichen der schmerzhaften Gefühlsverwirrung, die Nathan gerade durchlebte.

Etwas bewegte sich in meinem Kopf, als ob eines der durcheinander geratenen Puzzleteile unerklärlicherweise an die richtige Stelle gefallen wäre. Aber mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Als ich hochblickte, hatte mich Cyrus’ kalter blauer Blick schon erfasst. Er starrte mich an, als ob er mich töten wollte.

„Du warst das“, flüsterte er. „Du hast sie umgebracht.“

„Ich habe es nicht gewusst.“ Langsam erhob ich mich, obwohl die Bewegung ihm verriet, dass ich Angst vor ihm hatte. Doch wovor sollte ich eigentlich Angst haben? Er war ein Mensch, ich ein Vampir. Ich war stärker, und meine Reflexe waren seinen weit überlegen.

Aber er hatte jetzt nichts mehr zu verlieren.

„Ich wollte es dir sagen.“ Er sprach mit der ruhigen Gelassenheit, die ich noch so gut aus den Tagen meiner freiwilligen Gefangenschaft kannte. Eine Gelassenheit, die ohne Vorwarnung in rasende Wut umschlagen konnte. „Du hast es mich nicht erklären lassen. Und jetzt ist sie tot.“

„Du wirst auch sterben, wenn wir hier nicht verschwinden.“ Es war eine leere Drohung, die Fangs hatten die Kirche verlassen.

Mit einem Ausdruck eiserner Entschlossenheit im Gesicht schüttelte er den Kopf. „Ich bleibe bei ihr.“

„Du kannst hier nichts mehr für sie tun.“ Ich hatte starke Zweifel, ob wir noch irgendetwas für sie hätten tun können, selbst wenn wir direkt nach dem Angriff zurückgekommen wären.

„Ich habe sie alleingelassen.“ So liebevoll wie eine Mutter den Kopf ihres Kindes küssen würde, so küsste er ihre bleiche Stirn. „Ich werde sie nicht ein zweites Mal zurücklassen.“

„Du hast sie nicht alleingelassen. Du wurdest entführt“, erinnerte ich ihn. Kein besonders kluger Schachzug, denn offensichtlich gab er gerade nicht mehr mir die Schuld, und meine Chancen standen gut, dass ich nicht im Schlaf gepfählt wurde. „Bitte, Cyrus. Lass mich dich hier herausbringen, bevor dein Vater dich findet.“

Meine Worte legten sich wie ein Schleier über ihn, der den seltsam menschlichen Cyrus vor mir verdeckte. In seinem Gesicht erschien der kalte Ausdruck des Cyrus, den ich kannte. So vertraut, aber keineswegs beruhigend.

„Mein Vater.“ Angeekelt biss er auf den Worten herum, als wären sie etwas, das er ausspucken wollte. „Nein, ich denke, ich würde meinen Vater gerne sehen.“

Den kalten Schauer, der mir über den Rücken lief, unterdrückte ich. „Das kann ich nicht zulassen. Du weißt, dass das nicht geht.“

„Warum nicht?“ Er legte die Tote auf das Bett und stand auf. „Denkst du vielleicht, du kannst mich daran hindern.“

Mit der geschmeidigen Eleganz eines Raubtiers kam er auf mich zu. Ich erinnerte mich an diese scheinbar trägen Bewegungen, bei denen ich früher abwechselnd vor Leidenschaft und Todesangst weiche Knie bekommen hatte. Selbst ohne sein Vampir-Charisma schien er mir gefährlich.

„Du musst schlafen.“ Die beiläufige, harmlose Art, mit der er das sagte, machten seine Worte noch bedrohlicher. „Wenn du schläfst, werfe ich dich hinaus in den heißen Sand, und dann schaue ich zu, wie du verbrennst. Genauso, wie du zugeschaut hast, als ich verbrannt bin.“

Ich wollte den Kloß hinunterschlucken, der sich in meiner trockenen Kehle gebildet hatte, aber er würde es als Zeichen meiner Schwäche sehen. Deshalb sprach ich mit einer Stimme, die heiser war wie die einer Kettenraucherin: „Und wie genau habe ich zugeschaut, als du verbrannt bist?“

„Ohne Reue.“ Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Es hat dir Spaß gemacht.“

Immer noch tief verletzt, wandte er sich von mir ab, ging zur Kommode und zog einige Kleidungsstücke heraus. Was er tat, schockierte mich. Ich hatte mich so an seinen Körper gewöhnt, dass mir seine Nacktheit bis jetzt noch gar nicht aufgefallen war.

