21. KAPITEL

Die dunkle Nacht der Seele

Kurz vor Sonnenuntergang erwachte ich. Nathan war immer noch so vollkommen weggetreten von dem Kräutergemisch, dass er sich nicht regte, als ich aufstand. Es war kein erholsamer Tag gewesen. Immer, wenn ich halb eingeschlafen war, wäre ich fast aus dem Bett gefallen und schreckte aus dem Dämmerzustand hoch. Dadurch wurde Nathan wach, und ich musste ihm versichern, dass ich ihn nicht allein lassen würde. Ich nahm mir vor, Bella zu bitten, ihm morgen eine doppelte Dosis zu geben, damit ich schlafen konnte.

Im Wohnzimmer war Max lang auf der Couch ausgestreckt, ein seltsam aussehendes Buch lag auf seinem Gesicht. Inständig hoffte ich, dass sich in dem Ding keine Papierläuse befanden. Bella lag in einem Haufen Decken eingewickelt auf dem Boden und winselte leise wie ein Hund, der Albträume hat. Cyrus war nirgends zu sehen, doch die Tür zu meinem Zimmer war einen Spalt geöffnet.

Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und schob die Tür vorsichtig auf in der Hoffnung, dass sie nicht in den Angeln quietschen würde. In meinem Zimmer war alles so, wie ich es verlassen hatte, mit einer Ausnahme.

Cyrus lag zusammengerollt wie ein Fötus auf meinem Bett, er hatte die Decke kunstvoll um seinen nackten Körper geschlungen.

Er war zu bizarr, er passte einfach nicht hierher. Mein Herz fiel mir in den Magen, als hätte ich auf einer Achterbahn gerade einen besonders steilen Berg hinter mich gebracht. Damit ich nicht das Gleichgewicht verlor, hielt ich mich am Türrahmen fest.

Es hatte immer eine klare Trennung zwischen meinem jetzigen und meinem früheren Leben gegeben. Die Wohnung, in der ich als Mensch gelebt hatte, war abgebrannt, es gab keine Verbindungen mehr zu dieser Zeit. Meine einzigen Zusammentreffen mit Cyrus hatten in einem Krankenhaus stattgefunden, in dem ich nicht arbeitete, in seinem Herrenhaus, das wahrscheinlich jetzt Dahlia gehörte und das ich deshalb ganz sicher nicht aufsuchen würde, und in der Gasse neben dem Buchladen, wo er mir das Herz herausgeschnitten hatte. In meinem Kopf war die Welt in Cyrus-Orte und Nathan-Orte unterteilt, und sie überlagerten sich selten. Dass die beiden jetzt so massiv und unter solch aufreibenden Umständen aufeinanderprallten, war … na ja, es war einfach unheimlich.

„Was tust du da?“

Beim Klang von Max’ Stimme zuckte ich zusammen und drehte mich um. Er streckte sich schläfrig und kratzte sich am Bauch.

Ich nickte in Richtung der halb geöffneten Tür. „Ich betrachte mir den Ort meiner Albträume.“

Max lachte leise. „Ach richtig, das kleine Arschloch war ja völlig fertig.“

„Du solltest doch nett zu ihm sein“, ermahnte ich ihn. Eigentlich sollte es mir nichts ausmachen, wie sie mit Cyrus umsprangen, solange sie ihn am Leben ließen. Doch jedes Mal, wenn ich ihn aus meinen Gedanken verbannen wollte, fiel mir das tote Mädchen in der Wüste ein, und wie schmerzlich nahe ihm ihr Tod gegangen war.

Doch davon hatte Max bisher keine Ahnung. „Na ja, eigentlich sollte er tot sein. Wenn er nicht höflich sein kann, warum soll ich dann nett zu ihm sein?“

„Er hat sich verändert.“ Ich fragte mich, ob Cyrus wirklich schlief, oder ob er nur so tat und jedes Wort hörte, das wir sagten.

Mit einem tiefen Seufzer schüttelte Max den Kopf. „Was ist das nur mit dir und diesem Typen, Carrie? Ich meine, ich weiß, dass er dein Schöpfer ist – dein Schöpfer war, aber das ist vorbei. Und nach allem, was er dir angetan hat und was er jetzt mit Nathan macht … warum kannst du ihn nicht endlich loslassen?“

Ob ich nun Nackenhaare hatte oder nicht, bei diesen Worten spürte ich genau, wie sich etwas an meinem Nacken aufstellte. Die Reaktion war übertrieben, das wusste ich genau, aber ich kam nicht dagegen an. Meine Gefühle für Cyrus, so verworren sie auch waren, beschützte ich wie ein geliebtes Familienerbstück. Ich schloss die Tür so leise ich konnte und wandte mich zu Max. „Das verstehst du nicht.“

„Erklär es mir so, dass ich es verstehen kann. Wir haben endlos viel Zeit.“ Erwartungsvoll lehnte er sich gegen die Wand, verschränkte die Arme und forderte mich auf seine arrogante, schweigsame Art dazu auf, ihm zu erklären, warum ich trotz Nathan immer noch an Cyrus hing.

Theoretisch hätte ich ihn mit einem einfachen „Nein“ abspeisen können, aber damit würde ich diesen wichtigen Teil von mir vor ihm verschließen, und das wollte ich nicht. Max war ein Freund, und ich hatte zurzeit nicht gerade viele Freunde, auf die ich zählen konnte.

