27. Juli
Grape
Es ist die Einsamkeit, die einem irgendwann den Verstand zerfrisst. Und ist es nicht die Einsamkeit, so die schiere Brutalität und Unmenge an Informationen, die einen überhäufen. Das dachte ich bis zu diesem Zeitpunkt. In Wirklichkeit aber ist es noch vielmehr die absolute Ungewissheit darüber, was geschehen würde. Oder besser gesagt, wann es geschehen würde. Meine Urgroßmutter hatte mir im Kindesalter einmal erzählt, wie es im Krieg gewesen war. Wie es sich anfühlte zu Hause im Keller zu sitzen, und nicht zu wissen, was draußen vorgehe und nicht zu wissen, wann und wo die Bomben fallen würden. Auf dein Haus oder jenes des Nachbarn. Vor einer Woche hatten wir die letzte Zeitung erhalten. Zumindest glaubte ich das. Ein Wunder! Vor vier Tagen stellte der letzte Fernsehsender, der etwas anderes sendete als Endlosschleifen, sein Programm ein. Und tatsächlich am erbarmungslosesten war die Tatsache, dass es jetzt keine Möglichkeit mehr gab, das Internet zu nutzen. Noch immer nahm ich mein Telefon mit auf die Toilette, nur um vergebens festzustellen, dass ein scrollen gar nicht möglich war. "Verbindung zum Internet konnte nicht hergestellt werden." Mehrmals täglich griff ich nach dem Touchpad, nur um es entgeistert wieder wegzulegen. Ich rannte von einem Ende der Wohnung zum anderen, sortierte unsere Vorräte, schrubbte die Küche, brachte den Balkon in Ordnung, nahm mir ein Buch vor und trank Tee mit Thomas. Nur um mich dann und wann wieder auf die Couch zu fletzen und wie gewohnt nach dem Telefon oder dem Notebook zu greifen, und es im nächsten Moment wieder fort zu legen, da es ja nun unnütz war. Wir hatte nicht den leisesten Schimmer, was in unserer Stadt vorging, geschweige denn auf unserem Kontinent, oder überhaupt in der Welt.
Im Radio empfingen wir seit vorgestern nichts. Aus den Leitungen kam kein Wasser und der Strom kam seit gestern Abend nicht mehr. Wir glaubten nicht, dass die Elektrizität noch einmal zurück kehren würde. Der Gestank rottender Lebensmittel aus dem nun nutzlosen Kühlschrank hielt sich noch immer hartnäckig in der Wohnung, obwohl wir ihn ausgeräumt und geputzt hatten. Wir waren in der Steinzeit und warteten darauf, dass ein Komet einschlagen würde. Wir wohnten in einer Kleinstadt und trotzdem fühlte ich mich, als säßen wir in einer Höhle, umgeben von einem unbekannten, riesigen Urwald. Wir harrten in unserem kleinen urbanen Urwald aus. Jetzt begriff ich, warum Menschen eher sterben wollten, als so zu leben, wie wir es jetzt taten. Warum sie eher in den Tod gingen, anstatt es zu riskieren, noch weiter unter solchen Umständen dahinzuvegetieren. Jetzt begriff ich das Elend der Menschen im nahen Osten, welches immer durch die Medien gegeistert war. Ich verstand die arabischen Familienväter, die zwischen den Trümmern ihrer Häuser jahrelang in europäische Kameras brüllten, auf der Suche nach Hilfe und Verständnis.
Was macht das Leben lebenswert? Es war nicht das Wegbleiben von Wasser und Lebensmittel. Es war die Hilflosigkeit, die uns zerstörte. Es war die Ungewissheit. Es war die Angst.