Ich wartete mit meiner Antwort, bis er eine Hose übergestreift hatte. „In meiner Erinnerung war das ziemlich anders.“

Er holte Luft. „Deine Erinnerungen interessieren mich einen Scheiß. Bitte schreib doch alles auf, damit ich es nachlesen kann, falls ich es doch irgendwann einmal wissen will.“

„Auch wenn du es nicht wissen willst, du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich gefühllos gehandelt habe.“ Vollkommen unerwartet traten mir Tränen in die Augen, und ich blinzelte sie weg. Gleich würde ich ihm endlich sagen können, was ich ihm schon so oft hatte sagen wollen, und allein der Gedanke, dass es jetzt möglich war, gab dem Moment eine ungeheure Bedeutung. Mir blieben die Worte im Hals stecken, und mir fiel nicht mehr ein, was ich sagen sollte. „Ich wollte dich so oft retten.“

Sein Rücken wurde steif, und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, bemerkte ich, dass er sein Kinn anspannte. „Ach.“

„Ich wollte, dass du gut bist. Ich dachte, wenn ich nur etwas von dem Guten in dir sehen kann …“ Immer noch enttäuscht schüttelte ich den Kopf. „Aber ich hab nie etwas gesehen. Du hast mir nie auch nur eine Spur davon offenbart. Ich hätte dich lieben können, wenn du mir nur ein bisschen von dir gezeigt hättest.“

Cyrus schaute hoch zur Decke, und sein Kopf hing müde im Nacken, als ob er sich geschlagen gab. Dann wirbelte er mit erschreckender Geschwindigkeit zu mir herum, überraschte mich und drückte mich gegen die Wand.

Mit einem schmerzhaften Griff hatte er mich an den Schultern gepackt, aber ich wehrte mich nicht. Ganz nah beugte er sich zu meinem Gesicht, so nah, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich auf seine wütenden Augen zu konzentrieren. „Ich hätte dir das Gute in mir zeigen sollen? Ich hätte mich dir offenbaren sollen, damit du mich liebst?“

Erschrocken rang ich um Luft, als er mich noch härter gegen die Wand presste. Er deutete auf die Leiche auf dem Bett und stach dabei mit dem Zeigefinger so gewaltig in die Luft, als wolle er eine unsichtbare Person verletzen. „Sie hat mich geliebt. Sie hat mich einfach so geliebt! Vielleicht lag das Problem zwischen uns gar nicht bei mir.“

„Sie wurde in einem Keller mit dir zusammen gefangen gehalten! Du warst das einzige menschliche Wesen in ihrer Nähe!“ Die Worte waren grausam, aber ich konnte nicht aufhören. „Natürlich hat sie dich geliebt. Du hast sie vor ihnen beschützt!“

Er knallte mir eine, aber er schlug nicht richtig zu, und ich spürte die Ohrfeige kaum. „Sag das nicht zu mir! Meinst du, das hab ich mir nicht schon selbst überlegt? Aber sie hat mich geliebt. Sie hat mich geliebt, und ich …“

Sein Gesicht fiel zusammen, und Tränen schossen unter seinen Lidern hervor. „Sie hat mich geliebt“, sagte er noch einmal, packte mich an den Schultern und stieß mich wieder und wieder an die Wand.

Ich hätte sauer werden können. Ich hätte ihn bewusstlos schlagen und ihn in den Laster schleppen können. Es war immer noch möglich, dass die Fangs zurückkehrten, aber wahrscheinlicher war es, dass ein nächtlicher Spaziergänger vorbeikam und bemerkte, dass die angeblich abgebrannte Kirche wieder aus den Trümmern auferstanden war.

Trotzdem legte ich die Arme um ihn, zog seinen Körper zu mir und flüsterte Entschuldigungen, tröstete ihn und sagte ihm, wie aufrichtig leid mir alles tat. Ich konnte das Mädchen auf dem Bett nicht ansehen. Sie hatte es geschafft, Cyrus’ kalten Panzer zu durchbrechen. Allein dafür hatte sie etwas Besseres verdient als diesen Tod.

Die Fangs hatten ihn aus dem Leben nach dem Tod zurückgeholt, aber Mouse hatte einen Menschen aus ihm gemacht. Dafür brauchte es einiges mehr als ein paar Tage in Gefangenschaft und auch mehr als eine pervertierte Liebe zum Beschützer wie beim Stockholm-Syndrom.

Wie ein Mittel zum Zweck hatte ich ihn behandeln wollen, wie einen Baustein in meinem Plan, Nathan zu retten. Ich hatte in die Kirche eindringen, ihn schnappen und dann ohne eine Gefühlsregung zurück nach Grand Rapids fahren wollen. Wenn ich mir besser überlegt hätte, wie naiv und rücksichtslos dieser Plan war, dann wäre dieses unschuldige Mädchen vielleicht noch am Leben.