„Während ich bei Cyrus gewohnt habe, hat er mich ständig so manipuliert, dass ich kaum mehr entscheiden konnte, was ich wirklich fühlte, und welche Gefühle er mir eingeredet hatte.“ Ich holte tief Luft. Über derart persönliche Dinge redete ich mit niemandem gerne, nicht einmal mit Nathan. Aber er wusste zumindest schon, was ich fühlte, bevor ich es überhaupt klar formulieren konnte, und unsere „Unterhaltungen“ waren kaum mehr als der telepathische Austausch von Emotion. „Ich war mir noch nicht über alles klar, als er starb, und jetzt, wo er zurück ist, sind auch einige dieser Gefühle wieder da.“

„Liebst du ihn?“ Die Frage war so einfach und direkt, dass sie fast pervers klang.

„Nein, ich liebe ihn nicht. Nicht im romantischen Sinn.“ Wenigstens konnte ich das ausschließen.

„In welchem anderen Sinn dann?“ Max’ spöttischer Ton ließ mich vermuten, dass er meine Antwort für hochgradigen Blödsinn hielt.

Das war eines der Hauptprobleme mit Männern. Sie konnten nichts mit dem Konzept von Liebe anfangen, wenn es dabei nicht um Sex ging.

„Ich liebe ihn nicht. Aber ich sehe das Potenzial in ihm, dass er eine gute Person werden kann, und ich bewundere den Mann, der zum Vorschein kommt, wenn er seinen Panzer ablegt. Diesen Mann habe ich sogar sehr gerne. Aber das heißt nicht, dass ich mit ihm abhauen will, oder so etwas.“ Ich dachte an Nathan im Schlafzimmer, und was geschehen würde, wenn wir ihn nicht retten konnten. War ich bereit dazu, den Rest meines Lebens allein zu verbringen?

„Aber ich habe dich nicht gebeten, nett zu ihm zu sein, weil ich ihn vielleicht gernhaben könnte.“ Es war fast grausam, solche persönlichen Informationen über meinen ersten Schöpfer einem anderen anzuvertrauen, aber Max musste verstehen, warum ich mehr Einfühlungsvermögen von ihm verlangte, was Cyrus betraf. „Etwas ist in der Wüste passiert. Nicht zwischen ihm und mir, aber es war meine Schuld. Er war nicht der einzige Mensch, den die Fangs gefangen hielten. Da war noch ein Mädchen. Ich nehme an, sie haben sie am Leben gelassen, damit sie auf ihn aufpassen oder ihn versorgen kann. Aber die beiden, Cyrus und das Mädchen, haben miteinander geschlafen. Und ich habe einen dummen Fehler gemacht, und deshalb wurde sie umgebracht. Max, ich glaube, er hat sie wirklich geliebt. Sie hat etwas in ihm berührt, von dem ich wusste, dass es existierte, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich so weit an ihn herankommen konnte. Jetzt ist sie tot, und ich fürchte, dass er diesen Teil von sich wieder weggeschlossen hat, und das macht ihn empfänglich für alles, was der Souleater ihm anbietet. Aber ich will nicht, dass er wieder das Monster von früher wird.“

Max schwieg. Was hätte er auch sagen können? Und bevor wir weiterreden konnten, öffnete sich natürlich die Tür meines Schlafzimmers und Cyrus trat heraus. Er war nur mit der schwarzen Hose bekleidet, die er schon während der ganzen Fahrt getragen hatte. „Heimliches Liebesgeflüster im Flur? Wie romantisch.“

Max trat sofort von mir zurück und sah etwas bestürzt aus, als ihm klar wurde, wie man seine Bewegung interpretieren könnte. „Nein.“

Cyrus lachte, und ich zuckte zusammen. Es klang viel zu sehr nach dem Monster, das mich erschaffen hatte. „Das war ein Scherz. Ich weiß, dass Sie nur Augen für die Werwölfin haben.“

Jetzt war ich mit Lachen an der Reihe. „Natürlich macht er ihr schöne Augen. So ist Max nun mal, und Bella ist weiblich.“

Ein geduldiges Lächeln erschien auf Cyrus’ Lippen. Max schaute zu Boden und rieb sich dabei den Nacken, eine typische Geste, wenn er etwas nicht zugeben wollte.

„Ach so.“ Ich räusperte mich. „Also, ich bin total beeindruckt, Max. Ich dachte allmählich, du hast dich auf die Rolle des großen Herzensbrechers festgelegt und wirst dich nie richtig verlieben.“

Max atmete genervt aus. „He, ich bin gerne ein Herzensbrecher. Und ich bin nicht in sie verliebt. Wir haben nur … nur aus Langeweile gevögelt.“

Ich tauschte einen unangenehm vertraulichen Blick mit Cyrus aus, der so viel besagte wie „Vielen Dank für die Info, aber bitte keine Einzelheiten.“

„Ich geh duschen“, verkündete Cyrus und schritt zielstrebig zum Badezimmer. „Genießt euren Moment der Wahrheit.“

Eilig folgte ich Max in die Küche, wo er im Kühlschrank nach Blut suchte. Als er nach dem Teekessel griff, bot ich ihm an: „Das kann ich machen.“

Doch er schüttelte den Kopf. „Ne, ich brauche etwas, um mich zu beschäftigen. Sonst geh ich vor lauter Sorge noch zu Nathan und weck ihn auf. Wie geht es ihm?“

„Gut.“ Ich setzte mich an den Tisch, wobei die Beine des Stuhls so laut auf dem Boden kratzten, dass ich mich mit einem besorgten Blick ins Wohnzimmer leise entschuldigte.

„Mach dir um sie keine Gedanken, wenn sie schläft, dann ist sie wie tot. Zumindest wie die Toten, die gerade nicht besessen sind.“ Max zwinkerte mir zu, als er den Teekessel auf den Brenner stellte. „Hast du denn schlafen können?“

„Überhaupt nicht. Also, was ist denn nun mit dir und Bella?“ Er rollte mit den Augen, und ich wehrte seinen stummen Vorwurf mit ausgestreckten Händen ab. „Entschuldige, aber ich bin eben eine Ärztin. Es ist unser Beruf, Fragen zu stellen.“

„Auch über Privatangelegenheiten anderer Leute?“ Fragend hob er eine Augenbraue.

