14. und 15. Juli
Das Ende der Welt; Schlaftabletten
Seit gestern Abend kam wieder Wasser aus den Leitungen. Es verließ die Hähne zwar mit unstetem Druck, aber wir waren erleichtert. Die Stadtwerke hatten schwere Probleme im Klärwerk gehabt und da viele Arbeiter einfach nicht ausfindig gemacht werden konnten, wurde auch nichts repariert. So hatte es mir Vickie zumindest erklärt, nachdem sie es via Twitter erfahren hatte. Sie erzählte gerne die neusten Nachrichten, wenn sie kochte. Das lenkte sie von ihren wachsenden und langsam besorgniserregenden Depressionen ab. Heute gab es Pasta. Zwar ohne Öl und am winzigen Ofen im Freien zubereitet, aber trotzdem schmeckte sie gut. Ich hatte den Auftrag bekommen Olivenöl bei den Hopes auszuborgen, jedoch als ich unten war, öffnete man mir die Türe nicht. Nur die Großmutter von Mark rief heraus, dass es ihr Leid täte. Sie habe keines. Dann war sie wieder verschwunden. Ihre Stimme hatte seltsam geklungen, kratzig und heißer. Und von weiter hinten in der Wohnung hatte ich lautstarkes Husten gehört. Vickie sagte ich nichts davon.
Am späten Nachmittag war ich gerade damit beschäftigt, einmal mehr zu versuchen meine unfertigen Manuskripte und Fragmente zu sortieren, während draußen dichter Regen auf die Erde niederging. Fette Tropfen klatschten auf das Geländer des Balkons, indessen ich auf das alte Skript stieß, das Vickie vergangene Woche gelesen haben musste. Ich hatte das Ding in meiner frühesten Studentenzeit verfasst, jedoch nie veröffentlicht. Es trug den banalen Titel "Endzeit". Ich musste lachen. Es hinterließ einen bitteren Beigeschmack. Das gewählte Pseudonym war lächerlich. Amerikanisch. Ich schüttelte den Kopf ob meiner Einfältigkeit. Da Plötzlich ein heißerer Aufschrei aus dem Nebenraum. Vickie! Ich warf das Skript achtlos hin und rannte ins Wohnzimmer. Dort kniete meine Frau vor dem Bildschirm und hielt sich die Hände entsetzt vor das Gesicht. Am Bildschirm stieg ein stummer, schwarzrot pulsierender Atompilz in die Höhe und durchbrach eine wulstige Wolkendecke die gleich darauf fortgefegt wurde. Dann folgte eine Druckwelle, die die weit entfernten, winzigen Häuser zu Staub zermalmte.
„…Neun dieser Testdetonation gleichkommenden Atombomben sind heute zwischen 14:33 und 14:45 in Zentralchina niedergegangen und haben ersten Schätzungen zufolge 650 Millionen Menschen das Leben gekostet. Nordkorea hat besagte Raketen gestartet und damit China den Krieg erklärt. Die Volksrepublik China jedoch kann auf diesen Hammerschlag nicht antworten, sämtliche Regierungs- und Militärführungen geben keinerlei Antwort und sind wahrscheinlich zutreffenden Vermutungen zufolge Opfer des Angriffs geworden. Zuletzt war von über 400 Millionen Infizierten allein in China ausgegangen worden. Peking, Shanghai und Wuhan sind Sattelitenbildern zufolge definitiv zerstört. EU-Parlamentspräsident Heinz Funkle spricht von…“, meine Knie bestehen aus Gummi, plötzlich bin ich taub und blind. Ich knicke ein und sitze neben Vickie. Es ist Atomkrieg, es ist der atomare Holocaust. Es ist das Ende der Welt.