Cyrus weinte, bis keine Tränen mehr kamen, doch die heftigen Schluchzer, die seinen Körper schüttelten, wollten nicht aufhören. Ich stieß ihn sanft von mir weg und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Beruhig dich. Wenn du so weitermachst, wird dir schlecht.“

„Beruhigen?“ Aus seinen geröteten Augen starrte er mich empört an. „Du kannst doch nicht im Ernst erwarten, dass ich mich beruhige? Sie ist tot!“

Okay, keine gute Taktik. „Ich weiß, dass sie tot ist und dass du leidest. Aber du tust ihr keinen Gefallen, wenn du hier bleibst und dich auch noch umbringen lässt.“

Cyrus nickte resigniert, doch ich nahm an, dass er sich nur zu einem vernünftigen Verhalten zwang, weil er dachte, dass sein Verlust mir egal war, oder dass ich nicht verstand, was Mouse ihm bedeutet hatte. „Du hast recht.“ Er richtete sich auf und ging zum Bett. „Aber wir werden sie nicht so zurücklassen.“

„Du möchtest sie beerdigen?“ Meine Frage klang extrem hart und geschäftsmäßig, aber ich meinte es gar nicht so.

Ihn störte es offensichtlich nicht. Er schaute sie an, als sei sie kein toter Mensch, sondern nur ein zerbrechliches, wertvolles Objekt, und mir wurde klar, dass er die Realität ihres Todes aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Die Hülle, die sie zurückgelassen hatte, war ihm immer noch wertvoll, aber er verband sie nicht mit dem Mädchen, das er geliebt hatte.

„Nein. Da draußen ist nur Sand. Ich möchte nicht, dass ein Tier sie findet.“ Seine Stimme zitterte leicht bei den letzten Worten, aber er weinte nicht. „Bring mir ein paar Handtücher aus dem Badezimmer, damit ich sie saubermachen kann.“

So verbrachten wir den Rest der Nacht. Cyrus wusch sorgfältig das Blut von ihrer Haut und bat mich, ihr die aufgerissene Kehle und die Bisswunden auf ihrem Körper zu verbinden. Behutsam kämmte er ihre Haare, trotz der blutigen Masse, die in ihnen klebte. Dann legte er ihren Kopf auf das Kissen. Mit der Technik, die ich im Krankenhaus gelernt hatte, wechselten wir die verschmutzten Leinentücher, ohne den Körper von der Matratze zu heben, dann zog Cyrus ihr das Sommerkleid an, offenbar hatte sie kein anderes Kleidungsstück.

„Die Sonne geht schon fast auf“, bemerkte Cyrus, als wir fertig waren. Seine Stimme klang angespannt und müde. „Wir müssen los.“

„Du kommst mit mir?“ Sofort fragte ich mich nach seinen Gründen für diese Entscheidung. Auch wenn seine Trauer aufrichtig war, so war er doch immer noch der Mann, der freudig Opfer für die Blutlust seines Vaters herangeschafft und unschuldige junge Mädchen zu seinem eigenen, perversen Vergnügen ermordet hatte. Ganz würde ich ihm nie vertrauen können.

Mühsam nickte er und wandte dabei den Blick nicht von den starren Augen des toten Mädchens. Abwesend berührte er ihr Gesicht und schloss mit seinen Daumen sanft ihre Augenlider. Sie öffneten sich wieder ein wenig, sodass es aussah, als ob sie schliefe.

„Wenn ich sie hier zurücklasse, dann wird sie …“ Er schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Sie wird verrotten.“

„Willst du, dass wir sie doch begraben?“ Ich schaute in den Himmel, an dem die Sterne allmählicher blasser wurden. Für ein Begräbnis hatten wir keine Zeit mehr. Zumindest für mich war es zu knapp. „Die Polizei wird merken, dass die Kirche wieder aufgetaucht ist. Morgen früh werden sie hier sein. Ich wundere mich sowieso, dass noch niemand gekommen ist. Willst du wirklich geschnappt werden, wie du eine Leiche vergräbst.“

„Warum nicht? Mir kann doch nichts Schlimmeres passieren, als dass ich auf dem elektrischen Stuhl lande.“ Sein Lachen war bitter. Doch ich glaubte nicht, dass er schon voll erfasst hatte, was es bedeutete, wieder ein Mensch zu sein. Ihm war noch nicht klar, wie sehr er an seinem Leben hängen würde, wenn er davorstand, es zu verlieren.