Ich wand mich unter seinem Blick und zuckte mit den Achseln „Manchmal.“

„So eine Ärztin bist du nicht.“

„Was für eine Ärztin müsste ich denn sein?“ Ich dachte schon, er würde mich mit einer klugscheißerischen Antwort über Geschlechtskrankheiten ablenken wollen.

Stattdessen setzte er sich mir gegenüber und legte seine muskulösen Unterarme auf die zerkratzte Tischplatte. „Eine Psychotante, Psychiaterin oder so was. Gib einfach zu, dass du gerne im Privatleben deiner Freunde herumschnüffelst.“

„Okay, ich schnüffle gerne im Privatleben meiner Freunde herum. Und jetzt sag schon, was da läuft.“ Es war kein Befehl, sondern ein sanftes Insistieren. Etwas brodelte in Max. Ich konnte es in seinen jungenhaften blauen Augen sehen.

Er seufzte und lehnte sich in dem Stuhl zurück. „Ich hab keine Ahnung. Zuerst konnten wir uns nicht riechen, und dann, von einer Sekunde auf die nächste, macht sie mich total an. Ich bringe sie mit hierher, und peng, hat es gefunkt.“

„Du warst sicher auch mächtig scharf auf sie“, bemerkte ich weise.

Sein Blick war eindeutig. Entweder hielt ich den Mund, oder er wurde noch ärgerlicher. „Es war nicht so. Ich musste ihr erst die Wunde an ihrem Bein nähen. Gott sei Dank hast du so viele langweilige Medizinbücher.“

„Immer zu Diensten.“ Ich zeichnete mit der Fingerspitze Muster auf den Tisch, während ich überlegte, wie ich meine nächste Frage möglichst harmlos formulieren könnte. „Also … heißt das, du bist jetzt … ihr Gefährte, oder so?

„Also, wir haben miteinander geschlafen, was immer das für Werwölfe bedeutet. Und ich schulde euch ein paar neue Teller …“

„Aua.“

„Ja.“ Max schüttelte den Kopf. „Die Sache ist nur die: Sie denkt, ich bin in sie verliebt.“

„Und das bist du nicht, nehme ich an?“, lachte ich leise. „Max, du könntest dir wirklich allerhand Ärger ersparen, wenn du nicht immer gleich mit jeder im Bett landen würdest.“

„Diesmal ist es nicht so was. Sie denkt, ich liebe sie, aber sie liebt mich nicht. Deshalb denkt sie, dass sie meine Gefühle verletzt hat, oder so.“ Der Teekessel pfiff, und Max sprang auf und nahm ihn schnell von dem Brenner. Wenn Blut anbrennt, bekommt es einen unangenehmen Geschmack wie verbranntes Schmorfleisch.

„Also, dann habt ihr beiden ja eigentlich kein Problem, oder?“ Ich griff hinter ihn und holte ein paar Tassen. „Keiner von euch beiden ist in den anderen verliebt, ihr seid also frei und könnt eurer Wege gehen.“

„Und sie geht in dem Glauben, dass sie mich hat sitzen lassen?“ Er fluchte, vielleicht wegen der Vorstellung, dass ein anderes Wesen ihn abgewiesen haben könnte. Oder er hatte sich an dem heißen Teekessel verbrannt, ich wusste es nicht.

„Das wäre ja nicht das Schlimmste, was dir passieren könnte.“ Max hatte ein massives Ego-Problem, aber ich hätte nicht gedacht, dass sein Stolz so tief saß.

Langsam goss er Blut in die Tassen und stellte den Rest auf den hinteren Brenner. Ich nahm an, dass er die dritte Portion für Nathan aufbewahrte, und aufgrund dieser fürsorglichen Geste traten mir unerwartet Tränen in die Augen. Ich wischte sie schnell weg und erklärte mir meinen überempfindlichen Zustand damit, dass ich nicht geschlafen hatte.

„Es wäre nicht das Schlimmste“, gab Max zu, als er unser Frühstück an den Tisch brachte. „Aber gut ist es auch nicht. Ich muss auf meinen Ruf achten.“

Kameradschaftlich schlug ich ihm leicht mit der Hand auf die Schulter. Er lachte, aber der sorglose Moment war gleich wieder vorbei. „Außerdem könnte ich eh nicht auf Dauer mit ihr zusammen sein. Wenn ich mir so etwas vorstelle, dann muss ich an Marcus denken …“

„Deinen Schöpfer“, fragte ich, um ganz sicher zu sein.

Er nickte. „Ich muss daran denken, dass er nicht mehr da ist, und ich immer nur diese Sehnsucht nach ihm mit mir herumtrage. Dass ich das wieder spüren will, wie es mit ihm war. Weißt du, gar nicht schwul oder so. Aber dann denke ich, echt geil, Liebe. Darüber habe ich keine Kontrolle, und vielleicht wäre es gut für mich, wenn ich nicht allein bin. Aber dann habe ich das Gefühl, als würde ich ihn betrügen.“

„Du betrügst ihn doch nicht, wenn du dein Leben lebst.“ Meine Worte waren so heftig, dass mich der Ton meiner eigenen Stimme erschreckte. Verlegen räusperte ich mich und fuhr leiser fort: „Was habt ihr Männer eigentlich, dass ihr nie loslassen könnt?“

„Was meinst du denn?“ Er trank einen Schluck Blut, und in dem Blick, den er mir über den Rand der Tasse zuwarf, lag eine andere, stumme Frage.

