3. September
Hoffnung
Wir haben uns dazu entschlossen mit meinem Auto zu fahren. Und zwar bei Morgendämmerung. Thomas hinter dem Steuer und ich als sein Beifahrer. Vicktoria hat die hintere Bank für sich gewählt, wo sie meinen Kater Frodo festhält. Sie sieht eingefallen aus. Noch dazu ist sie erkältet und muss ständig Schleim hochziehen. Ich habe sie nach meinen bescheidenen Möglichkeiten untersucht und ausschließen können, dass sie sich mit dem Virus infiziert hat. Dabei kam ich zur Erkenntnis, dass die verdammte Krankheit dermaßen schnell ausgebrochen war, dass noch nicht einmal ein richtiger Name dafür gefunden worden war. Mittlerweile kommen wir auf der alten Bundesstraße an. Hier nimmt das Chaos wieder etwas ordentlichere Züge an. Kaum mehr ausgebrannte Fahrzeugwracks, die einsam am Straßenrand stehen oder in Laternen verkeilt sind. Kaum mehr Häuser, deren Fenster mit Brettern und anderem verrammelt sind und deren Fassaden von Efeu und Buschwerk begraben werden. Kaum mehr Vorgärten, die vor Bewuchs nur so strotzen und wo Gras und Unkraut Pools und Gartenhäuschen verschlungen haben. Beinahe keine Zeitungsblätter und umgestoßene Müllcontainer, die ihren Unrat auf den Boden verteilen. Fast keine verbogenen Fahrräder, die lose in der Gegend herumliegen und auch kaum mehr herrenlose, leere Einkaufswagen, die an den Straßenecken stehen. Nur noch die Straße und wir. Hier und da ein parkendes Auto, oder ein verwilderndes Haus in Sichtweite.
„Da! Da!“, sagt Victora irgendwann und zeigt zwischen den Vordersitzen hindurch. Und tatsächlich, die Autobahnbrücke ist dort hinten zu sehen. Und da, wenige dutzend Meter vor uns am rechten Straßenrand, ist die Tankstelle mit dem Geschäft. Verlassen, nur zwei Fahrzeuge parken dort. Eine Krähe flattert aufgescheucht und böse krächzend davon, als wir anhalten und ich mühsam aussteige. Vicktoria muss im Auto bleiben, sie hat keine Maske. Ich hätte zwar genug davon, aber Thomas ist es so lieber. Da ist ein fehlender Atemschutz ein passender Vorwand. Wir gehen auf das Geschäft zu, die Auslagen wirken tot und aus dem Inneren dringt kein Licht. Im Gegenteil, hinter den Scheiben scheint alles von einer bleiernen Gräue verschluckt zu werden. Havener, eine Pistole in den Gürtel steckend, sucht einen Stein, während ich weiter auf den Eingang zu gehe. Ich vernehme einen Knall und der Stein prallt von der Scheibe ab, hinterlässt aber einen Sprung. Ich stehe neben der Türe und schaue Thomas an. Mir ist schwindlig, aber ich amüsiere mich trotzdem über sein übellauniges Gesicht. Ist das Galgenhumor, den ich da spüre?, frage ich mich und muss die Augenbrauen hochziehen, als es ein Klirren gibt und Thomas die Scheibe mit einem zweiten Stein eingeworfen hat. Ich drücke gegen die Türe und sie gibt unabgeschlossen und ohne Widerstand nach. Sie öffnet sich. Beim Hineingehen muss ich nicht zurück sehen, um mir Toms grimmiges Gesicht vorstellen zu können. Trotz allem muss ich schmunzeln.
Eine halbe Stunde später ist mein Wagen vollgestopft mit allem, was wir fassen konnten und uns in irgendeiner Form nützlich erscheint. „Tom, Sie können ihre Gasmaske abnehmen!“, meine ich, während ich versuche, Benzin aus einem Auto zu zapfen. „Das ist eine Atemschutzmaske mit Filter!“, korrigiert er mich, nimmt die Maske ab und fügt hinzu: „Außerdem sind wir hier bei einer Tankstelle, sie müssen nicht ein parkendes Auto anzapfen. Unter unseren Füßen sind hunderte Liter Benzin!“, er meint seine Worte nicht böse. Nein, im Gegenteil, er ist übermütig. Vorhin konnte ich ihn sehen, wie er seine Frau in einem kurzen, maskenfreien Moment durch das heruntergekurbelte Autofenster geküsst hat. Wie sie sich in die Augen sahen, lächelten, ein paar Worte wechselten. Erleichterung macht sich in ihnen breit. Mir geht es ähnlich. Er kommt auf mich zu, also stehe ich auf und biete ihm an, es besser zu machen. Dabei muss ich lächeln und klopfe ihm wohlwollend auf die Schulter. Vickie, im Auto sitzend, winkt mich zu ihr hinüber. Sie futtert Kekse und grinst über das ganze Gesicht.
„Was gibt’s, Vicktoria?“
„Nennen Sie mich Vickie, ok Michael?“, ich stimme zu. Sie streichelt über Frodos Rücken, der genügsam auf ihrem Schoß sitzt und schnurrt.
„Diese Kekse sind super, aber wissen Sie was noch besser wäre?“, sie leckt sich unschuldig die Finger ab. Ich zucke mit den Schultern.
„Eingelegte Pfirsiche“, sagt sie, wird etwas rot und muss grinsen. „Hmmm… ich glaube, da hab ich welche gesehen! Ich hole Ihnen welche.“
„Sie sind der Beste Michael!“, als ich mich umwende, zieht sie mich zurück und küsst mich herzlich auf die Wange. Mit einem Gefühl ähnlich jenem einer leichten, aufsteigenden Fröhlichkeit mache ich mich auf den Weg in die Tankstelle. Ich glaube, im vierten Gang waren diese Dinger. Ich mag Vickie und Tom, habe sie ins Herz geschlossen. Sie sind gute Menschen. Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr getrunken und fühle mich ganz ok, abgesehen von dem Zittern in den Händen. Bald werden wir das Haus am Land erreichen und dort auf Rettung warten. Während ich den Laden betrete, bin ich zuversichtlich. Wir könnten so ganz gut durchhalten. Ein wenig in der Natur jagen und von den Vorräten eingeteilt leben. Abgeschieden und für uns könnten wir die Monate verbringen. Mittlerweile ist es draußen relativ hell, doch im Laden ist es immer noch düster. Eine Düsternis allerdings, die mir nichts anhaben kann. Ich empfinde sie sogar als einladend. Da sind die Dinger ja. Ablaufdatum 2034. Mal sehen, wie viele ich davon tragen kann. Plötzlich ein markzerreißendes Kreischen, ich lasse die Dosen fallen, drehe mich um. Eine Erschütterung. Grell gleißender Schmerz. Ich schmecke den metallenen Geschmack von Blut in Mund und Nase. Etwas ist auf mich gesprungen, hält mich fest. Ich fasse danach. Es beißt. Unendlicher Schmerz zerdrückt meine Augen. Ich bin blind, höre ein grässliches Grunzen. Ein schnatterndes Quieken. Ich muss hier raus. Ich spüre, wie warmes Blut über meine Brust hinunterläuft. Fühle wie die Haut an meinen Fingern zerreißt. Ich will nicht sterben. Ich sterbe...