Cyrus begrub das Gesicht in beiden Händen, weniger aus Kummer, sondern vor Erschöpfung. „Wir verbrennen sie.“ Er schaute hoch und starrte mich entschlossen an. „Wir brennen das ganze Gebäude nieder.“

Ich ließ ihn allein mit ihr und durchsuchte die übrigen Räume nach brennbaren Materialien. Die Fangs hatten einen fast vollen Kanister mit Benzin zurückgelassen, entweder weil sie ihn in der Eile des Aufbruchs vergessen hatten oder einfach, weil sie es sich leisten konnten, Benzin zu vergeuden. Ich stieß ein kurzes Dankgebet aus und goss das Benzin in einer schmalen Linie von der Küche um die Sitzreihen in der Kirche und die Treppe hinunter bis zu Cyrus, der neben dem Bett kniete und die steifen Finger des toten Mädchens in der Hand hielt.

„Alles bereit?“, fragte er. Sein Gesicht war tränenüberströmt.

Zaghaft räusperte ich mich, bevor ich einen Ton hervorbrachte. „Ja. Das heißt, ich wollte noch in der Küche die Gasleitung des Herds öffnen und dann den Rest der Natur überlassen. Du solltest den Laster weiter weg fahren. Außer Reichweite der Explosion.“

„Und was ist mit dir? Wie kommst du rechtzeitig hier weg, bevor alles in die Luft fliegt?“ Er schaute zurück zu dem Mädchen und holte tief Luft. „Ich möchte nicht, dass du bei der Sache stirbst.“

„Ich dachte, du willst mich umbringen“, sagte ich und versuchte, etwas Ironie in meine Stimme zu legen. Es gelang mir nicht.

„Oh, keine Sorge, ich bin immer noch so wütend, dass ich dich umbringen könnte.“ Seine Stimme wurde leiser, fast flüsterte er. „Aber ich will nicht, dass du stirbst.“

Es war eine bizarre Logik, aber ich wusste, was er meinte. Auch ich hatte einmal an seinem Bett gestanden und mir überlegt, ob ich ihn im Schlaf töten könnte. Ich hatte ihn so gehasst, dass ich es wahrscheinlich wirklich hätte tun können. Aber ich hätte nie gewollt, dass er tot war. „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Und wir müssen uns beeilen, bevor das Benzin verdunstet.“

Ein letztes Mal beugte er sich über das Mädchen, küsste zärtlich ihre blutleeren Lippen und strich ihr über das Haar. Dann riss er mit einer so heftigen Bewegung, dass ich erschrak, ein Stück ihres Kleides ab. Er ballte den Stoff in seiner Faust, hielt ihn sich an die Nase und atmete den Geruch ein, wobei sich seine Stirn über den geschlossenen Augen schmerzhaft in Falten legte. Ebenso schnell, wie er die Kontrolle verloren hatte, schien er sich wieder zu fangen. Gefasst steckte er das Stück Stoff in seine Hosentasche und wandte sich von dem Bett ab. „Gehen wir.“

Eigentlich hatte ich mir Brandstiftung einfacher vorgestellt. Der Herd war viel zu schwer, ich konnte ihn nicht allein von der Stelle bewegen. Ich zündete ein Telefonbuch an einem der Brenner an und stellte alle Schalter auf „niedrig“. Den angezündeten Brenner blies ich wieder aus, damit das Gas ausströmen konnte, ohne gleich abzubrennen. Das brennende Telefonbuch ließ ich auf die Benzinspur fallen, als ich durch die Eingangshalle eilte. Einen Moment lang schien es, als würde das Benzin kein Feuer fangen, und ich blieb wie erstarrt stehen, voller Angst, dass die Flammen ausgehen könnten. Dann wurde mit einem lauten Rauschen Sauerstoff angesaugt, und Flammen schossen aus dem Telefonbuch und verbrannten, was von den weißen Seiten noch übrig war. Langsam bewegte sich das Feuer den Pfad auf dem benzingetränkten Teppich entlang. Ich drehte mich um und rannte zur Tür hinaus, über den brüchigen Asphalt des Parkplatzes zu Cyrus, der neben dem Laster auf der anderen Straßenseite auf mich wartete.

„Stell dich hinter den Laster!“, schrie ich, denn mir fiel zu spät ein, welch schlimme Verletzungen herumfliegende Gebäudeteile an einem menschlichen Körper anrichten können. Das Gas in der Küche entzündete sich, bevor er sich bewegen konnte, ich stürzte mich auf ihn und schützte ihn mit meinem Körper, bis keine Gesteinsbrocken mehr auf die Straße prasselten.

„Himmel“, flüsterte Cyrus und stand auf, als ich ihn schließlich freigab.

Ich starrte zu dem brennenden Gebäude. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell zur Explosion kommt.“

Wir standen nebeneinander und beobachteten den Brand. Ich versuchte nicht, an das Mädchen zu denken, das wir im Keller zurückgelassen hatten. Als ich mich zu Cyrus wandte, sah ich, dass er an nichts anderes dachte. Meine Schuldgefühle lagen mir schwer auf der Brust.