„Du weißt ganz genau, was ich meine.“ Wahrscheinlich war er nicht über alle Einzelheiten im Bilde, doch es war nicht meine Rolle, Nathans Geheimnisse auszuplaudern. „Nathan trägt auch einen Sack voll Schuldgefühle wegen Marianne mit sich herum, und deswegen kann er sie einfach nicht loslassen. Du machst dasselbe. Dass du am Tod deines Schöpfers Mitschuld trägst, ist dir so wichtig, dass du dich nicht mal für einen Sekunde davon lösen kannst. Denn sonst würdest du ja vielleicht mal darüber hinwegkommen und könntest dein eigenes Leben leben.“

„Du hättest doch so eine Psychotante werden sollen“, sagte Max, und es klang nicht wirklich so, als ob er mir ein Kompliment machen wollte.

Wir schwiegen, nippten an unserem Frühstück und taten so, als hätte die Unterhaltung gerade eben nicht stattgefunden. Immer wieder schaute Max hoch, als ob er ein Geräusch aus dem Wohnzimmer gehört hätte, aber da Bella nicht in der Tür erschien, versank er wieder in sein enttäuschtes Brüten.

Plötzlich stieß er einen Fluch aus und schoss hoch, wobei er fast den Tisch umwarf. Ich dachte, er hätte sich wieder eingebildet, dass Bella wach wäre, und rief ihm nach: „Was machst du denn?“ Aber er war schon aus der Küche verschwunden.

Obwohl Bella immer noch schlief, rannte er durch das Wohnzimmer, machte die Lichter an und hob ein Buch nach dem anderen hoch, während er ständig vor sich hin fluchte.

Bella setzte sich verschlafen auf. Auf der einen Seite ihres Gesichts hatten sich die Falten der Decke abgedrückt, auf der sie geschlafen hatte. „Was ist denn los?“

„Wo ist das Buch, das du gestern gelesen hast?“ Max schleuderte einen wertvoll aussehenden Folianten mit Goldschnitt in die Ecke.

Verwirrt rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und runzelte die Stirn. „Welches denn?“

„Max, wonach suchst du?“ Ich rettete einen besonders wertvollen Text, bevor er mit einem Glas Wasser kollidierte, das auf einem der Beistelltischchen stand.

„Du hast gesagt, dass Nathan Riesen-Schuldgefühle mit sich herumträgt, weil er Marianne getötet hat. Wer weiß davon, außer dir und mir?“ Er packte das Buch, das Bella ihm reichte, und blätterte so hektisch darin herum, dass er fast die Seiten ausgerissen hätte. Eine blonde Strähne fiel ihm in die Stirn, was den irren Wahnsinn noch betonte, der ihn ergriffen zu haben schien.

„Na, Cyrus weiß es. Er war dabei. Genau wie der Souleater. Max, du glaubst doch nicht, das hat etwas zu tun damit, dass …?“ Mir wurde schlecht. Ich hatte das Gefühl, dass ich das Blut, das ich zum Frühstück getrunken hatte, nicht lange bei mir behalten konnte.

Dann spürte ich den Druck kräftiger Hände, die sich auf meine Schultern legten. Zu spät wurde mir klar, dass ich die Dusche im Badezimmer schon eine ganze Weile nicht mehr gehört hatte.

„Hat etwas zu tun womit?“ Cyrus’ Mund war so nah, dass sich bei seinen Worten meine Haare bewegten.

Max hüstelte, und ich befreite mich aus Cyrus’ Umarmung.

„Erinnerst du dich an den Namen des Zaubers, den uns Bella gestern Nacht vorgelesen hat?“, fragte Max. Er warf Cyrus einen Blick zu, der – wie es in dem Sprichwort heißt – töten könnte.

Cyrus und Bella antworteten gleichzeitig, in zwei verschiedenen Sprachen. Ich verstand nur, was Cyrus gesagt hatte. „Dunkle Nacht der Seele.“

Bella war jetzt vollkommen wach. Sie stand neben Max und versuchte, ihm das Buch wieder abzunehmen. „Du schaust an der falschen Stelle, es war viel weiter hinten!“

Ich drehte mich zu Cyrus um, der sich zu meiner Bestürzung nur ein Handtuch um die Hüften gewickelt hatte. „Wir denken, wir wissen, was dein Vater mit Nathan vorhat.“

„Ich habe den beiden genau gesagt, was er vorhat. Sie haben mir nicht geglaubt, bis sie den Zauber in diesem beschissenen Buch gefunden hat.“ Er verdrehte die Augen. „Offenbar gilt mein Wort nur dann etwas, wenn ich es mit gedruckten Beweisen untermauern kann.“

„Was hat er vor?“ Ich nahm seine Hände in meine, sollte der verdammte Max doch denken, was er wollte. „Bitte, Cyrus. Ich muss ihn zurückhaben.“

„Liebst du ihn?“ Die Worte waren kaum verklungen, als mit einem Mal die Luft aus dem Raum zu weichen schien. Sogar Max und Bella waren still.

Ich schluckte und hatte das Gefühl, ein ganzer Ball aus Rasierklingen würde mir im Hals stecken. „Spielt das eine Rolle?“

Wir starrten uns einen Moment lang an. In Cyrus’ Augen sah ich seinen Schmerz über den Tod des Mädchens in der Wüste, und ich sah, wie weh es ihm tun würde, wenn er einsehen musste, dass ich auf keinen Fall je wieder zu ihm zurückkehren würde. Das Wort kam mir über die Lippen, ohne dass ich darüber nachdenken musste.