Von Zeit zu Zeit stritten Tommy und ich, wir gingen uns furchtbar auf die Nerven. Mittlerweile waren wir aber zum stillen Schluss gekommen, dass wir keine Kraft mehr hatten zu streiten. Wir beide waren ausgemergelt, zermürbt. Der einzige Grund, der uns noch aufstehen ließ war, dass wir uns gegenseitig hatten. Ich hatte Tags zuvor, kurz vor dem letzten Stromausfall, versucht Bekannte und Freunde zu erreichen. Stundenlang versuchte ich es, aber das Netz war, wie in den letzten Wochen immer wieder, hoffnungslos überlastet. Ich erreichte niemanden. Versuchte es mit Sms. Von neunundzwanzig wurde eine beantwortet. Ich wünsche euch alles Gute, hatte Paul geschrieben. Sonst nichts. Zwölf Jahre Freundschaft. Und auf meine Ellenlange Nachricht war nur dieser eine Satz zurück gekommen. Barbara meldete sich auch nicht. Zuletzt hatte ich vor knapp zehn Tagen etwas von ihr gehört. Tommy ging es mit seinen restlichen Freunden ähnlich.
Heute kochte ich Chili aus der Dose. Besser gesagt, ich erwärmte es über dem Balkonofen. Dazu gab es Mineralwasser mit ein wenig Verdünnungssaft. Wir saßen in der Küche und hatten gerade besprochen, wie wir die Sache mit der Toilette regeln würden, wenn das Wasser nicht mehr käme. Wir entschlossen uns für die Gartenhütte der Hopes. Dann gab es nichts mehr zu reden. Wir beide sahen uns gelegentlich in die Augen, auch als mein Wecker läutete. Es musste schon vier Uhr sein. Ich nahm meine Anti-Babypille. Bald würde mein Vorrat aufgebracht sein. Tom sah mich verdutzt an. „Wir sagten doch, wir würden die Telefone ausschalten. Den Akku werden wir wohl noch brauchen!“
„Der Alarm geht auch ab, wenn es ausgeschaltet ist.“
Ich sah ihm an, dass er nicht einverstanden war. Also harkte ich nach: „Na was? Was stimmt denn jetzt wieder nicht?“
„Nichts.“
„Von wegen nichts, irgendwas passt dir doch wieder nicht.“
„Nein, alles in Ordnung.“
„Das glaub ich aber nicht.“
„Doch, es ist alles gut. Lass mich."
"Das sagst du immer. Alles in Ordnung. Alles ist gut. Und dann, von wegen. Ziehst du wieder sooo eine Fresse. Bist kaum mehr ansprechbar, stampfst durch die Wohnung wie ein Elefant und knallst Kästen und Türen wahllos zu. Du gibst mir das zu spüren. Ich merk das genau, wenn was nicht passt, Thomas, das weißt du! Das ist emotionale Erpressung und wenn du glaubst, dass ich..."
„ A l l e s i n O r d n u n g ! “, schrie er, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und verließ den Raum. Nachdem ich ihn nicht mehr hörte sank ich zusammen. Da wusste ich bereits gar nicht mehr, worum es gegangen war. Ich kauerte mit dem Rücken zum Geschirrspüler und war in Gedanken verloren, als es leise an der Wohnungstüre klopfte. Verunsichert stand ich auf, hielt Nachschau. Es war Grape. Als ich ihm öffnete, erkannte ich wie kaputt und müde auch er war. Ohne nachzudenken umarmte ich ihn, küsste ihn auf die Wange.
„Kommen Sie herein, kommen Sie!“
Wie froh ich war einen anderen Menschen zu sehen. Ohne Widerworte ließ er sich hereinbitten und setzte sich im Vorzimmer neben die Garderobe. „Wollen Sie etwas trinken?“
„Nein“, antwortete er, fragte stattdessen: „Sind Sie krank oder Ihr Mann? Und waren Sie oder Ihr Mann in den letzten sieben Tagen draußen?“
„Nein, nein!“, versicherte ich. Dann nahm er seinen Mundschutz vom Gesicht und streifte die Handschuhe ab, seine Lippen waren auffällig spröde und farblos. Seine braune, von Schuppenflechte übersäte Haut wirkte blasser als sonst.
Als Tommy aus dem Schlafzimmer in den Flur kam, meinte Grape: „Es wird besser für uns sein, wenn wir ab jetzt gemeinsam wohnen…“ Ich nickte. Tom sah ich nicht an.
„Wir brauchen einander, so viel ist sicher“, sagte er weiter.
„Wo ist meine Maske?“, fragte Tommy und schüttelte dem Mann die Hand.