„Weißt du, wo mein Vater sich aufhält?“, fragte Cyrus leise. In seinen Augen standen Tränen.

Ich wusste nicht, ob lügen oder die Wahrheit sagen der bessere Weg war, um ihn davon zu überzeugen, dass er mit mir kommen musste. Doch nach dem Post-mortem-Ritual, das wir gerade zusammen erlebt hatten, kam mir eine Lüge wie ein billiges Täuschungsmanöver vor. „Nein. Aber ich weiß, dass er etwas plant und dass ich dich vor ihm finden musste.“

Verwundert legte er den Kopf leicht schief, eine der Eigenheiten, die mir von dem alten Cyrus vertraut war. „Tatsächlich? Woher weißt du das?“

„Von dem Orakel.“ Ich musste es ihm nicht erklären. In seinem Vampirleben war Cyrus über fast alle Fraktionen in der Welt der Untoten informiert gewesen. Zweifellos wusste er genau, wer das Orakel war. „Sie hat mir gesagt, dass dein Vater sich in einen Gott verwandeln will. Aber was das im Detail bedeutet, hat sie mir nicht verraten. Sie hat mir aufgetragen, dich zu suchen. Du wärst im Land der Toten, bei den Scharfzahnigen.“

Trotz der traurigen Umstände lachte er leise. „Sie spricht immer noch wie Nostradamus. Ich habe nie viel von ihr gehalten, aber mit dieser Prophezeiung lag sie genau richtig.“

„Cyrus, was hat dein Vater vor?“ Er musste es wissen. Das Orakel hätte mich nicht den ganzen weiten Weg umsonst hierher geschickt.

„Ich weiß es nicht.“ Er schaute zurück zur Kirche. „Aber ich werde tun, was ich kann und dir helfen, es herauszufinden.“

Ich blinzelte und schaute ihn an. „Du willst mir wirklich helfen?“

Trotz seiner Gefühle schien er nicht einmal mit den Augen zu blinken, als er zusah, wie die Flammen in den Nachthimmel schossen. „Wenn mein Vater nicht beschlossen hätte, dass er mich von den Toten auferstehen lässt … Er ist verantwortlich für ihren Tod.“

Aber ich bin verantwortlich. Weil es mein Fehler gewesen war, dass wir sie nicht mitgenommen hatten. Ich bekam für einen Moment keine Luft mehr, als mir die Schwere meiner Schuld voll bewusst wurde.

Wieder hatte ich das Gefühl, als ob ein Puzzleteil an seinen richtigen Platz fiel, und ich erinnerte mich an meine Beobachtung von vorhin, dass Nathans Schmerzen, die ich durch das Blutsband fühlte, den Schuldgefühlen ähnelten, die ich mir wegen des toten Mädchens machte.

Und dann verstand ich es. Ich stand in der Wüste und starrte auf die Flammen der brennenden Kirche, deren heller Schein am Horizont in das Licht des neuen Tages überging, und dabei wurde mir klar, dass der einzige wirkliche Dämon, von dem Nathan besessen war, seine eigene Schuld war.

Ich wusste nur nicht, wie ich ihn davor retten konnte.

Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen, doch jeden Tag wird es wahrscheinlicher, dass sie mir genommen wird.

Max fuhr sich über die Augen und las den Satz noch einmal. Bis jetzt hatte Nathans Tagebuch ihm nur Einblicke in eine Seite seines Lebens gewährt, in die jammernde, unsichere Seite.

Nachdenklich schaute er von dem Buch hoch und musterte Bella. Sie lag auf einem Nest aus Decken und Kissen, die sie zu einem Hundelager – der Begriff stammte von ihr, nicht von ihm, die fröhliche Antwort auf seine Frage, was zum Himmel sie mit dem Bett veranstaltete – zerwühlt hatte und war vertieft in ein zerlesenes Exemplar von Der Sanguinarius. Max selbst hielt keine großen Stücke auf das Buch, aber es schien ihm sinnvoller, es sie lesen zu lassen, als ihr seine eigene Kurzeinführung in die Vampirkunde zu geben.

Als sie ihm gesagt hatte, dass sie das Buch noch nie gelesen hatte, war er ziemlich überrascht gewesen. Es stand ganz oben auf der Liste der Pflichtlektüre von Vampirkillern, doch offenbar wurde es Werwölfen bei ihrer Ausbildung in der Bewegung nicht zugänglich gemacht. Max hoffte, dass er keine Regel übertrat, als er ihr das Buch gab, dann fiel ihm ein, dass sie sowieso schon etliche Gesetze der Bewegung gebrochen hatten.