„Ja.“ Dass ich es endlich zugeben konnte, öffnete einen Spalt in meinem Herzen. Das Gift, das in den letzten beiden Jahren in mir gewirkt hatte, floss heraus und löste sich auf. „Ja, ich liebe ihn wirklich.“

In mir hatte sich etwas geöffnet, doch in Cyrus verschloss sich etwas. Er hob die Schultern, als ginge ihn diese ganze Unterhaltung nichts an, und schaute weg. „‚Dunkle Nacht der Seele‘ ist ein sehr alter Zauber. Am Anfang war es ein Ritual, um den Glauben eines Schamanen oder Mystikers einer Prüfung zu unterziehen. Im Prinzip zwingt der Zauber sie dazu, die finstersten, schmerzhaftesten Momente ihres Lebens wieder und wieder zu durchleben. Das Einzige, was sie davon abhält, dem Wahnsinn zu verfallen, ist ihre geistige Stärke und ihr Glaube an die Ausbildung, die sie durchlaufen haben. Eine sehr religiöse Person zum Beispiel würde den jüdisch-christlichen Gott um Stärke anrufen, und ihr Glaube würde den Zauber brechen.“ Er hielt inne, ein harter Zug lag um seinen Mund. Doch was er in diesem Moment fühlte, konnte ich nicht erkennen.

„Wenn der Zauber allerdings jemanden trifft, der von Anfang an keine Hoffnung hat …“

Ich wusste sofort, was in Nathans ‚Dunkler Nacht‘ passierte. „Er tötet sie.“

„Immer und immer wieder“, ergänzte Cyrus mit grimmiger Miene. „Vater hat es ihm nicht leicht gemacht.“

„Aber warum?“, fragte Bella und schaute für einen Moment von dem Buch hoch. „Zu welchem Zweck treibt er ihn in den Wahnsinn?“

„Er ist nicht wahnsinnig“, erklärte Cyrus. „Er ist so weit bei Verstand, dass er weiß, was er tut, aber er kann seine Erinnerungen nicht kontrollieren. Es ist schon geschehen, deshalb kann er nicht anders, als die Tat immer wieder erneut auszuführen. Er weiß, wer dafür die Verantwortung trägt. Zumindest ist er sich im Klaren darüber, wer ihn dazu gebracht hat, seine Frau zu töten. Vater muss die Seelen um sich sammeln, die er verführt hat. Keine schlechte Methode, sie in den Wahnsinn zu treiben und so zu quälen, dass sie von selbst zu ihm kommen, damit er sie erlöst.“

„Wird der Zauber gebrochen, wenn wir den Souleater umlegen?“ Der gute alte Max, wie immer bereit, sich aus allen Schwierigkeiten mit Axt und Machete herauszuhauen. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Im diesem Moment hätte ich Jacob Seymour am liebsten selbst den Hals umgedreht.

Cyrus schüttelte den Kopf. „Das ist das Geniale an dem Plan. Selbst wenn derjenige, der ihn ausgeübt hat, tot ist, besteht der Zauber weiter.“

„Diese Symbole“, warf Bella ein. „Der Zauber ist darin eingeschrieben.“

Cyrus nickte, für meinen Geschmack ein bisschen zu beeindruckt vom Geniestreich seines Vaters. Angewidert wandte ich mich ab. „Okay, was heißt das also? Dass wir Nathan abschreiben können?“

„Nein.“ Bellas goldene Augen glitten über die Zeilen. „Es ist sicher nicht einfach, aber es muss einen Weg geben, den Zauber zu brechen.“

„Muss es?“ Max lachte müde, obwohl er erst vor Kurzem aufgestanden war. „Na, da bin ich aber erleichtert.“

„Alles hat eine Gegenkraft. Es existiert kein Zauber, der nicht wieder aufgehoben werden kann.“ Sie schnupperte abfällig und nahm ihm das Buch aus der Hand. „Ich gehe nach unten. Ich nehme an, alles, was ich brauche, steht mir zur Verfügung?“

„Natürlich.“ Ich war mir ziemlich sicher, dass Nathan seinen ganzen Laden verschenken würde, wenn er dadurch aus dieser Hölle befreit wurde.

Bella schlug das Buch zu und klemmte es sich unter den Arm, dann kam sie mit ihrer etwas einschüchternden Geschmeidigkeit auf mich zu. „Stehen Sie mir auch zur Verfügung?“

„Natürlich“, sagte ich noch einmal, obwohl ich mir nicht mehr so sicher war. „Was muss ich tun?“

Auf typisch europäische Art hob sie die Achseln und warf ihre Haare zurück. „Vielleicht gar nichts.“

Als sie an Cyrus vorbeikam, musterte sie seinen fast nackten Körper mit einem anerkennenden Blick. Dann nahm sie die Schlüssel vom Haken an der Wand und ging.

„Haben Sie keine Klamotten?“, brummte Max.

Cyrus verzog den Mund zu einem feindseligen Grinsen. „Doch, aber die trage ich leider schon seit fast einer Woche.“

„Ich borge Ihnen welche von meinen. Und bleiben Sie angezogen!“ Max drückte sich an uns vorbei und ging ans Ende der Couch, wo seine geöffnete Sporttasche lag. Er zog ein Paar Jeans und ein T-Shirt heraus und warf sie Cyrus zu. Mit einem verärgerten Blick in meine Richtung fügte er hinzu: „Ich gebe Nathan etwas zu essen.“

„Lass bloß mein Mädchen in Ruhe“, murmelte Cyrus mit übertriebenem amerikanischen Akzent, als Max aus der Küche kam und den Gang hinuntermarschierte.