Am Abend hatte ich es endlich geschafft, Vickie und mich selbst vom TV loszureißen. Wir hatten ohnehin nicht mehr wahrgenommen, was da berichtet und gezeigt wurde. Auch die Telefone, das Touchpad und das alte Notebook hatte ich in eine Schublade verbannt. Wir saßen in der Küche und tranken Rotwein. Die Flammen zweier langer weißer Kerzen am Esstisch flackerten jäh als wir krumm auf der Eckbank kauerten und uns, gegenseitig Wärme spendend, festhielten. Beide schauten wir in die Leere und redeten kaum. Ich hatte ihr heimlich eine halbe Schlaftablette von meiner Schulteroperation in das Glas gemischt. Bald schlief sie ein. Einen kurzen Moment war ich geneigt, mir eine deutliche Überdosis davon hineinzujagen und mich zu verabschieden. Später hatte ich sie ins Bett gelegt und war auf den Balkon getreten. Da stand ich und rauchte. Das Auto meines Nachbarn, dessen Grundstück etwas darüber angrenzte, war weg. In seinem Haus brannte kein Licht. Die terrassenförmig angebauten Blumen der Hopes, an der hinteren Grenze der Parzelle, also gen Süden, wirkten braun in dieser dunklen Neumondnacht. Ich sah sie zum ersten Mal welk. Die Alte pflegte sie ansonsten jeden Tag…
Es muss gegen zwei oder drei Uhr gewesen sein. Es war noch dunkel, als ich aufstehen musste, um auf die Toilette zu gehen. Das Fenster öffnend, konnte ich plötzlich Geräusche vernehmen. Das Badfenster direkt unter mir war wohl auch geöffnet oder zumindest gekippt worden. Ich lauschte. Und vernahm ein Röcheln und Würgen und Platschen. Ein Keuchen. Ein Husten. Mir lief ein Schauer über Nacken und Rücken. Bis der Morgen graute, hielten mich grausamste Befürchtungen munter. Als schon erste Vögel zwitscherten, schlief ich in enger Umarmung mit Vickie ein.
Vor Mittag wachte ich mit gewohnt kratzendem Hals auf. Die Luft war abgestanden, Vickie schlief noch immer. Sie schlief so fest, dass sie nicht einmal aufwachte als ich mich unabsichtlich über ihren Arm rollte. Müde und zerschmettert trottete ich in die Küche. Ich genoss die Stille. Endlich ein Morgen ohne die schrillen Informationswellen lautstarker Radiopanik, die sich in mein Gehirn wälzten wie unaufhaltsame, mächtige Riesenwellen gischtender Terrornachrichten. Ich war zu müde, um Kaffee aufzustellen, stattdessen setzte ich mich hinaus. Bald lag ich mit geschlossenen Augen am Balkon, die Sommersonne wärmte meine nackten Zehen. So auf der Bank liegend, schaffte ich es irgendwann einzuschlafen. Erst gegen Nachmittag erwachte ich, fühlte mich allerdings nicht sehr erholt. Im Gegenteil, ich meinte in ein tiefes Loch gefallen zu sein, mein Körper wollte nicht in Schwung kommen und funktionieren, weil mein Geist sich weigerte zu begreifen, was in der Welt geschah. In diesem Moment wünschte ich mir nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen eine ordentliche Portion Gras. Ich war überzeugt davon, alles Geld der Welt dafür zu geben, mich jetzt zu dröhnen zu können, so wie ich es an der Uni an und ab getan hatte. Als ich nach meiner Frau sah, glaubte ich zu wissen, dass sie noch ganz genau so da lag wie rund sechs Stunden zuvor. Bäuchlings, indessen die rechte Hand vom Bettrand baumelte. Nachdem ich ihr sanft über diese süße weiche Stelle unter ihrer Nase und über der Lippe gestreichelt hatte, erwachte sie allmählich. Als sie mich ansah, schien sie noch tausend Jahre weit entfernt zu sein, aber sie kam mit riesen Schritten aus der Welt der Träume zurück.
„O Gott, mein Kopf ist leer. Himmel, meine Blase platzt gleich! Wie lange hab ich geschlafen? Ich glaube ich hab nicht einmal geträumt“, sagte sie brummend. Eigenartig. Sie war ungewohnt gesprächig. Ich sah auf die Uhr: „Fast 22 Stunden Schatz. Es ist sechs am Abend.“
Mit offenem und ungesund riechendem Mund kratzte sie sich am Kopf, stand langsam und unsicher auf. Beide Beine waren eingeschlafen, aber einige Versuche später schaffte sie es doch und eilte zur Toilette. Mit nassen Lippen kam sie schließlich eine viertel Stunde später heraus und betätigte (man glaube es kaum) das Radio in der Küche. Ich empfand es als schmerzhaft, als er funktionierte und zog es vor, auf den Balkon hinaus zu verschwinden. Draußen nahm ich die offene Stange Zigaretten die ich unter der Bank aufbewahrte und gönnte mir eine Kippe, während ich durch das Küchenfenster bereits hörte, wie meine Frau begann, Essen zuzubereiten. Hatte sie alles vergessen? Verdrängt? Ich würde es früh genug herausfinden. Also nahm ich noch eine zweite Zigarette. Gestern Nachmittag hatte es geregnet. Und im hohen, unordentlichen Gras unseres Gartens waren keinerlei Spuren zu finden. Kein niedergedrücktes Gras, keine Spuren von Purzelbäumen und weiten Sprüngen. Das kleine, geflickte Bretterlager wirkte gespenstisch verlassen. Die Sonne ging in einem Meer aus brutalem, blutrotem Licht unter und der aufgehende kaum erkennbare Mond schien höhnisch über uns zu lachen.