„Willst du mich weiter so anstarren, oder bist du endlich fertig damit, in die Privatsphäre deines besessenen Freundes einzudringen?“ Bella sprach, ohne von den Seiten aufzuschauen.

Max seufzte. „Das Tagebuch bringt uns überhaupt nicht weiter. Nur Seiten über Seiten, wie sehr er Carrie liebt und wie viel Schmerz ihm diese Liebe bereitet.“

„Das ist doch was.“ Bella setzte sich mit einer eleganten und trotz ihrer hündischen Abstammung katzenartigen Bewegung auf. „Manchmal kann man eine gefangene Seele schon durch eine kleine persönliche Information erreichen. Wenn Carrie vielleicht mit ihm reden …“

„Da steht auch noch anderes Zeug.“ Diese gefährlichen Gedanken sollte sich Bella besser sofort aus dem Kopf schlagen. Auf keinen Fall würde er es Nathan beichten, wenn Carrie sein Tagebuch gelesen hatte. „Zum Beispiel über seine Ex-Frau.“

„Er ist geschieden?“ Sie verzog das Gesicht. „Diese menschliche Sitte werde ich nie verstehen.“

„Es ist keine Sitte, es ist eine Ausnahmeerscheinung“, berichtigte Max. „Aber ich verstehe es auch nicht. Wenn man einfach nicht heiratet, sind die Dinge viel einfacher.“

„Ich habe gemeint, es ist nicht natürlich, wenn man sich von seiner Gefährtin trennt.“ Bella warf ein Kissen nach ihm.

Geschickt fing er es auf und warf es zurück. „Nathan ist nicht geschieden. Seine Frau ist tot. Er hat sie umgebracht.“

„Warum hat er das gemacht?“ Die Erkenntnis schien Bella zu verletzen.

Max blätterte ein paar Seiten zurück und las vor: „‚Jede Nacht wünsche ich mir, dass ich anders gehandelt hätte. Ich wünsche mir, ich hätte es ausgehalten, dass sie mich verhungern ließen. Wäre ich damals stark gewesen, wäre ich jetzt tot und müsste nicht mit dieser Schuld leben‘.“ Er schlug das Buch mit einer Hand zu. „Ich nehme an, er hat sich von ihr ernährt. Stand das nicht in seiner Akte?“

„Vielleicht in der versiegelten Bewährungsakte“, fuhr sie ihn an. „Du redest von solchen Dingen, als ob sie egal wären. Weil du eine Kreatur bist, die den Tod nicht kennt, bedeutet dir das Leben nichts mehr!“ Ihr Körper zitterte, ob vor Wut oder Angst, oder vor beidem, konnte Max nicht unterscheiden.

Aber auch wenn sie Angst hatte, ihre Vorwürfe machten ihn wütend. Er stand auf und gab dem Instinkt nicht nach, mehr Gewicht auf das linke Bein zu verlagern, das unangenehm prickelte. „Hör mal gut zu, ich weiß eine ganze Menge über den Tod.“ Marcus’ Gesicht blitzte in seiner Erinnerung auf, schmerzhaft wie ein Messer, das sich in seine Brust bohrte. „Ich töte nicht mehr.“

„Aber du hast getötet. Früher hast du getötet.“ Es war keine Verurteilung, nur eine simple Darstellung von Fakten.

Fakten, an denen es nichts zu rütteln gab. „Fast alle von uns haben irgendwann einmal getötet. Und du bist eine Vampirjägerin. Du tötest Vampire. Wo liegt der Unterschied?“

Obwohl sie schon vollkommen gerade saß, setzte sie sich noch aufrechter hin. Die Kraft ihrer Überzeugung strahlte von ihr ab wie ein Höllenfeuer. „Ich töte die, die sich an den Schwachen vergehen. Ich töte aus Notwendigkeit, um Ordnung und Frieden aufrechtzuerhalten.“

„Klar, und dass du dabei deine tierischen Instinkte ausleben kannst, ist nur ein Sonderbonus.“ Ihr Gespräch verwandelte sich zusehends in einen Streit, auf den er überhaupt keine Lust hatte. Ihre Zusammenarbeit in den letzten Stunden war so friedlich gewesen.