„Lass du ihn in Ruhe. Ihm geht es gerade nicht besonders gut.“ Ich drehte mich weg, weil Cyrus das Handtuch fallen ließ. Er war zwar auch in der Wüste nackt gewesen, aber das fiel unter mildernde Umstände. Nicht bei jeder Gelegenheit, die sich bot, musste ich ihn so sehen.

„Es geht ihm nicht besonders gut? Ist das so eine Art verdrehtes Motto, das bei euch allen auf dem Familienwappen steht?“ Seine Worte waren gedämpft, offenbar streifte er sich gerade das T-Shirt über den Kopf.

Ich drehte mich um, als er sich gerade die Jeans über die Hüften zog. Die Hose war ihm am Bund mindestens zwei Zentimeter zu weit.

„So selten wie ich von euch etwas zu essen bekomme, werde ich wohl nicht besonders viel zunehmen“, witzelte er.

„Entschuldige. Du kannst dir alles nehmen, was du in der Küche findest.“ Falls es in der Küche noch etwas Essbares gab. Ich hatte noch nicht einmal nachgeschaut, seit ich wieder zu Hause war. Schon komisch, wie sehr jeder Aspekt meines Lebens von Essen dominiert war, als ich noch eine menschliche Frau gewesen war. Aß ich zu viel? Wie viele Kalorien hatte dieses Stück Pizza? Waren Eier diese Woche gut oder schlecht? Seit ich eine Vampirin war, hatte ich vollkommen vergessen, dass Menschen essen mussten.

Wie gut manche Dinge schmeckten, hatte ich allerdings nicht vergessen. Nathan hatte immer einen großen Vorrat an Junkfood im Haus. Ich freute mich immer auf die Nächte, wenn das Zeug auszugehen drohte, weil wir dann oft zu dem Supermarkt fuhren, der Tag und Nacht geöffnet war, und Nachschub holten. Wir luden alles, was für die Menschen schlecht war, in den Einkaufswagen, von M&Ms bis zu Geburtstagstorten, schauten Videos und stopften dabei den Süßkram in uns rein, bis wir in ein Zuckerkoma fielen und einschliefen. Nathan stand auf Kriegsfilme und düstere Psychodramen, ich wählte immer romantische Komödien oder historische Filme mit aufwendigen Kostümen. Unweigerlich einigten wir uns nach langem Hin und Her immer auf eine Screwball-Comedy wie „Young Frankenstein“ oder „Half Baked“.

„Er wird wieder in Ordnung kommen, mach dir keine Sorgen“, sagte Cyrus, und ich schreckte aus meinen Gedanken. Er verzog das Gesicht, als er sich einige Pommes frites in den Mund schob, um sich schließlich reichlich Salz über den Rest des Essens zu streuen. Mit einem entschuldigenden Lächeln fügte er hinzu: „Du hast diesen Blick.“

„Was für einen Blick?“ Es war zu persönlich, zu früh, als dass er meine Gedanken an meinen Gesichtszügen ablesen konnte. Ich wollte nicht, dass er diese Macht hatte. Wenn Cyrus wusste, wie wichtig Nathan mir war, dann gab ihm das Munition, mit der er mich verletzen konnte. Theoretisch erkannte ich, dass er sich verändert hatte, aber in meiner Gefühlswelt war ich immer noch da, wo Cyrus, mein Schöpfer, mich nach seinem Willen manipuliert hatte.

„Du hast so einen Blick, wenn du an ihn denkst. Früher hat es mich verrückt gemacht.“ Am Anfang hatte er noch gelächelt, doch dann erschien ein bedauernder Ausdruck in seinen ernsten Zügen. Als ob er immer noch meine Gedanken lesen könnte – vielleicht konnte er das ja –, fragte Cyrus leise: „Was wäre deine ‚Dunkle Nacht‘? Wenn du an Nathans Stelle wärst? Als mir klar wurde, was geschehen war, konnte ich nur noch daran denken. Was, wenn mein Vater diesen Zauberfluch mir auferlegt hätte?“

„Meine Eltern?“ Ich lachte, weil ihr Tod so absurd menschlich war, verglichen mit der Hölle, durch die ich seither gegangen war. „Oder du. Ich weiß es nicht.“

„Ich?“ Er klang nicht überrascht. „Wahrscheinlich, als ich dich verwandelt habe. Die Umstände waren nicht gerade ideal.“

„Nein. Als ich dich getötet habe.“ Zu meiner Überraschung spürte ich, wie mir eine Träne über die Wange glitt, und ich wischte sie weg. Doch Cyrus hatte sie schon gesehen und kam zu mir.

In seinem Gesicht zeigte sich eine Gefühlsregung, die Trauer hätte sein können, wenn in ihr nicht so viel Erleichterung gelegen hätte. „Ich habe gehört, was du heute Abend zu deinem Freund gesagt hast. Über mich.“

Ich hatte es schon geahnt, aber darüber sprechen wollte ich nicht mit ihm. „Das war nicht für deine Ohren bestimmt und …“

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass ich wegen dir wieder zum Monster werde. Du hast mich auch nicht zum Monster gemacht, als du bei mir gewohnt hast. Mein Verhalten war allein meine Entscheidung. Ja sicher, du hast mich manchmal verletzt. Am schlimmsten, als du mir das Messer durch das Herz gestoßen und mich in dieses bizarre Fegefeuer geschickt hast. Aber deine Zurückweisung war nicht so furchtbar, dass du meine Menschlichkeit damit hättest zerstören können. Als wir uns getroffen haben, war es dafür schon zu spät.“

Unerwartet kamen mir wieder Tränen. Ich wischte sie mit dem Handrücken weg. „Ich hatte auch nie gedacht, dass ich allein … ach, ich weiß nicht, was ich dachte.“

Nathan schrie, der klagende Laut gellte durch den Flur, und ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen. Ein lauter, halb unterdrückter Schluchzer kam aus meiner Kehle.