„Hab ich oben Thomas. Habt ihr genügend Kerzen hier unten?“
„Na ja, für ein paar Nächte dürfte es noch ausreichen“
„Hm, am Dachboden hätte ich ne ganze Menge davon. Aber ich kann meinen Schlüssel nicht finden, und alleine krieg ich die schwere Türe oben nicht auf. Unten bei George Hope konnte ich auch keinen finden.“
Ich fühlte mich in den Hintergrund gedrängt.
Tommy indes streckte sich durch, griff sich an die Stirn, als wäre ihm der Stein der Weisen zugefallen. Anstatt uns in seine Erkenntnis einzuweihen trat er in die Küche und sagte lediglich: „Natürlich, der Dachboden!“
Ich hatte keine Ahnung was ihm eingefallen war, aber es musste wichtig sein. Denn kurz nachdem er den Schlüssel gefunden hatte, eilte er wie von Sinnen zur Wohnung hinaus und in Richtung Speicher hinauf.
Am Abend saßen wir alle gemeinsam im Wohnzimmer. Tommy und Grape fummelten mit tiefen Furchen der Anstrengung auf der Stirn an der alten Funkstation herum. Tom hatte sie von seinem Onkel geerbt. Sie war nicht wenig wert, allein durch ihr Alter, aber wir hatten uns nie darum gekümmert, sondern sie unter dem Dach verstauben lassen. Wir kannten uns auch beide nicht mit dem Gerät aus. Wozu auch? Grape ging es da nicht viel besser. Nachdem ich Tom mehrmals um Aufklärung gebeten hatte, verwies er mich auf den Balkon und meinte, dass er bald nachkommen würde. Ich fühlte mich einmal mehr wie eine meiner Schülerinnen behandelt, war zornig und verärgert. Aber ich schluckte es und ging. Rauchen. Der Zigarettenvorrat neigte sich allmählich dem Ende zu. Ich überlegte, wie ich das meinem Mann beibringen würde, indessen ich versuchte meine Augen an die Nacht zu gewöhnen. Aber da war nichts, um sich zu gewöhnen. Die Dunkelheit der Umgebung war gespenstisch. Noch nie hatte ich solche Finsternis erlebt. Nirgends auch nur ein Funken Licht. Keine Straßenlaternen, keine vorhanggefilterten Wohnzimmerbeleuchtungen oder Fernsehflackern, keine Einfahrtsleuchten in der Umgebung. Nicht einmal die matte Lichtkuppel, die man aus der Richtung der Innenstadt sonst sehen konnte. Nichts. Am Firmament war noch dazu ein Wolkenbrett aufgezogen, das dem Mond den Blick auf uns versperrte. Die pure Dunkelheit stierte mir entgegen.
Nach einigen Zügen war Tommy heraus getreten, hatte mir meine Kippe aus dem Mund genommen und daran gezogen. Die eine Hand mit der Zigarette am Mund, die andere in die Hüften gestemmt verharrte er kurz, um sich seine Worte zurecht zu legen, ehe er begann: „Das ist ein CB-Funkgerät und eine Funkstation mit Antenne. Im vergangenen Jahrhundert wurde der Funk von Polizei und Feuerwehr verwendet. Heute ist das alles digital und damit abhörsicher. Aber ich glaube, wenn jemand der Bevölkerung etwas mitteilen will, dann über den öffentlich Funk“, sagte er begeistert und mit einem leichten Zittern in der Stimme. Ich meinte in seinen Augen etwas wie Hoffnung aufglimmen zu sehen.
„Und warum sollten die dann nicht das Radio nehmen?“
„…“, Schweigen. Er zog abermals an seiner Zigarette und sagte: „...der Radio funktioniert nicht. Der Strom ist weg, Schlaumeier. Bei dem Funk ist es aber so, dass zumindest beim stationären Gerät ein Spulengenerator dabei ist. Ich glaub´, das nennt man so, keine Ahnung. Onkel Frank war der Bastler, nicht ich. Und das Handgerät wird per Batterie betrieben.“
Die Logik in dieser Erklärung entzog sich ein wenig meinem Verständnis, aber ich wandte nichts weiter ein. Jedenfalls war ich froh, dass Tom etwas gefunden hatte worum er sich kümmern konnte. Es war in letzter Zeit nicht oft vorgekommen, dass wir ein etwas Sinnvolles miteinander gesprochen hatten.