„Mir bereitet das Töten kein Vergnügen“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Diejenigen unter uns, die die Bedeutung unserer wahren Natur zu schätzen wissen, wollen nicht so werden wie die mörderischen Lupiden.“

Zu seinem Erstaunen bekreuzigte sie sich und spuckte irgendwie geziert aus, nachdem sie den Namen ausgesprochen hatte. Er räusperte sich. „Ja, klar. Eure wahre Natur. Vielleicht verrätst du mir, um was es dabei geht?“

Bella griff nach dem Reißverschluss ihres hohen Kragens und zog ihn auf. Unter der langärmligen schwarzen Lederjacke, die sie immer anhatte, trug sie nur einen BH. Die Sex-Abteilung in Max’ Kopf bemerkte, dass der BH dasselbe Muster hatte wie der Slip, den er gestern kurz gesehen hatte, auch wenn sie ihn heute nicht mehr trug. Der Slip hing zum Trocknen über der Brause im Badezimmer.

Ihm blieb keine Zeit, über ihren nackten Körper zu fantasieren, der in den Jeans steckte, die sie sich von Carrie geborgt hatte. Bella streifte die Jacke von ihren Schultern, und dunkle Buchstabenlinien, die sich um ihre Oberarme wanden, nahmen Max’ Interesse in Beschlag.

Sie streckte den einen Arm aus, damit er die Buchstaben lesen konnte. Ein Teil war Latein, ein anderer Hebräisch, dann eine seltsame Sprache, die er nicht zuordnen konnte, und Italienisch. Die Worte verliefen so, wie es die Sprache verlangte, nach oben oder nach unten, von rechts nach links, von links nach rechts. Max nahm sich eine einzelne Linie Latein vor und hatte keine Schwierigkeiten, die Worte zu übersetzen. „Eine Schuld, durch den Tod des Gottesmenschen, Yeschua, Joschua, Jesus Christus von Nazareth, auf sich geladen, die nie zurückgezahlt wurde.“

Der Satz wechselte aus keinem ersichtlichen Grund ins Italienische, und Max konnte die Worte nicht mehr lesen. Verwundert schüttelte er den Kopf und griff ihren anderen Arm. „Der Samen Pilatus’ wird auf unfruchtbaren Feldern gesät werden, die Ernte der Vergebung wird ihn verhöhnen als den Schlächter des Lamms. Lasst sein Blut auf unseren Häuptern lasten und auf den Häuptern unserer Kinder.“

„Wölfe“, sagte Bella leise. „Wir alle stammen von den Nachfahren eines einzigen Mannes ab. Vom Mörder Christi.“

Max löste seinen Griff um ihren Arm und richtete sich auf, wobei er sich mit den Händen über das Gesicht fuhr. „Pontius Pilatus?“

Wäre er gläubig, dann hätte ihm diese Erkenntnis ziemlich zugesetzt.

„Es ist ein Fluch. Wir suchen nach Wegen, um Vergebung zu erlangen, um die Blutschuld zurückzuzahlen.“ Sie lachte bitter. „Aber wie groß ist die Schuld, wenn man Gott getötet hat?“

„Ich habe die Bibel gelesen. Es war vorherbestimmt, dass er sterben musste.“ Klasse, jetzt waren sie mitten in einer theologischen Debatte gelandet. „Der ganze Schluss der Geschichte wäre irgendwie ruiniert, wenn er nicht gestorben wäre.“

Bella zuckte mit den Schultern, für Max’ Geschmack nahm sie ihr Schicksal etwas zu gelassen hin. „Judas Ischariot brennt auch in der Hölle, und doch wäre die Vorhersehung nicht erfüllt worden, wenn er Christus nicht verraten hätte. Man kann mit dem Zorn Gottes nicht händeln oder diskutieren. Das ist etwas, womit ich mich abgefunden habe.“

Angesichts dieser düsteren Schicksalsergebenheit verflog seine gute Laune. „Das kommt mir ziemlich pessimistisch und bequem vor.“

Sie zog sich die Lederjacke wieder über, wodurch sein Blick kurzfristig auf ihren Ausschnitt gelenkt wurde. „Als Kinder hören wir die Geschichte unserer Bürde jeden Tag. Als ich erwachsen wurde, hat mein Vater sie mir in die Haut brennen lassen. Die Worte sollen mich daran erinnern, dass der Fluch ein Teil von mir ist.“

Max lachte leise. „Ich nehme an, das hier hat mehr mit den Unterschieden zwischen den Lupiden und den Werwölfen zu tun, als beide Seiten verlauten lassen.“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. „Ihr Vampire denkt immer, ihr wüsstet alles. Aber du hast recht. Die Spaltung über die Frage, Wissenschaft oder Magie, hat den Bruch zwischen den Gruppierungen nur noch verstärkt und die Werwölfe dazu gebracht, sich der Bewegung anzuschließen. Die Lupiden klammern sich an die alte römische Lebensart, während wir Werwölfe uns der Erde zugewandt haben.“

Mit diesem Bekenntnis schien das Thema für Bella beendet zu sein. Sie wandte sich wieder dem Sanguinarius zu und blätterte durch die Seiten, als würde sie an etwas ganz anderes denken.