Cyrus kam näher, aber er nahm mich nicht in die Arme, sondern wartete darauf, dass ich den ersten Schritt machte. Ich ließ mich von ihm umarmen und zum ersten Mal zweifelte ich nicht an seinen Motiven oder an seinem Mitgefühl. Weil er ein Mensch war, erkannte er meinen Schmerz und wollte mir helfen.

Seine Arme legten sich fest um meinen Rücken, er hatte sein warmes Gesicht in meiner Schulter vergraben. Wäre er jemals, in den Zeiten, als er noch mein Schöpfer war, so ehrlich gewesen, dann hätte ich mich in ihn verlieben können.

Dann ließ er mich los und strich ein paar Haare aus meinem Gesicht. „Darf ich dir eine Frage stellen?“

Ich nickte und kam mir wegen meines Zusammenbruchs ein bisschen töricht vor. „Solange es nicht ‚Willst du mich heiraten?‘ ist.“

Wir lachten wie alte Freunde, die sich nach einer langen Zeit der Trennung wiedergefunden haben. Kein ungezwungenes Lachen, aber es klang, als ob wir zumindest auf dem besten Weg zu einer früheren Vertrautheit waren.

Sein Gesicht wurde ernst. „Lass mich meinen Vater töten.“

Der sorgenlose Moment zerplatzte wie eine Seifenblase. „Auf gar keinen Fall!“

„Warum nicht? Hast du Angst, dass ich mich auf die dunkle Seite schlage?“, spottete er. „Du wirst nie glauben, dass ich mich wirklich verändert habe.“

Ich schluckte die Tränen, die sich in meiner Kehle aufstauten. „Ich glaube dir, dass du dich geändert hast. Das tu ich wirklich. Aber ein solches Risiko kann ich nicht eingehen.“

Wieder schrie Nathan auf, dumpfe Schläge hallten durch den Gang, als das Kopfbrett gegen die Wand stieß. Ich beachtete nicht, wie nahe mir die Schreie gingen, sondern konzentrierte mich auf Cyrus.

„Das Risiko, dass ich zu meinem Vater zurückkehre? Dass ich wieder zu dem Monster werde, das du gekannt hast?“ Er schüttelte den Kopf. „Das wird nicht passieren.“

Ich antwortete nicht, sondern versuchte Nathans panisches Flehen zu ignorieren, das aus dem Schlafzimmer drang.

„Stimmt. Ich bin ja nur ein schwacher Mensch, der dem Souleater sofort zu Füßen liegen wird, wenn der ihm dafür Macht und Reichtum verspricht.“ Wütend drehte er sich um und schritt den Flur hinunter in mein Zimmer. Ich folgte ihm.

Er ging so aufgeregt in dem kleinen Zimmer auf und ab, dass ich befürchtete, er könnte ausflippen, gewalttätig werden oder etwas zerschlagen. Doch er schnappte sich nur das gerahmte Bild von Ziggy von meinem Schreibtisch und hielt es mir entgegen. Die Gewissensbisse standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich habe diesen Jungen getötet. Ich habe ihn getötet, weil er mir gesagt hat, ich soll es tun.“

Ziggys Gesicht auf dem Foto lächelte mich an. Licht spiegelte sich auf dem Glas, und ich konnte nur seinen Mund und die Augen erkennen, die blasse Erscheinung eines anklagenden Geistes. Das Atmen fiel mir plötzlich schwer.

„Mein Vater hat mich gelehrt, dass man zum Spaß und zum eigenen Vergnügen tötet. Er hat mich gebeten, furchtbare Dinge für ihn zu tun, und ich habe ihm gehorcht. Und wie hat er mich dafür belohnt? Er hat mir alle genommen, die ich liebte, solange, bis ich nicht mehr zur Liebe fähig war. Ich habe nichts mehr gespürt außer diesem brennenden, selbstsüchtigen Verlangen. Ich wollte sie besitzen, sonst nichts.“ Er klang, als ob er jeden Moment zusammenbrechen und losheulen würde. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit ihm in einem solchen Zustand umgehen sollte.

Auf der anderen Seite der Wand wurde Nathan immer unruhiger. Ich schloss die Augen und drückte mir die Hände an die Schläfen. Cyrus war sofort an meiner Seite und nahm mich in die Arme, ohne auf meine Erlaubnis zu warten. Er küsste meine Haare, flüsterte: „Wenn mein Vater tot ist … solange er lebt, kann ich immer noch zurück zu ihm, zurück zu dem, was ich einmal war. Ich möchte nie mehr so wie früher sein! Verstehst du? Darum muss ich meinen Vater töten.“

Erneut drang ein qualvolles Heulen von solcher Heftigkeit durch die Wand, dass mir der Atem in der Brust stecken blieb. Ich war geschockt von der Brutalität der Schmerzen, die solche Schreie hervorbrachten. „Ich muss weg hier. Ich halte das nicht aus.“

Ich rannte zur Tür, beachtete Cyrus nicht, der hinter mir herrief: „Carrie, warte!“ Ich nahm zwei Stufen auf einmal, als ich die Treppen hinunterrannte und durch die Haustür ins Freie stürzte. Erst hier konnte ich wieder atmen. Ich nahm die kühle Nachtluft in meine Lunge auf und wäre am liebsten darin ertrunken. Nathans Schreie waren hier nicht mehr zu hören, aber die Erinnerung verfolgte mich. Es war schlimmer, weil ich jetzt wusste, weswegen er so schrie. Der Gedanke, dass Nathan gezwungen wurde, seine Frau zu töten, die Frau, die er immer noch so sehr liebte, dass er sie einfach nicht loslassen konnte, war einfach zu viel für mich, es war unvorstellbar. Ich stolperte zu dem Laster, der immer noch am Straßenrand parkte und drückte die Stirn gegen das Blech. Mein Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, aber ich wollte den Schmerz nicht mehr unterdrücken.

Hinter mir wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen. Am Rhythmus der Schritte erkannte ich, dass es Cyrus war. Er legte mir eine Hand auf die Schulter, ich fuhr herum und erschreckte ihn.

„Ich glaube nicht, dass du wieder ein Monster wirst“, stieß ich hervor. Meine Worte waren zu laut, aber es war mir egal, wer zuhörte. Ich musste mir die drückende Last dieser verwirrenden Gefühle von der Seele reden. „Ich will nicht, dass du zu ihm gehst, weil er dich töten könnte! Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn …“ Die Worte blieben mir in der Kehle stecken, aber sie hallten mir durch den Kopf. Wenn ich dich noch einmal verliere.

Cyrus hatte sie gehört, auch wenn ich sie nicht ausgesprochen hatte. Er starrte mich durchdringend an, mit diesen blauen Augen, die mir immer so kalt erschienen waren, wenn sich sein Blick mit dieser Intensität in mich gebohrt hatte, die er auch nur gespielt haben könnte.

Ich dachte an Nathan, der oben in der Wohnung kämpfte, und litt. Ich dachte an das, was Cyrus durchmachte, aufgrund dessen, was sein Vater ihm angetan hatte und wegen des Mädchens in der Wüste. Ich wollte diesen Schmerz tiefer in mich aufnehmen, als ob ich ihn erst verstehen konnte, wenn ich ihn wirklich ganz fühlte. Und dann wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit all dem Horror und den Schuldgefühlen ausgesetzt war, die mir inzwischen so normal vorkamen, dass ich meinen eigenen Schmerz kaum noch spüren konnte.

Als Cyrus mich küsste, war er nicht wie beim letzten Mal überwältigt von Leidenschaft und Wut. Seine Hände fassten mein Haar, er presste seine Lippen auf meinen Mund, als könne er durch die bloße Berührung meinen Schmerz wegwischen. Es tat ihm wirklich leid, wie sehr er mich in der Vergangenheit verletzt hatte, und er wollte es wiedergutmachen.

Ich stieß ihn nicht zurück. Ich liebte Nathan immer noch. Er war mein Schöpfer, es war unmöglich, dass ich nichts für ihn empfand. Aber Cyrus und ich waren noch nicht fertig miteinander. Ich betrog nicht Nathan, sondern ich schloss mit Cyrus ab.

Kurz hantierte er an etwas neben mir herum, und ich hörte, wie die Hintertür des Lasters sich öffnete. Er ließ mich nicht los, nahm den Mund nicht von meinen Lippen, als er mich in den Laster schob und mich auf den furchtbaren goldenen Teppich legte. Vielleicht hatte er Angst, dass ich es mir anders überlegen würde, wenn er mich nicht mehr küsste und ich einen Moment zum Nachdenken hatte. Aber ich wollte es genauso wie er. Ich hatte so viel Schmerz erlebt. Nur für einen Moment wollte ich etwas spüren, dass nicht wehtat.

Als er neben mich kletterte und die Tür schloss, rutschte ich zurück. Kurz zögerte er, und ich konnte förmlich sehen, wie der Gedanke „Wir sollten das nicht tun“ über sein Gesicht zuckte. Ich streifte mir die Bluse ab und zog ihn zu mir, wobei ich meine Lippen heftig auf seine presste. Er fuhr für einen Moment zurück, dann entspannte er sich wieder, drückte mich sanft auf die Ladefläche, und legte sich mit seinem ganzen Körper auf mich.

Als er das geliehene T-Shirt auszog, machte ich mir keine Gedanken mehr, sondern ließ mich ganz auf die Situation ein, komme, was wolle. Wir sprachen nicht, sondern bewegten uns in einem seltsam leichten Tanz aus Kleiderzerren und schnellen Küssen auf nackter Haut. Es war weder romantisch noch zärtlich. Es war Sex von der Art, die am wenigsten mit Liebe zu tun hat.

Mühelos drang er in mich ein, und ich erschrak, weil er sich so warm und lebendig anfühlte. Vampire waren kalt, Raumtemperatur. Doch Cyrus war ein Mensch. Seine Hände, mit denen er meine Hüften packte und mich fester und immer schneller zu sich heranzog, waren menschliche Hände und nicht die missgestalteten Klauen eines Monsters.

Ich umklammerte seinen Rücken und die Schultern und war wieder erstaunt über seine Wärme. Als er in mir kam, lief mir ein Schaudern durch den Körper, aber mein Höhepunkt erreichte mich nicht. Cyrus zog sich sofort zurück und schaute mir nicht ins Gesicht.

„Das war ein Fehler“, sagte er mit heiserer Stimme.

Ich brachte keinen Ton heraus und nickte.

„Lass uns das vergessen.“

Wir zogen uns schweigend wieder an und kamen uns schmutzig vor und benutzt, ohne dass wir einander die Schuld gaben. Erst, als er die Tür des Lasters aufdrückte, und die klare Nachtluft hereinkam, sprach ich.

„Du hast mich gefragt, woran ich mich erinnern müsste, wenn der Souleater den Zauber an mir verübt hätte. Was, wenn du es gewesen wärst?“, fragte ich. Er schaute mich mit ernster Miene an. „Was würdest du immer wieder durchleben?“

„Feuer“, sagte er, ohne zu zögern, und mir fuhr ein Stich ins Herz, als ich an das Mädchen in der Wüste dachte. „Ich würde mich an das Feuer erinnern.“