Max räusperte sich. „Ich mache mir etwas zu essen, bevor ich mich weiter mit Nathans Handschrift abmühe. Möchtest du auch etwas?“

„Haben Vampire denn Lebensmittel im Haus? Ich meine, außer Blut?“ Etwas von dem flirtenden Humor war in ihre Stimme zurückgekehrt.

Ihre Frage löste ein wenig von der gereizten Spannung zwischen ihnen, auch wenn sie etwas forciert klang. „Ich bin sicher, dass Nathan gerade das Hundefutter ausgegangen ist, aber klar, der Kühlschrank ist gefüllt. Entgegen dem, was die Leute von uns glauben, können wir ganz normal essen. Manchen von uns schmeckt es sogar.“

Hungrig folgte sie ihm in die Küche, die ihm kleiner als sonst vorkam, weil sie hier war. Max nahm den Teekessel vom Abtropfgitter neben der Spüle und drehte sich um, weil er auf dem Herd Wasser erhitzen wollte. Genau in diesem Moment quetschte sich Bella hinter ihm vorbei, und sie stießen ungeschickt zusammen.

Max verspürte wieder eine ganz andere Art von Spannung zwischen ihnen, die sich auch durch ihre gemurmelten Entschuldigungen nicht auflösen ließ. Er spürte seinen Körper überdeutlich, und er nahm genau wahr, wo sich ihr Körper im Verhältnis zu seinem befand. Ihm war viel zu bewusst, wie sehr er wollte, dass ihre beiden Körper sich noch näher kamen.

„Du bist scharf auf mich.“

Max öffnete den Mund, um ihr eine Antwort zu geben, die wahrscheinlich perplex und nicht gerade geistreich ausgefallen wäre, hätte er sich nicht an seiner eigenen Spucke verschluckt und einen so heftigen Hustenanfall bekommen, dass er erst nach einer langen Minute wieder Luft holen konnte. Ganz ruhig, Harrison.

„Du brauchst dich dafür nicht zu schämen“, versicherte sie ihm. „Ich sehe sehr gut aus. Und einem Vampir muss ich ungeheuer exotisch erscheinen.“

„Ich bin nicht scharf auf dich“, keuchte er und klopfte sich mit den Knöcheln auf die Brust, um die Kehle freizukriegen. „Im Gegenteil, ich halte es gerade mal so aus, dass du in meiner Nähe bist. Ich kann Werwölfe nicht ausstehen.“

Bella lachte. Es klang nicht freundlich, eher spöttisch. „Ja klar.“

„Kannst du dir wirklich nicht vorstellen, dass dich jemand nicht so unwiderstehlich findet?“ Er versuchte, amüsierte Arroganz in seine Stimme zu legen, aber irgendwie gelang es ihm nicht. Stattdessen wandte er sich zum Kühlschrank, öffnete die Tür und schaute nach, ob noch eine Packung von dem premium B-positiv da war, das er gestern hier entdeckt hatte. „Hör mal, du bist bestimmt, was deine Spezies anbelangt, eine wirklich heiße Braut. Aber ich stehe nun mal nicht auf dieses ganze Hunde-Ding.“

„Wir müssten es nicht wie die Hunde treiben.“ Verführerisch schmiegte sie sich mit ihrem ganzen Körper an ihn, presste ihre Vorderseite gegen seinen Rücken. Ihre Hand fuhr über seine Schulter zu seinem Kinn und drückte es zur Seite, damit er den Kopf drehte.

Er gab nach. Sein ganzer Körper folgte seinem Kopf. Gekonnt schob er seine Hände in die hinteren Taschen ihrer Jeans und zog ihre Hüften zu sich. „Du wolltest mich also vorhin wirklich anmachen?“

„Ich hatte keine Ahnung, wie deutlich ich werden muss, damit ich deine Aufmerksamkeit bekomme.“ Dann legte sie die Arme um seinen Nacken und küsste ihn. Nicht auf die Lippen, sondern einen seiner Mundwinkel. Ihre Haut war überraschend warm, aber er wusste, dass es sich so anfühlte, weil er Raumtemperatur hatte.

Ihre Stimme war tief, ein erregendes Flüstern an seiner Wange. „Das ist keine ideale Situation. Aber ich bin scharf auf dich. Und wir sind beide erwachsen. Wo ist das Problem, wenn wir etwas … Spannung abbauen?“

Gegen diese Logik konnte Max nichts einwenden, also ließ er sich von ihr auf das Linoleum ziehen, während er sich in Gedanken gute Entschuldigungen dafür ausdachte, warum er sich unbeschreiblichen Akten fleischlicher Lust auf Nathans Küchenboden hingab.